Gert Becker, Rechtsschutzsekretär im Göppinger Büro der DGB Rechtsschutz GmbH, erstritt gleich über 30 Urteile. Der Arbeitgeber war zwar zunächst in den meisten Fällen in Berufung gegangen, aber am Ende blieb es bei der Entscheidung des Arbeitsgerichts Stuttgart; denn im Anschluss an das Urteils kam es zu außergerichtlichen Einigungen.
Der Arbeitgeber der Kläger befand sich in wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Im Januar 2017 schloss er deshalb einen Ergänzungstarifvertrag mit der IG Metall ab. Danach verzichteten IG-Metall-Mitglieder für 2017 und 2018 auf zusätzliches Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Stattdessen sollten sie Mitgliederboni erhalten.
Die Höhe der Boni berechnete sich nach der Zahl der IGM-Mitglieder im Betrieb
Voraussetzung für ein Bonus war lediglich, dass die/der Beschäftigte nachwies, dass sie/er Mitglied der IG Metall war. Die Höhe der Boni berechnete sich nach der Zahl der IG-Metall-Mitglieder im Betrieb und war Ende Juni 2018 zahlbar.
Im März 2017, also kurz nachdem der Firmentarifvertrag abgeschlossen war, führte der Arbeitgeber eine Betriebsversammlung durch. Dort hieß es, die Firma müsse die Löhne um 10% absenken und auch die Sonderzahlungen aussetzen. Die IG Metall habe das zwar abgelehnt, diese einschneidenden Maßnahmen seien aber nötig, um die Firma langfristig abzusichern.
Viele Mitarbeiter*innen unterschrieben den Änderungsvertrag des Arbeitgebers
Viele der Mitarbeiter*innen unterschrieben den Änderungsvertrag, den der Arbeitgeber ihnen vorlegte, so auch der Kläger. Dieser Änderungsvertrag sah vor, dass die Beschäftigten bis Ende 2021 auf Lohn verzichteten. Die Bonifikation sollte ebenfalls nicht mehr gezahlt werden.
Obwohl die Verträge unterschrieben waren, beriefen sich die IG-Metall-Mitglieder auf den abgeschlossenen Firmentarifvertrag vom Januar 2017. Als der Zahltag gekommen war, forderten sie den Arbeitgeber 2018 auf, die Mitgliederboni auszuzahlen.
Im Klageverfahren vor dem Arbeitsgericht Stuttgart verwiesen sie ausdrücklich darauf, die IG Metall habe den Nachtrag zu den Arbeitsverträgen nicht gebilligt. Sie habe ausdrücklich Stellung bezogen und sich zu den Verträgen nicht passiv verhalten.
Die IG Metall habe nicht verhindern können, dass die Beschäftigten unterschrieben
Allerdings habe die IG Metall auch nicht verhindern können, dass die Beschäftigten unterschreiben. Das sei Sache jedes Einzelnen gewesen. Die Mitglieder seien auch in vielen Gesprächen beraten worden, nicht zu unterschreiben. Insbesondere habe die IG Metall dem Arbeitgeber keinen Freibrief gegeben. Der Bevollmächtigte der IG Metall habe nämlich ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eine solche Verzichtserklärung der Beschäftigten von der zuständigen Stelle der IG Metall sicher nicht akzeptiert würde.
Die Kläger bezogen sich im Verfahren auf das Tarifvertragsgesetz (TVG). Nach Absatz 4 des § 4 TVG ist ein Verzicht auf entstandene tarifliche Rechte nur in einem Vergleich zulässig, den die Tarifvertragsparteien gebilligten haben. Während der Arbeitgeber behauptete, es habe einen solchen Vergleich gegeben, gelang es Gert Becker, das Gericht davon zu überzeugen, dass das nicht der Fall war.
Nach dem TVG ist ein Verzicht auf tarifliche Rechte nur in einem Vergleich möglich
Das Arbeitsgericht Stuttgart bekräftigte ausdrücklich, dass nach dem TVG ein Verzicht auf tarifvertragliche Rechte nur in einem Vergleich möglich ist, der von den Tarifvertragsparteien gebilligt worden sei. Das sei so auch gerechtfertigt. Tarifverträge wirkten sich nämlich unmittelbar auf das Arbeitsverhältnis aus. Sie gelten ohne Zutun der Arbeitsvertragsparteien zwingend. Das müsse in jedem Stadium gesichert sein, in dem ein Tarifvertrag angewendet und durchgeführt werde.
Dieser Zweck entfalle allerdings, wenn die Tarifvertragsparteien selbst einem Verzicht des Arbeitnehmers auf dessen Rechtspositionen zustimmten. Eine Vereinbarung, mit der darauf verzichtet werde, ein tarifvertragliches Recht durchzusetzen, stelle eine solche Verzichtserklärung dar. Diese müsse dann aber von den Tarifvertragsparteien gebilligt werden. Gebilligt sei sie dann, wenn deren Zustimmung vorliege.
Der Kläger verzichtete auf ein Recht aus dem Tarifvertrag
Hier habe der Kläger auf ein Recht aus dem Tarifvertrag, nämlich auf den Anspruch auf zusätzliches Urlaubgeld und Weihnachtsgratifikation verzichtet. Hier greife das Tarifvertragsgesetz. Zwar habe der Arbeitnehmer dem Verzicht zugestimmt, es müsse aber zusätzlich auch eine Zustimmung der IG Metall vorliegen. Das sei jedoch nicht der Fall.
Es sei nach dem Gesetz zwar nicht erforderlich, dass die Gewerkschaft ausdrücklich erkläre, sie würde dem Verzicht zustimmen. Es genüge auch, wenn sich aus den Umständen ergebe, dass eine Zustimmung gewollt gewesen sei. Die IG Metall sei zwar über die wirtschaftliche Lage des Unternehmens informiert gewesen. Sie habe auch Kenntnis von den Vertragsverhandlungen mit den Mitarbeiter*innen sowie dem Vertragstext gehabt.
Es reicht nicht aus, wenn die Gewerkschaft von den Vertragsverhandlungen wusste
Es reiche jedoch nicht aus, dass die Gewerkschaft von den Vertragsverhandlungen gewusst habe. Deshalb könne man noch nicht annehmen, dass sie die Kürzung der Gehälter gebilligt habe.
Im Laufe der Verhandlungen zum Ergänzungstarifvertrag habe man zwar auch über Lohnkürzungen verhandelt. Das sei aber kein Anhaltspunkt dafür, dass die IG Metall diese Lohnkürzungen gebilligt habe. Vielmehr ergebe sich aus dem Gang der Verhandlungen, dass die IG Metall Bonuszahlungen wohl als Gegenleistung dafür angesehen hatte, dem Arbeitgeber an anderer Stelle entgegen zu kommen.
Ob der Betriebsrat vor Ort mit den Lohnkürzungen einverstanden gewesen sei, spiele keine Rolle. Der Verzicht auf tarifvertragliche Rechte könne nur durch die Tarifvertragsparteien erklärt werden. Dabei sei es dem Arbeitgeber auch durchgängig klar gewesen, dass der Bevollmächtigte der IG Metall vor Ort dafür intern die Zustimmung seiner übergeordneten Tarifstelle hätte einholen müssen.
Die IG Metall billigte die Lohnkürzung nicht
Dass das geschehen sei, habe der Arbeitgeber jedoch nicht beweisen können. Der gesamte Gang des Verfahrens deutete für das Gericht vielmehr darauf hin, dass von Seiten der IG Metall keine Billigung der Lohnkürzung erfolgte. Die IG Metall habe die Kürzung des Arbeitsentgeltes nämlich nicht dadurch gebilligt, dass sie zu dem Vorgehen geschwiegen habe
Wichtig sei, dass das TVG gerade von Gesetzes wegen sicherstellen solle, dass Arbeitgeber, die eine bestimmte Forderung gegenüber der Gewerkschaft nicht durchsetzen könnten, nicht einfach einzelvertragliche Abreden treffen dürften, um die ausgehandelten Ergebnisse wieder rückgängig zu machen.
Schön, dass das Arbeitsgericht das in dieser Deutlichkeit formuliert.
Das sagen wir dazu:
Ein Hoch auf Tarifrecht!
§ 4 TVG fordert mit gutem Grund einen Vergleich der tarifschließenden Gewerkschaft mit dem Arbeitgeber, wenn Tarifverträge abgeändert werden sollen. Im Gegensatz zu vielfach geäußerten Arbeitgebermeinungen enthalten Tarifverträge nämlich immer ein Geben und Nehmen.
Das gilt es, im Auge zu behalten. Soll in Tarifrechte eingegriffen werden, dürfen Arbeitgeber keine generellen Freibriefe erhalten. Tarifliche Rechte begründen Ansprüche. Davon darf ein Arbeitgeber nicht einseitig abweichen dürfen. Deshalb ist es wichtig und richtig, dass das Gesetz hierzu eine Vereinbarung der tarifschließenden Parteien zwingend fordert.
Nur so kann ein Tarifgefüge nicht ad absurdum geführt werden.
Rechtliche Grundlagen
§ 4 TVG
(2) Sind im Tarifvertrag gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien vorgesehen und geregelt (Lohnausgleichskassen, Urlaubskassen usw.), so gelten diese Regelungen auch unmittelbar und zwingend für die Satzung dieser Einrichtung und das Verhältnis der Einrichtung zu den tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
(3) Abweichende Abmachungen sind nur zulässig, soweit sie durch den Tarifvertrag gestattet sind oder eine Änderung der Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten.
(4) Ein Verzicht auf entstandene tarifliche Rechte ist nur in einem von den Tarifvertragsparteien gebilligten Vergleich zulässig. Die Verwirkung von tariflichen Rechten ist ausgeschlossen. Ausschlußfristen für die Geltendmachung tariflicher Rechte können nur im Tarifvertrag vereinbart werden.
(5) Nach Ablauf des Tarifvertrags gelten seine Rechtsnormen weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden.
Das sagen wir dazu