Viele Menschen verlassen die Kirchen, weil sie deren Gottesglauben nicht teilen. Das heißt aber nicht zwingend, dass sie auch ethische Grundsätze ablehnen. Copyright by lettas/Adobe Stock
Viele Menschen verlassen die Kirchen, weil sie deren Gottesglauben nicht teilen. Das heißt aber nicht zwingend, dass sie auch ethische Grundsätze ablehnen. Copyright by lettas/Adobe Stock

Eigentlich keine weltbewegende Angelegenheit: Religion ist Privatsache und an welchem Gott ich glaube oder ob ich überhaupt an einen glaube, geht niemanden etwas an. Erst recht nicht meinem Arbeitgeber. Er darf mich nicht benachteiligen oder gar kündigen, nur weil ich in Glaubensangelegenheiten seine Auffassung nicht teile. Schließlich ist Religionsfreiheit ein Grundrecht. Artikel 4 des Grundgesetzes (GG) bestimmt, dass die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses unverletzlich sind.
 

Kirchen mögen nicht, wenn ihre Beschäftigten nicht wie vorgeschrieben glauben

Kirchliche Einrichtungen reagieren bei ihren Beschäftigten aber eher empfindlich, wenn sie keiner oder der falschen Religionsgemeinschaft angehören. So auch eine evangelische Einrichtung der Jugend- und Behindertenhilfe aus Baden-Württemberg, die verschiedene Formen von Wohngruppen für autistische Menschen betreibt.
 
Die Einrichtung kündigte einer pädagogische Mitarbeiterin, weil sie aus der Kirche ausgetreten war. Die Pädagogin war vor allem zuständig dafür, das Zusammenleben in den Wohngruppen zu fördern. Sie sollte dazu beitragen, dass die Mitglieder der Gruppen ihren Alltag zu bewältigen lernten. Für die Arbeit hatte es eigentlich gar keine Bedeutung, ob die Mitarbeiterin Mitglied der evangelischen Kirche ist. Einen religiösen Bildungsauftrag hatte sie nicht. Sie ist weder Diakonin noch Theologin und Ihre Aufgabe war es nicht, die kirchliche Weltanschauung zu verkünden. An der guten pädagogischen Arbeit bestand nie ein Zweifel.
 

Es stand nie in Frage, dass die Pädagogin die ethischen Werte der Kirche teilt

Allerdings steht die Pädagogin auch ohne Mitgliedschaft in der Kirche zu deren Werten wie Offenheit, Toleranz, Autonomie, Solidarität und Achtung der Menschenwürde. Sie stand auch stets hinter dem Leitbild der Einrichtung und nahm an kirchlichen Andachten und Veranstaltungen zu kirchlichen Feiertagen Teil. Sie teilte allein den Gottesglauben nicht mit der Kirche.
 
Das reichte der Einrichtung aber für eine Kündigung. Sie hielt die Mitgliedschaft in der Kirche für einen elementaren Wesensbestandsteil des Arbeitsverhältnisses. Die Tätigkeit der Klägerin sei der Verkündigung/Seelsorge und der evangelischen Bildung zuzuordnen und eng mit dem Ethos der evangelischen Kirche verbunden.
 

Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen rechtfertig allein keine Ungleichbehandlung

Die Kolleg*innen unseres Büros in Stuttgart vertraten die Pädagogin in ihrem Kündigungsschutzverfahren vor dem Arbeitsgericht und bekamen recht. Das Gericht stellte fest, dass die Einrichtung nicht berechtigt war, das Arbeitsverhältnis zu kündigen und zwar weder aus personen- noch verhaltensbedingten Gründen.
 
Zwar sei das Gericht auch nach Europäischem Recht nicht befugt zu überprüfen, ob das Ethos einer Religionsgemeinschaft legitim sei. Es müsse lediglich das Selbstbestimmungsrecht der Kirche mit dem Recht der Arbeitnehmer ausgleichen, vor Diskriminierung geschützt zu werden. Das Selbstbestimmungsrecht allein könne eine Benachteiligung von Arbeitnehmern, die nicht Mitglied der Kirche seien, nicht rechtfertigen. Die kirchliche Einrichtung hätte vielmehr konkret darlegen müssen, warum es erheblich oder wahrscheinlich ist, dass das kirchliche Ethos oder das Selbstbestimmungsrecht der Kirche dadurch beeinträchtigt ist, dass die Klägerin nicht deren Mitglied ist.
 
Bei der alltäglichen Arbeit der Klägerin erscheine es nicht notwendig, dass sie das Selbstverständnis der Beklagten nach außen bekunde. Die Klägerin leiste keinen seelsorgerischen Beistand und auch keine Lebenshilfe, entscheidend sei die Alltagsbewältigung der Klienten.
 
Hier geht es zur Entscheidung des Arbeitsgerichts Stuttgart

Das sagen wir dazu:

Arbeitgebern geht meine private Lebensführung, mein Glaube oder meine politische Auffassung nichts an, soweit ich nicht gegen Gesetze verstoße und mich in der Öffentlichkeit nicht so verhalte, dass es den Arbeitgeber schädigt. Ob ich an Gott glaube oder nicht, ist allein meine Privatangelegenheit. Jedenfalls dann, wenn die Verkündung meines Glaubens nicht zu meinem Arbeitsaufgaben gehört. Ein Pfarrer, der nicht an Gott glaubt und den Ethos seines kirchlichen Arbeitgebers ablehnt, wird schwerlich Pfarrer bleiben können.

Ob ich Mitglied der Kirche bin, sagt nichts darüber aus, ob ich deren Grundsätze teile

Der Ethos bezeichnet die sittliche Gesinnung einer Person oder einer Gemeinschaft. Er ist daher grundsätzlich unabhängig vom Glauben an Gott. Die Pädagogin im beschriebenen Fall hat sich eindeutig zu den ethischen Grundsätzen der Einrichtung bekannt: zu deren Werten wie Offenheit, Toleranz, Autonomie, Solidarität und Achtung der Menschenwürde. Umgekehrt signalisiert die Mitgliedschaft in der Kirche noch nicht, welche ethischen Grundsätze das Mitglied verfolgt. Es gibt auch eher evangelikal denkende Kirchenmitglieder mit einem eher überkommenden missionarischen Anspruch, der an ethischen Grundsätzen wie Menschenwürde und Toleranz zweifeln lässt.

Der größere Skandal liegt aber in dem Umstand, dass nach unserem Verständnis von kirchlicher Selbstbestimmung, Kirchen gleichsam ihr eigenes Recht schaffen.

In Arbeitsverhältnissen gilt das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Dessen Ziel ist es unter anderem, Benachteiligungen wegen der Religion zu beseitigen. Allerdings relativiert § 9 AGG dieses Ziel. „wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft oder Vereinigung im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht oder nach der Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt.“

Kirchen wollen selbst bestimmen, was Recht ist

Kirchen bestimmen in Deutschland im Grunde ihr eigenes Arbeitsrecht, das sich zum Teil erheblich vom gesetzlichen Arbeitsrecht unterscheidet. Diese Sonderstellung hatte bereits die Weimarer Reichsverfassung (WRV) den Kirchen eingeräumt. Artikel 137 Absatz 3 WRV bestimmte: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde.“ Artikel 140 GG bestimmt u.a., dass diese Regelung auch Gegenstand des Grundgesetzes wird.

Wir hatten mehrfach über Fälle berichtet, in denen kirchliche Einrichtungen Mitarbeiter*innen wegen eines Verstoßes gegen den kirchlichen „Ethos“ gekündigt hatten. Jahrelang lief etwa das Kündigungsschutzverfahren eines Chefarztes, den ein katholisches Krankenhaus aufgrund seiner Scheidung und Wiederheirat gekündigt hatte.

Hierzu unsere Beiträge
Kirchliches Arbeitsrecht noch zeitgemäß?
Kirchliches Arbeitsrecht: Bundesverfassungsgericht kassiert Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts!
Eine schier unendliche Geschichte!
BAG stärkt Rechte von Arbeitnehmer*innen in kirchlichen Einrichtungen

Kurz zusammengefasst: die unendliche Geschichte des Chefarztes

Der Chefarzt hatte in allen drei Instanzen der Arbeitsgerichtsbarkeit Recht bekommen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte indessen einer Verfassungsbeschwerde des Krankenhauses stattgegeben. Allein die Kirchen selbst könnten bestimmen, was die jeweilige Glaubensüberzeugung gebiete. Es obliege im Rahmen ihres Selbstbestimmungsrechts allein der jeweiligen Kirche, aus ihren religiösen Überzeugungen heraus selbst festzulegen, welche Loyalitätserwartungen sie an ihre Mitarbeiter stelle. Erst auf einer zweiten Prüfungsstufe hätten die Gerichte das Selbstbestimmungsrecht der Kirche gegen die Grundrechte der Arbeitnehmer*innen abzuwägen. Das BVerfG hatte die Sache hinsichtlich der zweiten Prüfungsstufe an das BAG zurückverwiesen.

Das BAG hatte die Sache dann dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgelegt, da Europäisches Recht betroffen war. Der EuGH hält in seiner Entscheidung vom September 2018 klargestellt, dass eine Ungleichbehandlung wegen des Glaubens eines Beschäftigten nur dann gerechtfertigt sein könne, wenn die Religion oder die Weltanschauung im Hinblick auf die Art der betreffenden beruflichen Tätigkeiten oder die Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts dieses Ethos sei. Auf Grundlage dieser Entscheidung hat das BAG dann mit Urteil vom Februar 2019 dem Chefarzt neun Jahre nach der Kündigung endlich Recht gegeben.

Europäischer Gerichtshof: Ob eine Bestimmung der Kirche dem Europäischen Recht genügt, müssen Gerichte entscheiden

Der EuGH hat in seiner Entscheidung vom September 2018 darauf hingewiesen, dass nicht ausschließlich anhand des nationalen Rechts bestimmt werden kann, ob die Regelung einer Kirche oder einer anderen Organisation, inwieweit sich ihre Beschäftigten loyal und aufrichtig verhalten, rechtmäßig ist. Sie muss auch die Bestimmungen von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 der Europäischen Union und die dort genannten Kriterien berücksichtigen, deren Einhaltung einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle nicht entzogen sein darf.

Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht, das im Grundsatz auch nach dem europäischen Recht gilt, kann also nicht so weit gehen, dass die Kirchen sich nicht an geltendes –europäisches-Recht halten müssen.

Kein rechtsfreier Raum für die Kirchen!

Es gehört also ein alter Zopf abgeschnitten. Es kann nicht sein, dass Kirchen selbst bestimmen können, welche Rechte ihre Beschäftigten haben. Zwar gilt das Kündigungsschutzgesetz in kirchlichen Einrichtungen auch. Viele wichtige arbeitsrechtliche Normen gelten aber nicht. Dazu gehört das Betriebsverfassungsgesetz. Statt eines Betriebsrates gibt es in diesen Einrichtungen Mitarbeitervertretungen mit sehr eingeschränkten Rechten. Die Arbeitsbedingungen werden in der Regel nicht durch Tarifverträge bestimmt, sondern im sogenannten „dritten Weg“ durch paritätisch besetzte Gremien. Streiks mit dem Ziel, Forderungen der Arbeitnehmer*innen in diesen Verhandlungen durchzusetzen, sind nach Auffassung der Kirchen nicht erlaubt, weil sie unvereinbar mit dem „Dienst am Nächsten“ sein sollen. Welche Überheblichkeit der Kirchen!

Was sie in ihrer pastoralen Terminologie als „Dienst am Nächsten“ bezeichnen ist doch nichts anderes als Eintreten für Solidarität und Menschenrechte, wie es andere Organisationen auch machen. Krankenhäuser anderer Träger etwa, das Rote Kreuz und nicht zuletzt die Gewerkschaften.

Historisch begründet ist die kirchliche Selbstbestimmung in der Trennung von Kirche und Staat. Und diese Trennung ist auch richtig und gut. In Glaubensdingen soll sich der Staat heraushalten. Aber nicht bei der Frage, wie Kirchen und kirchliche Einrichtungen mit ihren Beschäftigten umgehen. Das Evangelium können Kirchen frei von staatlicher Beeinflussung auch verkünden, wenn das deutsche Arbeitsrecht ohne Ausnahme auch für sie gilt.

Rechtliche Grundlagen

§ 9 AGG Zulässige unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder Weltanschauung

(1) Ungeachtet des § 8 ist eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung bei der Beschäftigung durch Religionsgemeinschaften, die ihnen zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform oder durch Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Religion oder Weltanschauung zur Aufgabe machen, auch zulässig, wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft oder Vereinigung im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht oder nach der Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt.
(2) Das Verbot unterschiedlicher Behandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung berührt nicht das Recht der in Absatz 1 genannten Religionsgemeinschaften, der ihnen zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform oder der Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Religion oder Weltanschauung zur Aufgabe machen, von ihren Beschäftigten ein loyales und aufrichtiges Verhalten im Sinne ihres jeweiligen Selbstverständnisses verlangen zu können.