Das beklagte Unternehmen ist in der Automobillogistik tätig 
© Adobe Stock - Von Michael O'Keene
Das beklagte Unternehmen ist in der Automobillogistik tätig © Adobe Stock - Von Michael O'Keene

Neumann war in der Tarifkommission und wurde langsam ungeduldig. Seit über einem Jahr immer wieder neue Verhandlungen, obwohl alle Forderungen auf dem Tisch lagen. Es gab Entwürfe, die immer wieder angepasst wurden. Er meint, Corona kann ja nicht für jede Verzögerung herhalten.

 

Hinhaltetaktik der Arbeitgeberin 

Auch die Belegschaft hatte die Hinhaltetaktik satt. Bei der letztlichen Tarifverhandlung in einem Metallcontainer auf dem Firmengelände gab es für alle Beteiligte etwas auf die Ohren. Denn die Belegschaft klopfte mehr oder weniger rhythmisch auf den Container während drinnen noch verhandelt wurde.

 

Und tatsächlich, das Tarifwerk wurde von beiden Parteien an diesem Tag unterzeichnet.

  

Tarifvertrag Corona-Beihilfe im Kfz-Dienstleistungsgewerbe

 

Etwa ein Jahr später gab es im Kfz-Dienstleistungsgewerbe NRW erstmalig die tarifliche Vereinbarung einer Corona-Beihilfe. Jede*r Vollzeitbeschäftigte hatte danach im August 2021 einen Anspruch auf 500 € netto.

 

Das gilt doch auch für uns, denkt Neumann.

 

Gilt hier dieser "neue" Tarifvertrag?

Das ist die spannende Frage. Das Tarifwerk bei Neumanns Firma enthielt eine Klausel, wonach alle Abkommen, Zusatzabkommen, etc… sowie alle neuen Tarifverträge die zwischen den genannten Vertragsparteien für das Tarifgebiet Kfz-Dienstleistungen in NRW vereinbart werden, gelten sollten.

 

Unzweifelhaft ist der umstrittene Tarifvertrag neu, weil er erst Monate nach dem Anerkennungstarifvertrag in Kraft trat und es bisher einen solchen Tarifvertrag nicht gab.

   

Streit um brisante Klausel

Über den Sinn des Wortlauts kann man hier nicht streiten, er ist eindeutig. Nur bei Juristen ist oft das anscheinend eindeutige nicht immer das Ergebnis. Die Klausel muss ausgelegt werden, unter anderem ob sie zum Rest der Vereinbarungen z.B. im Widerspruch steht.

 

Eine solche typischerweise von der IG Metall verwendete textgleiche Klausel stand schon bei einem anderen Haustarifvertrag auf dem Prüfstand. Da wurde über drei Instanzen über die Auslegung und Widersprüche innerhalb des Haustarifvertrages gestritten.

Letztlich entschied das Bundesarbeitsgericht (Urteil vom 11.11.20, 4 AZR 210/20), dass beim dortigen Haustarifvertrag entgegen der Meinung der Vorinstanzen, der neue Tarifvertrag gilt. Die hier zuständige Kammer des Arbeitsgerichts Bonn war dort Vorinstanz und hatte die Klausel vormals anders ausgelegt.

 

Betriebsräte klagen

Die Firma war zur Zahlung nicht bereit. Da es sich um individuelle Zahlungsansprüche handelt, musste jeder Einzelne klagen. Neumann ging mit seinem Betriebsräteteam voran, und es wurde zusätzlich außergerichtlich eine Einigung getroffen, dass eine Geltendmachung gegenüber dem Arbeitgeber ausreicht und nicht alle Arbeitnehmer*innen klagen müssen.

 

Bei gleichem Sachverhalt sind Pilotverfahren sinnvoll. Es sollten dennoch mehrere Personen klagen. Falls jemand die Stelle wechselt, wegen Krankheit ausscheidet, etc. sollte ein solches grundsätzliches Verfahren nicht kippen. Da bot es sich hier an, dass Neumann mit seinem Team klagte.

 

Arbeitsgericht Bonn gibt Klagen statt

Das Arbeitsgericht Bonn sprach den Klagenden die Prämie zu. Im Verhandlungstermin hat die gut vorbereitete Richterin keinen Hehl daraus gemacht, dass sie die BAG-Entscheidung für einschlägig hielte. Dies obwohl das BAG ihr früheres anderslautendes Urteil zu dieser Klausel aufgehoben hatte. Die brisante Klausel war wortgleich. Zwar war sie in Absätzen anders gefasst, sodass nur eine enge Auslegung möglich sei.

Nach der Gesamtbetrachtung kam die Kammer zu dem Ergebnis, dass neue Tarifverträge, die finanzielle Ansprüche normieren, von der Klausel erfasst sind.

 

Streiklärm und Nichtlesen ändert nichts

Der Prozessvertreter der Firma, der für die Arbeitgeberin in der Tarifkommission saß, berief sich mehr oder weniger darauf, dass der Anhang mit der strittigen Klausel quasi untergeschoben wurde. Wegen der besonderen Situation mit dem Streiklärm sei nicht erfasst worden, dass hier eine den Verhandlungen zu widerstehende Klausel eingefügt war. So hätte man das nicht unterschrieben. Die finanziellen Auswirkungen seien immer wieder durchgerechnet worden, eine Black-Box für die Zukunft habe man nicht unterschreiben wollen.

Er räumte ein, dass dieser Änderungstarifvertrag als Anhang einer Mail über drei Wochen vorher beigefügt war. Das habe er aber nicht gelesen. Dazu schreibt das Gericht: „Dass die Beklagte während der laufenden Verhandlungen von Tarifverträgen nicht alle ihre übersandten Tarifverträge prüft, sondern diese unterzeichnet hat, ohne zuvor etwaige Auswirkungen geprüft zu haben, kann nicht dazu führen, dass die unterzeichneten Tarifverträge keine Anwendung finden.“ Das war deutlich.

 

Chronologie half Neumann und dem Betriebsräteteam

Die IG Metall hatte schon im ersten Anschreiben die Aufnahme von Tarifverhandlungen mit dem Ziel gefordert, den Manteltarifvertrag und den Entgelttarifvertrag Kfz-Dienstleistungen NRW zu übernehmen sowie ein Überleitungsabkommen zu schließen. Zwar gab es einen Entwurf ohne die strittige Klausel, aber spätestens 25 Tage vor dem unterschriebenen Vertrag lag der Tarifkommission der Arbeitgeberin genau der Entwurf vor, wie er nachher unterzeichnet wurde.

Daher musste das Gericht die Situation am Tag der Unterschrift gar nicht mehr gesondert bewerten, vielleicht auch deshalb, weil die Arbeitgebertarifkommission selber noch mitteilte, dass das Ergebnis noch von der Konzernzentrale abgesegnet werden müsse.

Man scheint also auch nach der Unterschrift nicht noch einmal gelesen oder geprüft zu haben.

 

Steuer-und Sozialversicherungsfreiheit läuft aus

Im Termin Mitte Februar wurde von der Richterin darauf hingewiesen, dass die Regelung zur Steuerfreiheit der Corona-Beihilfe zu Ende März auslaufen. Das Urteil würde schnell vorliegen, damit die Beklagte die Chance hätte, die Steuerfreiheit und damit Sozialversicherungsfreiheit noch mit Auszahlung im März zu nutzen. Andernfalls hätten noch Schadensersatzansprüche hinsichtlich der anfallenden Arbeitnehmerabgaben im Raum gestanden.

 

Die Richterin hielt Wort, schon am 3. März lagen die Urteilsgründe vor.

 

Tolles Ergebnis: Beihilfe für alle

Es wurde keine Berufung von der Arbeitgeberin eingelegt. Mit der Märzabrechnung haben nicht nur die klagenden Betriebsräte, sondern alle Anspruchsberechtigten die Corona-Beihilfe in Höhe von 500 € bekommen. Aufgrund der Schnelligkeit des Gerichts konnte und wurde noch netto gezahlt. Hier hat sich ein geschlossenes, abgestimmtes Vorgehen eines engagierten Betriebsratsteams ausgezahlt.

Das sagen wir dazu:

Wir predigen gebetsmühlenartig in unseren Beratungen: bloß nichts unterschreiben, was man nicht gelesen oder verstanden hat. Unterschriften bedeuten eine rechtliche Bindung, das sollte für jeden gelten.

Dass der rechtliche Vertreter eine arbeitgeberseitige Tarifkommission übersendete Unterlagen nicht liest, dafür hatte auch das Gericht kein Verständnis. Und es gab die Quittung mit dem für die Arbeitnehmer*innen positiven Urteil.