Der Kläger war von März 2019 bis Januar 2020 befristet als Fachkraft für Lagerlogistik angestellt.
Ende Februar 2020 meldete er sich arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld. Mit dem Antrag auf Arbeitslosengeld gab der Kläger an, alle zumutbaren Möglichkeiten zu nutzen, um seine Beschäftigungslosigkeit zu beenden.
Zahlung von Arbeitslosengeld wird wieder eingestellt
Die Arbeitsagentur bot dem Kläger Mitte Juni 2020 per Post eine Stelle als Fachkraft für Lagerlogistik an, auf die er sich nicht bewarb.
Der Kläger begründete, warum er sich auf die angebotene Stelle nicht bewerben konnte. Er bewohnte mit seinen zwei Kindern und seiner damals hochschwangeren Lebensgefährtin eine Wohnung, die kernsaniert werden musste. Es lag eine Risikoschwangerschaft vor und nach der Geburt per Kaiserschnitt war seine Lebensgefährtin weiter beeinträchtigt. Der Kläger gab an, dass es wegen seiner familiären Pflichten momentan einfach zeitlich nicht möglich sei, sich voll und ganz auf die Arbeitsuche zu konzentrieren. Er habe die Einwilligung zur Mitwirkung unterschrieben und sei auch gewillt wieder in Arbeit zu gehen; sobald die Baustelle fertig sei, sei er auch wieder mit freiem Kopf und Hand in der Lage, sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen.
Daraufhin stellte die Agentur für Arbeit zum Ende des Monats die Zahlung von Arbeitslosengeld ein.
Fehlende Verfügbarkeit während der Renovierung?
Außerdem forderte die Arbeitsagentur die Leistungen aus März bis Juni 2020 zurück.
Es sei davon auszugehen, dass der Kläger wegen der Renovierungsarbeiten nicht verfügbar gewesen sei. Er habe bei seiner Arbeitslosmeldung mindestens grob fahrlässig insoweit falsche Angaben gemacht. Auch hätte ihm bekannt sein müssen, dass die Bewilligung rechtswidrig erfolgt sei.
Widerspruch und Klage gegen die Erstattungsbescheide waren ohne Erfolg. Durch den DGB Rechtsschutz Essen folgte eine Berufung beim Landessozialgericht.
Die Aufhebung einer Bewilligung nach § 45 SGB X
Soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), rechtswidrig ist, darf er nur unter Einschränkungen ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.
Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist.
Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte u.a. nicht berufen, soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die er vorsätzlich oder grob fahrlässig unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder der Betroffene die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.
Die Bewilligung des Arbeitslosengeldes war rechtswidrig
Das bestätigte auch das LSG. Ein Anspruch auf Arbeitslosengeld habe nicht bestanden, da der Kläger nicht verfügbar gewesen sei. Der Kläger selbst habe vorgetragen, dass er aufgrund der Lebenssituation der Familie nicht in der Lage gewesen sei, Vermittlungsbemühungen der Beklagten Folge zu leisten. Neben der Verfügbarkeit habe es zudem an Eigenbemühungen gefehlt.
Der Kläger habe falsche Angaben über seine Verfügbarkeit gemacht hat. Auch soweit stimmt das LSG mit der Vorinstanz überein. Zu seinen Gunsten könne unterstellt werden, dass er - wie er behauptet - bei der Arbeitslosmeldung im Februar 2020 den großen Sanierungsbedarf der Familienwohnung noch nicht absehen konnte. Da der Kläger aber seine Verfügbarkeit ausdrücklich bejaht hatte, wäre er verpflichtet gewesen, die entsprechende Änderung unaufgefordert mitzuteilen. Diese Mitteilungspflicht habe er verletzt.
Inwiefern handelte der Kläger fahrlässig?
Der Kläger habe insoweit auch fahrlässig gehandelt, denn bei Anwendung der im Verkehr
erforderlichen Sorgfalt hätte er erkennen müssen, dass er die Änderung seiner Verfügbarkeit unaufgefordert hätte mitteilen müssen, nachdem er kurz zuvor eine gegenteilige Erklärung abgegeben hatte. Auch hätte er im Sinne einfacher Fahrlässigkeit erkennen können, dass er bei fehlender Verfügbarkeit keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld habe.
An dieser Stelle kommt das große „aber“, weshalb der Kläger das Arbeitslosengeld nicht zurückzahlen muss. Das LSG war in diesem Einzelfall nicht davon überzeugt, dass dem Kläger grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen sei.
Bei der Beurteilung der groben Fahrlässigkeit legte das LSG einen subjektiven Sorgfaltsmaßstab an. Grob fahrlässig handele, wer einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt, wer also nicht beachtet, was jedem einleuchten müsste. Dabei sei auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit, das Einsichtsvermögen und Verhalten der Betroffenen sowie die besonderen Umstände des Falles abzustellen.
Aufgrund der besonderen Umstände des Falles sei grobe Fahrlässigkeit zu verneinen.
Die damalige Corona-Lage wird einbezogen
Das LSG berücksichtigte hier, zu welcher Zeit sich das Ganze abspielte, nämlich im März 2020 und damit in der Zeit der weltweiten Ausbreitung des Corona-Virus.
Um einen dramatischen Anstieg von Arbeitslosigkeit zu verhindern wurden bereits am 13. März 2020 - wenige Tage nach Beginn des Leistungsbezugs des Klägers - die Kurzarbeit massiv ausgeweitet und die Voraussetzungen zum Bezug von Kurzarbeitergeld deutlich vereinfacht. Zum gleichen Zeitpunkt wurden die Schulen in Nordrhein-Westfalen geschlossen, wovon der Kläger mit einer schulpflichtigen Tochter unmittelbar betroffen war. Die Agenturen für Arbeit und die Jobcenter wurden am 18. März 2020 geschlossen. Nachdem bereits Ende Februar 2020 erste COVID-Infektionen in Nordrhein-Westfalen aufgetreten waren, hatte die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen ein weitreichendes Kontaktverbot für Nordrhein-Westfalen erlassen.
In dieser Situation liege es nicht ohne Weiteres auf der Hand, dass eine Verfügbarkeit für den Bezug von Arbeitslosengeld weiter eine zwingende Voraussetzung ist und deren Wegfall sofort mitgeteilt werden muss, so das LSG.
Kläger hatte keinen wirtschaftlichen Vorteil
Bei der Bewertung der Fahrlässigkeit des Klägers sei zudem zu berücksichtigen, dass dieser keinerlei wirtschaftlichen Vorteil von dem Arbeitslosengeld hatte. Denn er hätte mit seiner Familie einen Anspruch auf Grundsicherung nach dem SGB II gehabt, der höher gewesen wäre als das Arbeitslosengeld. Dem Kläger sei damit keinerlei Bereicherungsabsicht zu unterstellen.
Schließlich sei noch zu beachten, dass der Kläger sich in einem sich entwickelnden familiären Überforderungsprozess befand. Das sei anders zu bewerten als Fälle, in denen die Verfügbarkeit greifbar an einem bestimmten Datum wegfalle, wie bei einem Umzug oder der Aufnahme einer Beschäftigung. In einer solchen Situation wie die des Klägers wiege der Schuldvorwurf weniger schwer.