Die Geschäfte liefen nicht mehr so gut, das entschloss sich die Autofirma, zu schließen. © Adobe Stock: bluedesign
Die Geschäfte liefen nicht mehr so gut, das entschloss sich die Autofirma, zu schließen. © Adobe Stock: bluedesign

Gleich zehn Urteile erstritten die Jurist*innen des DGB Rechtsschutzbüros Oldenburg. Die Beklagte des Verfahrens betrieb ein Autohaus und beabsichtigte eine Betriebsstilllegung. Den betroffenen Beschäftigten kündigte sie zum 31. Oktober 2022. Hintergrund der beabsichtigten Betriebsstilllegung war die Kündigung eines Händlervertrages durch den Automobilhersteller im Oktober 2020 zum Oktober 2022. Verhandlungen über einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat führte die Beklagte nicht.

 

Die Beklagte verweigerte den Nachteilsausgleich

 

In Unternehmen mit der Regel mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern hat der Unternehmer den Betriebsrat über geplante Betriebsänderungen, die wesentliche Nachteile für die Belegschaft oder erhebliche Teile der Belegschaft haben könnten, rechtzeitig und umfassend zu unterrichten und die geplanten Betriebsänderungen mit dem Betriebsrat zu beraten. So bestimmt es § 111 BetrVG.

 

Einen Nachteilsausgleich zahlte die Beklagte nicht. Die Beschäftigten erhoben daraufhin mit Unterstützung des gewerkschaftlichen Rechtsschutzes Klage beim Arbeitsgericht. Die Beklagte hätte über einen Interessenausgleich verhandeln müssen, so die Kläger*innen. Die Autofirma habe dies unter Hinweis darauf abgelehnt, die gesetzlich geforderte Mindestzahl von 20 regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer*innen sei im Betrieb nicht erreicht.

 

Die Parteien stritten über die Anzahl der Beschäftigten

 

Die Parteien waren sich über die Entwicklung der Beschäftigtenzahlen von 2020 bis 2022 uneins. Nach Auffassung der Kläger*innen war von einer regelmäßigen Beschäftigtenzahl auszugehen, die bei über 20 wahlberechtigten Arbeitnehmer*innen lag.

 

Die Beklagte berechnete demgegenüber lediglich 17 wahlberechtigte Arbeitnehmer*innen. Aufgrund der allgemeinen Krise des Kfz-Gewerbes sei es zu einem erheblichen Rückgang in den Bereichen Verkauf, Service und Reparatur gekommen. Der Betriebsaufwand habe sich daher reduziert mit der Folge eines dauerhaften Rückgangs des Personalbedarfs. Schon 2021 seien Mitarbeiter*innen ausgeschieden, ohne dass es zu Neueinstellungen gekommen wäre.

 

Ein weiteres Indiz für einen fehlenden Ersatzbedarf sah der Arbeitgeber darin, dass im Zeitraum von Oktober 2021 bis März 2022 die Zahl der Überstunden wesentlich gesunken sei.

 

Der Zeitpunkt der unternehmerischen Entscheidung entscheidet nicht allein

 

Das Arbeitsgericht Oldenburg verurteilte den Arbeitgeber zur Zahlung der eingeklagten Beträge. Der Anspruch auf Nachteilsausgleich ergebe aus §§ 112 Abs. 3 BetrVG, 10 Kündigungsschutzgesetz (KSchG).

         

Entgegen der Auffassung der Beklagten stelle die Stilllegung des Betriebes eine Betriebsänderung im Sinne des § 111 BetrVG dar, weil von mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern auszugehen sei.

 

Zeitpunkt für die Feststellung der Anzahl der wahlberechtigten Arbeitnehmer*innen in einem Betrieb sei grundsätzlich die unternehmerische Entscheidung, welche der Betriebsänderung zugrunde liege. Die Beklagte habe im Verfahren vorgetragen, die Entscheidung zu Betriebsstilllegung sei Anfang des Jahres 2022 erfolgt. Zu diesem Zeitpunkt hätte sie bereits nicht mehr als 20 Beschäftigte gehabt.

 

Für die Berechnung der Anzahl der wahlberechtigten Beschäftigten stelle das Gesetz jedoch auf keinen ganz bestimmten Zeitpunkt ab. Deutlich werde dies dadurch, dass die "regelmäßige Anzahl" der Beschäftigten maßgeblich sei. Es komme damit nicht entscheidend darauf an, wie viele Arbeitnehmer*innen dem Betrieb zufällig zur Zeit der unternehmerischen Entscheidung angehörten.

 

Maßgebliches Kriterium ist die normale Zahl der Beschäftigten

 

Wesentlich sei vielmehr die normale Zahl der Beschäftigten, also die Personalstärke, die für den Betrieb im Allgemeinen kennzeichnend sei. Das erfordere regelmäßig sowohl einen Rückblick als auch eine Prognose. Im Fall der Stilllegung des gesamten Betriebes oder eines Betriebsteils könne allerdings im allgemeinen nur ein Rückblick auf die bisherige Belegschaftsstärke in Betracht kommen.

 

Ausgehend davon habe die Klägerseite eine Aufstellung der Mitarbeiterzahl von 2014-2022 vorgelegt. Die Beklagte habe deren Richtigkeit nicht bestritten. Aufgrund dieser Liste stehe fest, dass die Zahl der wahlberechtigten Arbeitnehmer*innen im entsprechenden Zeitraum stets über 20 gelegen habe.

 

Veränderungen der Belegschaftsstärke aufgrund einer vorübergehenden Reduzierung oder Erhöhung der Auslastung fänden so lange keine Berücksichtigung, als sich hieraus nicht ein Hinweis auf eine eigenständige unternehmerische Entscheidung herleiten lasse, den Betrieb unabhängig von weiteren Veränderungen des Betriebsaufwandes mit einer reduzierten Belegschaft fortzuführen. Erst in diesem Fall müsste die nunmehrige Belegschaft sozusagen die neue "Normalstärke" darstellen.

 

Vorübergehender Arbeitsrückgang verändert normale Belegschaft nicht

 

Nur so sei eine rechtssichere Handhabung hinsichtlich der Voraussetzungen einer Betriebsänderung und der daraus folgenden Beteiligungsrechte des Betriebsrates möglich. Die Beklagte habe im Verfahren auf einen Arbeitsrückgang in den Bereichen Autohandel, Service und Werkstatt infolge der Corona-Pandemie verwiesen. Ungeachtet der tatsächlichen Fortdauer der Corona-Pandemie habe es sich dabei zunächst um anfängliche Prognosen über eine vorübergehende Reduzierung des Aufwandes gehandelt.

 

Das gelte umso mehr, als zwischen der statistischen Erfassung der Infektionszahlen einerseits und den daraus folgenden Konsequenzen hinsichtlich des Betriebsablaufes andererseits differenziert werden müsse. Spielten Zutrittsverbote aktuell keine Rolle mehr und gebe es auch keine weiteren Anforderungen im Hinblick auf Impfung oder Testung, mache dies deutlich, dass die Auswirkungen der Corona-Pandemie stetigen Veränderungen unterworfen seien. Eine auf seriöse Prognosen gestützte betriebliche Planung sei damit nahezu unmöglich.

 

Stellenbesetzungsstopp sollte Kündigungen vorgehen

 

Das Gericht verstand den Vortrag der Beklagten dahingehend, dass - wie viele andere Unternehmen auch - die Beklagte die Fluktuation in ihrem Unternehmen dazu benutzt habe, freiwerdende Arbeitsplätze nicht nach zu besetzen. Das sei nachvollziehbar. Dieses Vorgehen schaffe mehr Akzeptanz bei den Mitarbeitern*innen als betriebsbedingte Kündigungen.

 

Die Veränderungen im Betriebsaufwand durch die Corona-Pandemie seien so zu verstehen, dass die Beklagte schlichtweg eine weitere Entwicklung abgewartet habe, um insbesondere im Fall der Normalisierung der Auftragslage zügig Ersatzeinstellungen vornehmen zu können. Diese Strategie realisierten derzeit zahlreiche Branchen der Wirtschaft.

 

Eine Krise in der Kfz-Branche hielt das Gericht für glaubhaft

 

Die Beklagte habe im Verfahren außerdem auf die Krise im Kfz-Gewerbe abgestellt. Dabei werde nicht deutlich, ob die Beklagte darauf mit einer neuen Betriebsstruktur oder einer neuen Gestaltung der Betriebsabläufe bzw. des Arbeitsaufwandes reagiert habe. Im Kfz-Handel seien die Zulassungszahlen durchaus Schwankungen unterworfen. Aus der Krise im Kfz-Handel lasse sich aber noch nicht darauf schließen, dass jedwede Änderung der Belegschaftsstärke in dem Sinn relevant wäre, dass hieraus eine zukünftige neue sogenannte normale Belegschaftsstärke angenommen werden könne.

 

Ein weiterer Gesichtspunkt sei die Kündigung des Händlervertrages durch den Automobilhersteller im Oktober 2020 zum Oktober 2022. Hierin sei wohl die Hauptursache für die unternehmerische Entscheidung der Beklagten für die Betriebsstilllegung Ende Oktober 2022 zu sehen.

 

Die Belegschaftsstärke im Jahr 2021 habe jedoch derjenigen des Jahres 2020 entsprochen. 2021 seien sogar andere Mitarbeiter*innen hinzugekommen. Damit komme die Kündigung des Händlervertrages allein nicht als aussagekräftige Ursache dafür in Betracht, dass im Jahr 2022 eine Reduzierung der Mitarbeiterzahl stattgefunden habe. Nachdem die Beklagte verschiedene Arbeitsplätze bis Anfang 2021 zunächst nachbesetzt hätte, habe sie erst im Lauf des Jahres 2021 und 2022 damit begonnen, das Ausscheiden verschiedener Mitarbeiter nicht mehr zu kompensieren.

 

Die Entwicklung der Beschäftigtenzahlen bis 2021 gab den Ausschlag

 

Das Arbeitsgericht Oldenburg legt die normale Belegschaftsstärke der beklagten Automobilfirma auf mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmer*innen fest. Damit hätte die Unternehmensleitung mit dem Betriebsrat über einen Nachteilsausgleich beraten müssen.

 

Das Betriebsverfassungsgesetz gibt in dieser Situation Arbeitnehmer*innen das Recht, Klage beim Arbeitsgericht zu erheben (§ 113 Abs. 1 BetrVG) mit dem Antrag, den Arbeitgeber zur Zahlung einer Abfindung zu verurteilen. Voraussetzung dafür ist, dass der Arbeitgeber von einem Interessenausgleich über eine geplante Betriebsänderung ohne zwingenden Grund abweicht und sie infolgedessen entlassen werden. Die Höhe der Abfindung berechnet sich nach dem Kündigungsschutzgesetz und ist nach der Dauer der Betriebszugehörigkeit sowie den Jahren der Betriebszugehörigkeit gestaffelt.

 

Das Gericht bestätigte die Berechnungen der Kläger*innen

 

Bedenken gegen die arbeitnehmerseitig eingereichten Berechnungen hatte das Arbeitsgericht nicht. Das Ausmaß des betriebsverfassungswidrigen Verhaltens des Arbeitgebers hatten die Kläger*innen bei ihren Berechnungen berücksichtigt. Eine in Betracht kommende Reduzierung der Abfindung im Blick auf eine Rentennähe der Beschäftigten oder die allgemeine wirtschaftliche Lage des Unternehmens seien demgegenüber nicht geboten und veranlassten das Arbeitsgericht eben so wenig zu einer weiteren Reduzierung der Abfindungshöhe, wie etwaige krankheitsbedingte Fehlzeiten.

 

Hier geht es zum Urteil des Arbeitsgerichts Oldenburg.

 

Rechtliche Grundlagen

§ 111 BetrVG, § 113 BetrVG, § 10 KSchG

§ 111 BetrVG
In Unternehmen mit in der Regel mehr als zwanzig wahlberechtigten Arbeitnehmern hat der Unternehmer den Betriebsrat über geplante Betriebsänderungen, die wesentliche Nachteile für die Belegschaft oder erhebliche Teile der Belegschaft zur Folge haben können, rechtzeitig und umfassend zu unterrichten und die geplanten Betriebsänderungen mit dem Betriebsrat zu beraten. (…)


§ 113 BetrVG
(1) Weicht der Unternehmer von einem Interessenausgleich über die geplante Betriebsänderung ohne zwingenden Grund ab, so können Arbeitnehmer, die infolge dieser Abweichung entlassen werden, beim Arbeitsgericht Klage erheben mit dem Antrag, den Arbeitgeber zur Zahlung von Abfindungen zu verurteilen; § 10 des Kündigungsschutzgesetzes gilt entsprechend.
(2) Erleiden Arbeitnehmer infolge einer Abweichung nach Absatz 1 andere wirtschaftliche Nachteile, so hat der Unternehmer diese Nachteile bis zu einem Zeitraum von zwölf Monaten auszugleichen.
(3) Die Absätze 1 und 2 gelten entsprechend, wenn der Unternehmer eine geplante Betriebsänderung nach § 111 durchführt, ohne über sie einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versucht zu haben, und infolge der Maßnahme Arbeitnehmer entlassen werden oder andere wirtschaftliche Nachteile erleiden.


§ 10 KSchG
(1) Als Abfindung ist ein Betrag bis zu zwölf Monatsverdiensten festzusetzen.
(2) Hat der Arbeitnehmer das fünfzigste Lebensjahr vollendet und hat das Arbeitsverhältnis mindestens fünfzehn Jahre bestanden, so ist ein Betrag bis zu fünfzehn Monatsverdiensten, hat der Arbeitnehmer das fünfundfünfzigste Lebensjahr vollendet und hat das Arbeitsverhältnis mindestens zwanzig Jahre bestanden, so ist ein Betrag bis zu achtzehn Monatsverdiensten festzusetzen. Dies gilt nicht, wenn der Arbeitnehmer in dem Zeitpunkt, den das Gericht nach § 9 Abs. 2 für die Auflösung des Arbeitsverhältnisses festsetzt, das in der Vorschrift des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch über die Regelaltersrente bezeichnete Lebensalter erreicht hat.
(3) Als Monatsverdienst gilt, was dem Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit in dem Monat, in dem das Arbeitsverhältnis endet (§ 9 Abs. 2), an Geld und Sachbezügen zusteht.