Gerade als Bund und Länder vereinbart hatten, die Einschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie schrittweise zu lockern, erreichten die Öffentlichkeit alarmierende Meldungen aus der Fleischindustrie. Gleich in vier Unternehmen in Coesfeld, Bad Bramstedt, Birkenfeld und Oer-Erkenschwick gab es unter den Beschäftigten viele, die sich mit dem Corona-Virus angesteckt hatten. Derzeit gibt es in Deutschland etwa 600 nachgewiesene Infektionen bei Beschäftigten in der Fleischindustrie.

Seit Jahren sind die Missstände in der fleischverarbeitenden Industrie bekannt

Ein Zufall ist das indessen nicht. Zum Teil skandalös ist in dieser Branche nämlich nicht nur, wie mit Tieren umgegangen wird. Auch die Arbeitsbedingungen sind oft entsetzlich, beschämend und nicht zu tolerieren, wie Bundesarbeitsminister Hubertus Heil am 13. Mai 2020 anlässlich einer aktuellen Stunde im Bundestag erklärt hat. Kern des Übels sei eine Art von Sub-Sub-Sub-Unternehmertum, das in der Branche anzutreffen sei. Der Minister kündigte ein Konzept an, das er kurzfristig vorstellen würde und mit dem insbesondere Konsequenzen geregelt werden sollen. Allerdings wies er darauf hin, dass strengere Regeln nichts nützen würden. Gefordert seien alle Ebenen: Unternehmer ebenso wie Bund und Länder. Es müsse mehr Personal und schärfere Kontrollen im Arbeitsschutz geben.

Das Virus hatte es offensichtlich leicht in den vier Betrieben. Die Branche ist geprägt von Arbeitsstätten, die jeder Beschreibung spotten. Auf engstem Raum arbeiten zumeist Billiglöhner aus Osteuropa, die von obskuren Subunternehmen in die Schlachthöfe geschickt werden. Untergebracht sind sie häufig in schrottreifen Sammelunterkünften, für die auch noch völlig überzogene Mieten verlangt werden.

Die Vertreter der Firma sind nicht in der Lage gewesen, Infektionsschwerpunkte zu benennen

Das Amt für Arbeitsschutz der Bezirksregierung Münster hatte etwa im Mai 2020 bei einem Betrieb in Coesfeld festgestellt, dass es sowohl im Bereich des Zerlegebandes als auch in den Umkleiden Probleme gebe, den Mindestabstand von 1,50 m einzuhalten. Der zur Verfügung gestellte Mund-Nasen-Schutz werde am Zerlegeband nicht korrekt getragen. Die Vertreter der Firma seien nicht in der Lage gewesen, Infektionsschwerpunkte zu benennen. Das Amt hatte dann angeordnet, dass der Betrieb in der Zeit vom neunten bis zum 18. Mai 2020 zu schließen sei.
Hiergegen ist das betroffene Unternehmen mit einem Eilantrag beim Verwaltungsgericht Münster vorgegangen. Diesen Antrag hat das Gericht jedoch am Sonntag, den 10. Mai 2020, abgelehnt. Die Corona-Pandemie begründe eine ernst zu nehmende Gefahrensituation, die staatliches Einschreiten nicht nur rechtfertige, sondern mit Blick auf die Schutzpflicht des Staates weiterhin gebiete.

Der Betrieb weise wegen ersichtlich unzureichender Vorsichtsmaßnahmen eine sogenannte „Durchseuchungsrate“ von etwa 20 Prozent (Stand 8. Mai 2020) bzw. etwa 45 Prozent (Stand 9. Mai 2020) der getesteten Personen auf. Damit sei er eine erhebliche epidemiologische Gefahrenquelle nicht nur für die eigene Belegschaft geworden. Demgegenüber griffen die von der Antragstellerin in den Fokus ihrer Ausführungen gestellten wirtschaftlichen Erwägungen nicht durch. Das Unternehmen hatte mit Nachteilen rein finanzieller Natur argumentiert. Diese Argumente konnten sich gegenüber dem Lebens- und Gesundheitsschutz der Mitarbeiter und ihrer möglichen Kontaktpersonen allerdings nicht durchsetzen.

Vorschriften sind gut, Kontrolle ist nötig

Vorschriften allein nützen in dieser Branche also offensichtlich nicht viel. 2017 ist das Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft (GSA Fleisch) in Kraft getreten. Mit diesem Gesetz sollten gerade die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen in der Fleischwirtschaft verbessert und sichergestellt werden. Funktioniert hat das nicht.

Anlässlich der Grünen Woche in Berlin im Januar dieses Jahres hat der Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG), Guido Zeitler, Kritik an den Arbeitgebern der deutschen Fleischindustrie geübt und strengere Kontrollen der Arbeitsbedingungen gefordert. „Es wird viel über Tierwohl, artgerechte Haltung oder die Auswirkungen der Fleischproduktion auf das Klima gesprochen. Das ist gut und wichtig. Dass in der deutschen Fleischindustrie auch Menschen gnadenlos ausgebeutet werden, kommt aber leider oft zu kurz. Wir müssen nicht nur über verbesserte ökologische, sondern insbesondere auch über neue soziale Standards reden.“, so Kollege Zeitler damals.

Auch die Unterkünfte der Beschäftigten in der Fleischindustrie werden regelmäßig vom DGB und der zuständigen Fachgewerkschaft, der NGG, gerügt. Referatsleiter Thomas Bernhard sagt etwa: "Sie wohnen zu eng aufeinander." Zu kleine Wohnungen, zu viele Leute darin, zu wenig Sanitärräume. Die NGG ist überzeugt, dass die Unterbringung der Arbeiter die Verbreitung des Virus begünstigt.

Infektionsketten hängen sehr häufig mit den Unterkunftsbedingungen in der Fleischindustrie ursächlich zusammen

Auch der Gesundheitsminister Nordrhein-Westfalens, Karl-Josef Laumann (CDU), hat angesichts des Ausbruchs in Coesfeld und Oer-Erkenschwick eingeräumt, dass jahrelang alle Parteien versagt hätten, wenn es um die Beseitigung von Missständen in der Fleischindustrie gehe. Niemand dürfe so tun, als wisse er nicht, dass wir es in der Arbeits- und Unterbringungssituation der osteuropäischen Werkvertragsarbeitnehmer in der Fleischindustrie oft mit prekären Verhältnissen zu tun hätten.

Es liegt sehr nahe, dass Infektionsketten sehr häufig mit den Unterkunftsbedingungen in der Fleischindustrie ursächlich zusammenhängen. Waren bislang „nur“ die Beschäftigten selbst die Leidtragenden, wird der Kreis der Betroffenen aufgrund der Pandemie-Maßnahmen deutlich größer. Ganzen Landkreisen droht ein „Lock-Down“, wenn nur in einem Betrieb wegen der Missstände in der Fleischindustrie das Virus nicht im Zaum gehalten werden kann. War uns bislang ein billiges Stück Fleisch wichtiger als die Arbeitsbedingungen der Kolleg*innen in der Fleischindustrie, horchen wir nun auf. Jetzt will sich selbst das Corona-Kabinett ganz schnell darum kümmern, dass Abhilfe geschaffen wird.

Vielleicht stellt die Pandemie über den Infektionsschutz Werkzeuge bereit, die Behörden endlich die Möglichkeit geben, wirksam in das System einzugreifen. Versuche der Politik und der Behörden insoweit hat es in der Vergangenheit gegeben. „Wir haben dann aber immer zwei Dinge erlebt“, erklärte Hubertus Heil in seiner Rede im Bundestag, „ Zum einen gab es mit Teilen der Branche ein Katz-und-Maus-Spiel - wenn Regelungen getroffen wurden, hat man sich an der einen oder anderen Stelle Umgehungsmöglichkeiten organisiert -, und zum anderen haben wir in parlamentarischen Prozessen immer wieder erlebt - lassen Sie uns Klartext reden -, dass Interessengruppen versucht haben, klare Regeln, sagen wir mal, zu soften, zu verwässern.“

Neue Realität: gute Arbeitsbedingungen, Tierwohl und kein Billigfleisch mehr

Man dürfe als Gesellschaft nicht weiter zugucken, wie Menschen aus Mittel- und Osteuropa in dieser Gesellschaft ausgebeutet würden, so der Bundesarbeitsminister. Es handele sich hier um arbeitende Menschen, die ein Recht darauf hätten, Arbeitsschutz und Gesundheitsschutz zu erfahren, wie alle anderen Menschen in dieser Gesellschaft auch, egal wo sie herkämen. Das sei nicht verhandelbar und das dürfe nicht weiter verhandelbar sein. Er kündigte an, dass es bundesweit nicht nur mehr Personal und schärfere Kontrollen im Arbeitsschutz geben werde. Die Wurzel des Übels sei ein Subsubsubunternehmertum, das dazu führe, das Verantwortung abgewälzt werde. Arbeitnehmerrechte würden geschleift, Löhne gedrückt. Man müsse also überlegen, wie man mit der Art der sogenannten Werksvertragskonstruktion in der fleischverarbeitenden Industrie dem Grunde nach umgehe.

Es besteht also Hoffnung, dass zur „neuen Normalität“ nach der Pandemie, von der Olaf Scholz so gerne spricht, auch gute und menschenwürdige Bedingungen in allen Bereichen der Arbeitswelt gehören. Auch und gerade in der Branche, in der Fleisch verarbeitet wird. Vielleicht darf die Hoffnung so weit gehen, dass es zur neuen Normalität keine fleischverarbeitende Industrie mehr gehört, sondern Schlachtbetriebe, die auch Tierwohl und artgerechte Tierhaltung berücksichtigen. Es muss uns aber auch klar sein, dass in der neuen Realität dann kein Steak für 1,99 Euro mehr zu haben ist.