Lohnforderungen im Insolvenzverfahren

Ist der Arbeitgeber zahlungsunfähig und wird über sein Vermögen Insolvenz eröffnet, können Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen so wie auch andere Gläubiger keine Forderungen mehr gegen den Arbeitgeber (= Schuldner) durchsetzen. Sie müssen vielmehr ihre Forderungen beim Insolvenzverwalter anmelden. Je nachdem, wie viel Vermögen noch vorhanden ist, werden die Forderungen entsprechend einer gerichtlich festgesetzten Quote erfüllt.

Rückforderung von Zahlungen bei bevorstehender Insolvenz

Das Insolvenzverfahren dient einer möglichst gerechten Verteilung des noch vorhandenen restlichen Vermögens auf die Gläubiger, wozu auch Arbeitnehmer zählen, die noch Lohnforderungen haben. Die Verteilung soll geordnet vorgehen und nicht nach dem Motto: wer zuerst kommt, mahlt zuerst.

Deshalb sieht die Insolvenzordnung vor, dass der Insolvenzverwalter unter bestimmten Voraussetzungen Gelder zurückfordern kann, die der Schuldner (= Arbeitgeber) an einzelne Gläubiger noch vor der Insolvenzeröffnung geleistet hat.

Rückzahlung nur bei Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit

Der Insolvenzverwalter kann nur Zahlungen zurückverlangen, die während der letzten 3 Monate vor einem Insolvenzantrag oder nach dem Insolvenzantrag erfolgt sind. Das ist die sog. kritische Zeit. Außerdem müssen Beschäftigte die Zahlungsunfähigkeit kennen.

Das ist im Regelfall nicht anzunehmen, da Beschäftigte normalerweise in die Zahlungslage ihres Arbeitsgebers keinen Einblick haben. Es reicht auch nicht aus, wenn sie wissen, dass ihr Arbeitgeber auch gegenüber Arbeitskollegen im Zahlungsverzug ist. BAG, Urteil vom 6.10.2011, 6 AZR 732/10

Rückzahlung nur bei Absicht, andere Gläubiger zu benachteiligen

Zahlt der Arbeitgeber Beschäftigten Arbeitsentgelt für Arbeitsleistungen, die sie in den vorhergehenden 3 Monaten erbracht haben, reicht nicht einmal die Kenntnis des Arbeitnehmers von der Zahlungsunfähigkeit aus. Dann muss der zahlungsunfähige Arbeitgeber zum einen die Absicht haben, andere Gläubiger durch die Zahlung an den Arbeitnehmer zu benachteiligen. Zum anderen muss dem begünstigten Arbeitnehmer diese Absicht bekannt sein. BAG, Urteil vom 29.01.2014, 6 AZR 345/12

In diesem Fall kann der Insolvenzverwalter also in der Regel die gezahlte Vergütung nicht zurückverlangen (sog. Bargeschäftsprivileg, § 142 Insolvenzordnung).

Rückforderung bei unüblicher Zahlungsweise und nach Zwangsvollstreckung

Grundsätzlich gilt also: der Arbeitnehmer, der von der Krise des Unternehmens nichts weiß, erhält seinen Lohn "gutgläubig" und ist deshalb gegen Rückforderungen des Insolvenzverwalters geschützt. Zwei Ausnahmen zu Lasten der Arbeitnehmer sind in der Rechtsprechung des BAG anerkannt:

Zahlt der Arbeitgeber in der kritischen Zeit, also 3 Monate vor dem Insolvenzantrag und danach, den Lohn über einen "unüblichen Zahlungsweg" müssen die Arbeitnehmer Verdacht schöpfen, dass es mit der Zahlungsfähigkeit des Unternehmens schlecht steht.

Ein nicht üblicher Weg kann beispielsweise die Überweisung des Arbeitsentgelts über das Konto eines Dritten (zum Beispiel das Konto der Ehefrau des Arbeitgebers) sein, wenn der Arbeitgeber darüber bisher nie Zahlungen an seine Beschäftigte vorgenommen hat. BAG, Urteil vom 13.11.2014, 6 AZR 868/13 BAG, Urteil vom 22.10.2015, 6 AZR 538/14
Entscheidend ist für das BAG: Wird der Lohn auf einem unüblichen Weg gezahlt, lässt das allein das geschützte Vertrauen des Arbeitnehmers entfallen; der Insolvenzverwalter muss nicht mehr nachweisen, dass der Arbeitnehmer die Zahlungsunfähigkeit tatsächlich kannte.

Beschäftigte müssen die Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers nicht kennen

Kann man für den Wegfall des schutzwürdigen Vertrauens bei Lohnzahlungen auf ungewöhnlichem Weg noch Verständnis haben, sieht das bei der zweiten Ausnahme anders aus:
Zurückgefordert werden können nach Ansicht des BAG nämlich auch Lohnzahlungen, die im Rahmen von Maßnahmen der Zwangsvollstreckung erfolgt sind. Auch dann kommt es nicht darauf an, ob die Arbeitnehmer die Zahlungsunfähigkeit ihres Arbeitgebers kennen. Entscheidend ist allein, ob der Arbeitgeber unter dem Druck einer unmittelbar drohenden Zwangsvollstreckung die Zahlungen geleistet hat.

Das wird der Realität in Arbeitsverhältnissen in keiner Weise gerecht!

Rückforderung kann weit in die Vergangenheit reichen

Ist der Arbeitgeber mit der Zahlung von Lohn im Rückstand, wird der Arbeitgeber nach erfolgreicher Klage zur Zahlung des Lohns an den Arbeitnehmer verurteilt. Zahlt der Arbeitgeber trotzdem nicht, müssen Zwangsvollstreckungsmaßnahmen eingeleitet werden.

Arbeitnehmer wissen, wenn sie ihre Lohnforderungen im Rahmen der Zwangsvollstreckung durchsetzen, häufig nichts über die Zahlungsunfähigkeit und eine drohende Insolvenz ihres Arbeitgebers.

Es gibt Arbeitgeber, die im Konflikt mit einem Arbeitnehmer prinzipiell nicht freiwillig zahlen; das kann Ausdruck von Trotz oder Ärger sein, lässt aber gerade nicht immer darauf schließen, dass der Arbeitgeber gar nicht zahlen kann. Der Insolvenzverwalter kann die erhaltenen Beträge nach Ansicht des BAG trotzdem zurückverlangen, weil es auf die Kenntnis der Beschäftigten nicht ankommt.

Das haben die Erfurter Bundesrichter kürzlich in zwei Entscheidungen bestätigt:

Arbeitgeber erfüllt die Lohnforderung nach Vollstreckung
1. Fall Bundesarbeitsgericht (BAG)

BAG, Urteil vom 20.9.2017, 6 AZR 58/16
Herr B war bis zum 3. Mai 2010 als Fahrer bei der Fa. A beschäftigt. Für die Zeit vom 1. März bis zum 3. Mai stand ihm noch Lohn in Höhe von insgesamt 3.071,42 € zu. Am 11.01.2011 verurteilte das Arbeitsgericht Aachen die Fa. A zur Zahlung des rückständigen Lohnes.

Da A nicht zahlte, erteilte B am 21.09.2011 Vollstreckungsauftrag. Es wurde daraufhin eine Ratenzahlungsvereinbarung getroffen. Die letzten beiden Raten von insgesamt 1.737,44 € leistete A dem B am 29.05.2012 und 04.06.2012.

Auf Antrag vom 30.07.2012 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der A am 16.10.2016 eröffnet und Rechtsanwalt I zum Insolvenzverwalter bestellt. Dieser hat die Zahlungen von 1.737,44 € angefochten (§ 131 Abs. 1 Nr. 2 Insolvenzordnung) und von B die Rückzahlung verlangt.

Rückzahlungsforderung des Insolvenzverwalters war erfolgreich

Die Ratenzahlungen vom Mai und Juni 2012 fielen in die kritische Zeit; d.h. in die letzten 3 Monaten vor dem Insolvenzantrag vom 30.7.2012. Die Tatsache, dass B Vollstreckungsauftrag vor der kritischen Zeit gestellt hatte, half dem Arbeitnehmer nicht. Nach Auffassung des BAG war der Insolvenzverwalter dennoch zur Anfechtung und Rückforderung berechtigt. Das sei deshalb zulässig, weil der Arbeitnehmer die Zahlungen im Wege der Zwangsvollstreckung durchgesetzt und der Arbeitgeber sie zur Abwendung der Zwangsvollstreckung erbracht hatte.

Auch bei einer Ratenzahlungsvereinbarung vor der kritischen Zeit musste A damit rechnen, dass der B die Vereinbarung widerruft, wenn er die Raten nicht pünktlich zahlt. Er stand also unter fortwährendem Vollstreckungsdruck, so dass Ratenzahlungen, die in die kritische Zeit fallen, vom Insolvenzverwalter zurückgefordert werden können.

Rückzahlung von Ausbildungsvergütung
2. Fall Bundesarbeitsgericht (BAG)

BAG, Urteil vom 26.10.2017, 6 AZR 511/16
B war vom 1. August 2008 bis Ende Januar 2012 bei der Fa. A Auszubildender für den Beruf als Metallbauer. Die Ausbildungsvergütung betrug zuletzt 495,20 € brutto. Wegen rückständiger Vergütungen schlossen der B und die A beim Arbeitsgericht einen Vergleich, in dem A sich verpflichtete, B noch insgesamt 2.800 € netto zu zahlen.

A zahlte erst im Dezember 2012 und Januar 2013, nachdem ein vorläufiges Zahlungsverbot und ein Pfändungs- und Überweisungsbeschluss erlassen worden waren. Am 15.9.2014 wurde über das Vermögen der A Insolvenz eröffnet und Rechtsanwalt I zum Insolvenzverwalter bestellt.

Insolvenzanträge aus 2014 und 2010

Im Beschluss des Amtsgerichts sind als Grundlage für die Insolvenzeröffnung neben zwei Anträgen aus 2014 durch das Finanzamt und die Fa. A selbst ausdrücklich auch ein weiterer Antrag angegeben, nämlich ein Antrag der Deutschen Rentenversicherung. Dieser stammte bereits vom 7.10.2010.

Der Insolvenzverwalter verlangt von B die gezahlten Ausbildungsvergütungen zurück.

Ob die Zahlungen der B nach dem Insolvenzantrag, also in der sog. kritischen Zeit, erfolgten, hängt davon ab, ob schon auf den ersten Antrag der Deutschen Rentenversicherung aus dem Jahre 2010 abzustellen ist; die späteren Anträge könnten dem Insolvenzverwalter nicht helfen, weil die Zahlungen an A lange vor den Anträgen aus dem Jahr 2014 erfolgt waren.

Insolvenzantrag vom 7.10.2010 war maßgeblich

Das BAG entschied, dass es für die Beurteilung maßgeblich auf den Insolvenzantrag aus dem Jahr 2010 ankam, obwohl dieser mehr als 2 Jahre vor der Zahlung der rückständigen Ausbildungsvergütung gestellt worden war. Denn der erste zulässige und begründete Antrag ist entscheidend (§ 139 Abs. 2 Satz 1 Insolvenzordnung). Da das Amtsgericht ihn nicht abgewiesen hatte, stellte er immer noch die Grundlage für die eröffnete Insolvenz dar.
Er ist zeitlich auch nicht begrenzt (§ 139 Abs. 2 Insolvenzordnung). Dass der entscheidende Antrag bereits 3 Jahre zurücklag, war deshalb unerheblich.

Die an B geleisteten Zahlungen aus den Jahren 2012 und 2013, die zur Vermeidung einer unmittelbar bevorstehenden Vollstreckung aus dem Pfändungs- und Überweisungsbeschluss erfolgten, lagen damit zeitlich nach dem Insolvenzantrag aus dem Jahr 2010.

Kenntnis der Arbeitnehmer vom Insolvenzantrag unbeachtlich

Nach bestehender Gesetzeslage war allein maßgeblich, dass die Zahlung nach Stellung des maßgeblichen Insolvenzantrags erfolgt war. Auf Kenntnis der Arbeitnehmer hiervon kam es nicht an.


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Gesetzliche Reform des Insolvenzrechts erforderlich

Beide Entscheidungen zeigen die Härte, die für Arbeitnehmer entsteht, werden sie mit Rückzahlungsforderungen des Insolvenzverwalters konfrontiert. 

 

Zum einen handelt es sich um Vergütungen für Arbeitsleistungen, die erbracht und für die Arbeitnehmer in der Regel Existenzgrundlage sind. Zum anderen machen die dargestellten Fälle deutlich, wie weitreichend das Anfechtungsrecht des Insolvenzverwalters gesetzlich ausgestaltet ist und daher dringend einer arbeitnehmerschützenden Einschränkung bedarf. 

Bisherige Reformpläne gescheitert

Ein in dieser Richtung zielender Gesetzentwurf (Bundestagsdrucksache 18/7054) ist von der bis September 2017 regierenden Großen Koalition nicht weiter verfolgt und deshalb nicht Gesetz geworden. Der Entwurf enthielt die Klarstellung (in § 131 Abs. 1 Satz 2 Insolvenzordnung), dass der Insolvenzverwalter nicht schon deshalb Rückzahlung verlangen kann, weil der Arbeitgeber Zahlungen im Rahmen der Zwangsvollstreckung oder zu deren Abwendung geleistet hat. 

 

Das BAG nimmt in der Entscheidung vom 26.10.2017 die gescheiterten Reformpläne (bedauernd) zur Kenntnis. Es sieht sich deshalb aber als verpflichtet an, zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber sich gegen eine derartige Regelung entschieden hat Bundestagsdrucksache 18/11199, S. 10 f.

Gravierende Nachteile für Arbeitnehmer 

Die Folgen, die aus einer den Arbeitnehmerschutz unbeachtet lassenden gesetzlichen Regelung entstehen, werden in den Entscheidungen des BAG besonders deutlich. Arbeitnehmer müssen danach sogar noch Jahre nach erfolgter Zahlung mit einer für sie überraschenden Insolvenz ihres ehemaligen Arbeitgebers und daraus entstehenden Rückzahlungsforderungen rechnen. 

 

Im ersten Fall des BAG lagen Zwangsvollstreckung und Ratenzahlungsvereinbarung ca. 10 Monate vor Insolvenzeröffnung. Der 2. Fall ist noch erheblich krasser, da ein Insolvenzantrag maßgeblich war, der mehr als 2 Jahre vor Zahlung der Ausbildungsvergütung gestellt worden war. 

 

Letztlich bedeutet das, dass Arbeitnehmer, die Forderungen gegenüber ihrem Arbeitgeber im Wege der Zwangsvollstreckung durchsetzen, zeitlich unbegrenzt mit Rückforderungsansprüchen rechnen müssen. 

Keine ausreichende Sicherung durch Insolvenzgeld

Fatal ist dies vor allem deshalb, weil regelmäßig davon ausgegangen wird, dass Arbeitnehmer durch Insolvenzgeld abgesichert sind. 

 

Insolvenzgeld wird für ausstehendes Arbeitsentgelt der letzten 3 Beschäftigungsmonate vor der Insolvenzeröffnung gezahlt. Der Antrag auf Insolvenzgeld ist jedoch fristgebunden (2 Monate nach Insolvenzeröffnung: § 324 Abs. 3 Satz 1 SGB III).  

Insolvenzgeldantrag wird bei Zahlung gar nicht gestellt

Arbeitnehmer, die fehlende Vergütungen im Wege der Zwangsvollstreckung erhalten, haben in der Regel keinen Anlass, Insolvenzgeld zu beantragen, wenn sie keine Kenntnis von einem bereits gestellten Insolvenzantrag haben und Zahlungen erhalten. 

 

Zum anderen ist dem Insolvenzgeldantrag die Grundlage entzogen, sobald bei vorsorglich beantragtem Insolvenzgeld Zahlungen durch den Arbeitgeber geleistet worden sind. 

Empfehlungen bei ausstehendem Arbeitsentgelt

  • Insolvenzgeld bei der Agentur für Arbeit sollte bereits dann beantragt werden, wenn Zahlungsverzug besteht, spätestens bei erforderlich werdenden Zwangsvollstreckungsmaßnahmen. 
  • Weiterhin sollten Arbeitnehmer den Insolvenzgeldantrag auch dann aufrechterhalten, wenn rückständige Vergütungen gezahlt werden, da auch Jahre später noch Rückzahlungsforderungen des Insolvenzverwalters begründet sein können. Ist dann aber der fristgebundene Insolvenzgeldantrag zurückgenommen, könnte ein erneuter Antrag als verspätet zurückgewiesen werden.
    Haben Arbeitnehmer dagegen eine abweisende Entscheidung der Agentur für Arbeit erhalten, verbleibt immerhin noch die Möglichkeit, die Rücknahme des inzwischen unanfechtbar gewordenen Verwaltungsakts (§ 44 SGB X) zu verlangen, wenn der Insolvenzverwalter zur Rückzahlung des erhaltenen Arbeitsentgelts berechtigt ist. 
  • Jedenfalls aber sollten Arbeitnehmer, die vom Insolvenzverwalter ein Anfechtungsschreiben, also die Aufforderung erhalten, Arbeitsentgelt zurückzuzahlen, spätestens dann reagieren und innerhalb von 2 Monaten nach Erhalt dieses Schreibens Insolvenzgeld beantragen (§ 324 Abs. 3 Satz 2 SGB III). Diese Notwendigkeit ergibt sich aus einer Entscheidung des Landessozialgerichts Essen vom 25.02.2016 (AZ: L 9 AL 70/14