Wenn der Arbeitgeber anzweifelt, dass der Arbeitnehmer erkrankt ist...
© Adobe Stock - Von: Татьяна Пивоварова
Wenn der Arbeitgeber anzweifelt, dass der Arbeitnehmer erkrankt ist... © Adobe Stock - Von: Татьяна Пивоварова

Ein Kraftfahrer hatte sein Arbeitsverhältnis am 6. Dezember 2022 zum 31. Januar 2023 gekündigt. Am Morgen des 10. Januar arbeitete er zunächst und ging dann zum Arzt, der ihn bis Ende des Monats krankschrieb.

 

Der Arbeitgeber, ein Sanitärfachhandel aus Ostwestfalen, meinte daraufhin kein Entgelt für die Dauer der Krankschreibung zahlen zu müssen.

 

Klage auf Entgeltfortzahlung durch den DGB Rechtsschutz

 

Was die Beklagte im Rechtsstreit vor dem Arbeitsgericht vortrug, war sehr dünn:

Der Kläger habe am 10. Januar „erkennbar lustlos“ gearbeitet und gegenüber Arbeitskollegen mehrfach geäußert, „keinen Bock“ mehr auf eine Arbeit im Lager zu haben. Zur Mittagszeit habe er geäußert, dass es ihm „nicht so gut“ gehe.

 

Damit sei der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert, da Tatsachen vorliegen würden, wonach ernsthafte Zweifel an der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit bestünden.

Der Kläger habe seine Arbeitsunfähigkeit selbst angekündigt. Zudem habe es im Vorfeld der Krankschreibung eine Auseinandersetzung gegeben, weil der Kläger im Lager statt als Fahrer eingesetzt wurde.

 

Außerdem ergebe sich aus der Diagnose einer Neurasthenie, dass es sich um ein Gefälligkeitsattest handele.

 

Doch reicht das schon aus, damit der Kläger seinen gesetzlichen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall verliert?

 

Der Ausgangspunkt: Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hat hohen Beweiswert

 

Der Beweis krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit wird in der Regel durch die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung geführt. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist das ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel für eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit. Der Bescheinigung kommt aufgrund der Vorgaben im Entgeltfortzahlungsgesetz ein hoher Beweiswert zu und das Gericht kann normalerweise den Beweis von Arbeitsunfähigkeit als erbracht ansehen, wenn Arbeitnehmer:innen im Rechtsstreit eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen.

 

Aufgrund des hohen Beweiswertes, reicht es nicht, wenn der Arbeitgeber einfach bestreitet, der Arbeitnehmer könne wegen Krankheit nicht arbeiten. Er muss tatsächliche Umstände darlegen und beweisen, woraus sich solche Zweifel an der Erkrankung ergeben, dass der ärztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukommt.

 

Der Leitsatz der Entscheidung vom BAG aus September 2021 (5 AZR 149/21) lautet:

Wird ein Arbeitnehmer, der sein Arbeitsverhältnis kündigt, am Tag der Kündigung arbeitsunfähig krankgeschrieben, kann dies den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung insbesondere dann erschüttern, wenn die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfasst.

 

Arbeitsgericht sieht Beweiswert nicht als er schüttert an

 

Das Gericht hat sich an der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts orientiert und sieht in diesem Fall den Beweiswert der ärztlichen Bescheinigung nicht als erschüttert an.

 

Dabei liegt das erste Argument schon auf der Hand: Der Kläger hatte am 6. Dezember 2022 gekündigt, Arbeitsunfähigkeit bestand ab dem 10. Januar 2023. Er ist also keinesfalls am Tag der Kündigung krankgeschrieben worden und die ärztliche Bescheinigung umfasst nicht passgenau die Dauer der Kündigungsfrist.

Darauf stellte auch das Arbeitsgericht ab. Eine zeitliche Koinzidenz – wie sie der Entscheidung vom BAG zugrunde lag – also ein direkter zeitlicher Zusammenhang zwischen bescheinigter Arbeitsunfähigkeit sowie Beginn und Ende der Kündigungsfrist, sei im vorliegenden Fall nicht gegeben.

 

Beklagte trägt nur pauschal zum Verhalten des Klägers vor

 

Soweit der Kläger nach der Behauptung der Beklagten „lustlos“ gewirkt und geäußert habe, „keinen Bock“ auf die Arbeit im Lager zu haben, wertet das Gericht dies als pauschale Tatsachenbehauptungen, für deren Beweis auch kein Zeuge benannt war.

Doch auch, wenn man die Äußerungen und das Verhalten des Klägers, wie es die Beklagte behauptet, als wahr unterstellen würde, sei damit nach Ansicht des Gerichts nicht zugleich der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als erschüttert anzusehen.

 

Inwieweit sich aus den vermeintlichen Äußerungen des Klägers auf eine Ankündigung der Arbeitsunfähigkeit schließen lasse, war für das Gericht nicht ersichtlich.

 

Beklagte muss 1.600 € nachzahlen

  

Das Arbeitsgericht verurteilte deshalb die Beklagte, an den Kläger Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für den Zeitraum 10. bis 31. Januar 2023 zu zahlen.

 

Das Urteil ist rechtskräftig.

 

Das sagen wir dazu:

Das Urteil des BAG hat dazu geführt, dass der ein oder andere Arbeitgeber vorschnell eine Entgeltfortzahlung verweigert. Bestehen Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit eines Mitarbeiters, gibt es die Möglichkeit, den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) einzuschalten, um zu überprüfen, ob der Mitarbeiter tatsächlich arbeitsunfähig ist. Offenbar halten manche Arbeitgeber diesen Weg nach der Rechtsprechung des BAG für überflüssig.

 

Vor allem aber wollte das BAG mit seiner Entscheidung, die wie immer eine Einzelfallentscheidung ist, sicher Arbeitgebern keinen Freibrief geben. In dem dortigen Fall

hatte die Klägerin quasi zusammen mit ihrer Kündigung einen gelben Schein eingereicht, der Arbeitsunfähigkeit genau bis zum Ende der Kündigungsfrist bestätigte. Sie soll außerdem im Vorfeld der Krankschreibung einem Kollegen telefonisch angekündigt haben, nicht mehr zur Arbeit zu kommen. Krankgeschrieben war die Klägerin für 15 Tage aufgrund der Diagnose „Sonstige und nicht näher bezeichnete Bauchschmerzen“. Das BAG sah – anders als die Vorinstanzen - ernsthaften Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit, die die Klägerin nicht ausräumen konnte. Die Möglichkeit, den ausstellenden Arzt von der Schweigepflicht zu entbinden, um so nachzuweisen, dass sie tatsächlich krank war, wurde nicht genutzt.

 

Neurasthenie ist keine Gefälligkeitsdiagnose

 

Unter den ICD-Codes (internationalen Klassifizierung von Krankheiten) F40-F48 sind Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen zusammengefasst. Der Diagnoseschlüssel F48.0 steht für Neurasthenie. Es handelt sich hierbei um eine psychische Störung, bei der Betroffene vor allem unter Erschöpfung leiden, wobei die Erschöpfung schon durch eine minimale Anstrengung ausgelöst wird und sich auf den Geist oder den Körper auswirkt. Hinzu kommen weitere Symptome wie Kopfschmerzen und Konzentrationsstörungen.

Wenn der Arbeitgeber hier im Rechtsstreit aufgrund der Diagnose so ohne weiteres von einem Gefälligkeitsattest ausgeht, ist dies ebenso anmaßend wie unwissend.

Gerne wird eine Auseinandersetzung ins Spiel gebracht, aus der sich ergeben soll, dass der Arbeitnehmer nur vortäusche, krank zu sein. Was dabei aber völlig außer Acht gelassen wird: Arbeitnehmer:innen werden tatsächlich durch Konflikte am Arbeitsplatz krank!