Die NAG wurde Ende des Jahres 2010 gegründet.
Nach ihren eigenen Angaben ist sie nur in der Versicherungsbranche tätig.
Die Gewerkschaft ver.di leitete im Jahr 2012 ein gerichtliches Verfahren ein, um feststellen zu lassen, dass es sich bei der NAG rechtlich um keine Gewerkschaft handelt.
Trotz gerichtlicher Aufforderung, weigerte sich die NAG, konkrete Angaben zur Zahl ihrer Mitglieder und zu ihrer Mitgliederstruktur zu machen.
Damit fehlte es an einem Nachweis, dass die NAG tatsächlich in der Lage ist, Tarifverträge zu schließen.

Das Landesarbeitsgericht (LAG) Hessen lehnte daher die Gewerkschaftseigenschaft der NAG ab. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) bestätigte die Entscheidung.

Nicht jede Arbeitnehmerorganisation ist eine Gewerkschaft

Es reicht noch nicht aus, dass ein Zusammenschluss von Arbeitnehmern*innen sich die Aufgabe gegeben hat, die Interessen ihrer Mitglieder, die alle Arbeitnehmer*innen sind, zu vertreten. Auch das Ziel, Tarifverträge abzuschließen zu wollen, genügt nicht. Es müssen weitere Anforderungen nach der Rechtsprechung des BAG erfüllt sein. So muss die Arbeitnehmervereinigung unter anderem gegnerfrei sein, durchsetzungsfähig sein und über eine leistungsfähige Organisation verfügen. 

Keine Arbeitgeber-Abhängigkeit 

Gegnerfrei bedeutet, dass eine Gewerkschaft nicht von Arbeitgebern oder Arbeitgeberverbänden abhängig sein darf. Daran fehlt es, wenn die für die Organisation verantwortlichen Personen mit der Arbeitgeberseite verflochten sind. Das Gleiche gilt, wenn Arbeitgeber die Arbeitnehmervereinigung in erheblichem Umfang finanziell unterstützen. Dann besteht die Gefahr, dass sie ihre Aufgabe, Arbeitnehmerinteressen in Tarifverhandlungen durchzusetzen, nicht effektiv wahrnehmen kann. Denn die Arbeitgeberseite könnte tarifliche Forderungen dadurch abwehren, dass sie androht, die finanzielle Unterstützung zu streichen. Für die finanzielle Unabhängigkeit spricht daher, dass eine Gewerkschaft ausreichend Mitglieder hat und sich aus Mitgliedsbeiträgen finanziert.

Durchsetzungsfähigkeit

Eine Arbeitnehmerorganisation muss gegenüber Arbeitgeber bzw. Arbeitgeberverband ihre tariflichen Forderungen auch durchsetzen können. Das bedeutet nicht, siegreich mit allen Forderungen zu sein; mindestens aber muss sie so mächtig sein, dass sie als Verhandlungspartner Autorität besitzt und ernst genommen wird. 

Mitgliederzahl ist entscheidend

Wichtigstes Kriterium für die Beurteilung der Durchsetzungskraft ist die Mitgliederzahl. Denn davon ist abhängig, über welche finanziellen Mittel die Arbeitnehmervereinigung verfügt. Das entscheidet z. B. über die Schlagkraft eines Streiks, für dessen Erfolg auch wesentlich beiträgt, ob und wie lange Arbeitnehmer*innen einen Streik durchhalten können. Auch für die organisatorische Leistungsfähigkeit ist wichtig, dass in der Organisation der Arbeitnehmervereinigung eine ausreichende Anzahl von Personen mitwirkt.

Mitgliederzahl muss belegt werden

Die NAG hatte im Prozess trotz gerichtlicher Aufforderung konkrete Angaben zu ihrer Mitgliederzahl und Mitgliederstruktur abgelehnt. Ihre Begründung: die Angaben könnten andernfalls von der Konkurrenzgewerkschaft missbräuchlich gegen sie verwendet werden. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG sind jedoch Angaben zur Mitgliederzahl erforderlich. Darauf kann nicht verzichtet werden. Ansonsten fehlt es an einer Grundlage, auf der die Gerichte die Mächtigkeit der Arbeitnehmervereinigung beurteilen können. Namen müssen nicht mitgeteilt werden; die Mitgliederstruktur muss auch nicht nach Regionen aufgeschlüsselt werden. Es reichen Mitteilungen zur Mitgliederzahl, aus denen die Gerichte schließen können, dass die Vereinigung in ihrem Zuständigkeitsbereich nicht nur eine ganz unbedeutende kleine Zahl von Mitgliedern vertritt. Diese Angaben müssen dann aber auch nachgewiesen werden.

Tarifvertragsabschlüsse in der Vergangenheit

Die Rechtsprechung des BAG berücksichtigt auch, ob eine Arbeitnehmervereinigung bereits in der Vergangenheit regelmäßig Tarifverträge abgeschlossen hat. Das kann gerade bei Vereinigungen ein wichtiges Kriterium sein, bei denen aufgrund der Mitgliederzahl Zweifel verbleiben, ob sie durchsetzungsfähig genug sind. Die Arbeitnehmervereinigung muss Tarifverträge allerdings eigenständig ausgehandelt und nicht nur andere Tarifverträge mitübernommen haben. Und die Zahl der ausgehandelten Tarifverträge darf nicht nur gering sein. Außerdem dürfen es nicht nur Schein– oder Gefälligkeitstarifverträge sein.

Tarifforderungen zu stellen, reicht nicht

Die NAG hatte im Prozess vorgetragen, dass sie Gespräche mit Arbeitgebern und Arbeitgeberverbänden geführt und Tarifforderungen aufgestellt habe. Arbeitgeber hätten mit ihr nur nicht verhandelt, weil ihre Gewerkschaftseigenschaft angezweifelt worden sei. Diese Argumentation hat dem LAG und dem BAG nicht ausgereicht, da die Arbeitgeberseite sich von den Tarifforderungen der NAG vollkommen unbeeindruckt gezeigt hatte. Ein Warnstreik war im Übrigen „wetterbedingt“ ausgefallen. 

Anmerkung der Redaktion

Die Durchsetzungskraft einer Arbeitnehmervereinigung ist nicht nur ein Problem der betroffenen Arbeitnehmergruppe oder das Problem konkurrierender Gewerkschaften. Ob eine Arbeitnehmerorganisation ausreichend mächtig ist, um Tarifverträge zu verhandeln und abzuschließen, ist vielmehr von allgemeiner gesellschaftlicher Bedeutung. 

Tarifvertragssystem schützen

Ohne leistungsstarke Arbeitnehmervereinigungen funktioniert das im Grundgesetz verfassungsrechtlich geschützte Tarifvertragssystem nicht. Das setzt nämlich voraus, dass sich beim Verhandeln von Tarifverträgen annähernd gleich stärke Partner gegenüber sitzen und keiner dem anderen Regelungen „diktieren“ kann. Nur deshalb sieht das Tarifvertragsgesetz vor, dass tarifliche Bestimmungen unmittelbar und zwingend für die Mitglieder der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände gelten, die den Tarifvertrag abgeschlossen haben. Nur deshalb lassen einzelne Gesetze es zu, dass Tarifverträge für Arbeitnehmer*innen ungünstigere Regelungen als gesetzliche Normen vorsehen dürfen. 

Tarifverträge dürfen auch ungünstigere Regelungen vorsehen

Das ist z. B. so bei der Festlegung von Kündigungsfristen, der Befristung von Arbeitsverhältnissen, der Berechnung des Urlaubs oder dem Arbeitsentgelt von Leiharbeitnehmern*innen. Anders als in Arbeitsverträgen werden beispielsweise in Tarifverträgen auch kürzere als 3-monatige Verfallfristen für zulässig erachtet. Tarifliche Regelungen zu privilegieren ist nur unter der Voraussetzung richtig und zulässig, dass leistungsstarke Arbeitnehmervereinigungen Arbeitnehmerinteressen in die Verhandlungen auch einbringen und durchsetzen können. 

„Phantomgewerkschaften verhindern“

Das Tarifvertragssystem kann nur funktionieren, wenn  nicht „Phantom-Gewerkschaften“ Tarifverträge verhandeln, auf die sich Arbeitgeber nur einlassen, um auf diese Weise die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer gegenüber gesetzlichen Regelungen zu verschlechtern. Unrühmliches Beispiel hierfür waren die christlichen Gewerkschaften in der Leiharbeitsbranche, die Tarifgemeinschaft christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalservice-Agenturen (CGZP). Ihre Gründungen und Tarifabschlüsse dienten lediglich dazu, von der gesetzlichen Regelung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) abweichende niedrige Arbeitsentgelte durchzusetzen. In mehreren Urteilen hat das BAG festgestellt, dass die mit der CGZP abgeschlossenen Tarifverträge unwirksam sind, weil sie nicht von einer tariffähigen Arbeitnehmervereinigung abgeschlossen worden sind. 

Es ist deshalb wichtig, dass bereits im Vorfeld von Tarifabschlüssen geklärt wird, ob eine Arbeitnehmerorganisation in der Lage ist, Tarifverträge zu vereinbaren. 

Für die Versicherungsbranche besteht nunmehr Klarheit: Die NAG kann es nicht. 

 

Für Interessierte weisen wir auf folgende weitere Rechtsprechung zur Tariffähigkeit von Gewerkschaften hin:

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 14.12.2010, 1 ABR 19/10

Bundesverfassungsgericht Beschluss vom 10.3.2014, 1 BvR 1104/11 (CGZP)