Welcher Sachverhalt lag dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts zugrunde?

 

Die Parteien streiten über den Zeitpunkt der Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses.

 

Die Beklagte betreibt eine Restaurantkette. Der 1977 geborene Kläger war seit dem 10.02.1999 in einer ihrer Niederlassungen als Servicekraft tätig. Auf das Arbeitsverhältnis fanden aufgrund einzelvertraglicher Inbezugnahme die Bestimmungen des jeweils gültigen Manteltarifvertrags für Arbeitnehmer der Systemgastronomie (MTV) Anwendung.

 

§ 14 MTV in der Fassung vom 23.10.2007 enthält Regelungen zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Gemäß § 14 Nr. 1 Satz 1 MTV richtet sich die Kündigungsfrist nach der Betriebszugehörigkeit. Für gewerblich Beschäftigte beträgt sie nach fünfjähriger Betriebszugehörigkeit einen Monat zum Monatsende und nach zehnjähriger Betriebszugehörigkeit drei Monate zum Monatsende (§ 14 Nr. 1 Satz 3 MTV). Für Angestellte gelten längere Fristen (§ 14 Nr. 1 Satz 4 MTV).

 

Laut § 14 Nr. 1 Satz 5 MTV werden bei der Berechnung der Betriebszugehörigkeit »entsprechend § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB Beschäftigungszeiten, die vor Vollendung des 25. Lebensjahres liegen, nicht berücksichtigt«. Gemäß § 14 Nr. 2 MTV ist das Arbeitsverhältnis nach einer Betriebszugehörigkeit von zehn Jahren und Vollendung des 55. Lebensjahres durch den Arbeitgeber nur noch aus wichtigem Grund kündbar. Davon ausgenommen sind Änderungskündigungen und Kündigungen bei Betriebsänderungen.

 

Mit Schreiben vom 27.03.2009 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien wegen beabsichtigter Schließung eines ihrer Restaurantbetriebe »fristgemäß mit Wirkung zum nächstmöglichen Zeitpunkt«; dies sei ihren Berechnungen zufolge der 30.04.2009.

 

Der Kläger hat fristgerecht Kündigungsschutzklage erhoben und geltend gemacht, die Beklagte habe die maßgebliche Kündigungsfrist nicht eingehalten. Bei deren Berechnung seien auch die Zeiten vor Vollendung seines 25. Lebensjahres zu berücksichtigen. § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB sei unionsrechtswidrig und unanwendbar. Für die arbeitsvertraglich in Bezug genommene Tarifregelung könne nichts anderes gelten. Das Arbeitsverhältnis habe damit keinesfalls vor dem 30.06.2009 geendet.

 

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, das Arbeitsverhältnis sei durch die Kündigung mit Ablauf des 30.04.2009 aufgelöst worden. Die tarifvertragliche Kündigungsfristenregelung sei insgesamt wirksam. Sie halte sich in den Grenzen des den Tarifvertragsparteien durch § 622 Abs. 4 BGB eröffneten Gestaltungsspielraums. Die Nichtberücksichtigung von Beschäftigungszeiten, die vor Vollendung des 25. Lebensjahres lägen, sei sachlich gerechtfertigt. Sie trage einem branchentypischen Flexibilisierungsinteresse Rechnung und ziele darauf, die Beschäftigung jüngerer Arbeitnehmer in der Systemgastronomie zu fördern. Die Erwägungen des Europäischen Gerichtshofs zu § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB seien nicht auf die fraglichen tariflichen Regelungen übertragbar. Da diese Bestimmungen aufgrund einzelvertraglicher Inbezugnahme gelten, müsse zudem der Grundsatz der Vertragsfreiheit Beachtung finden. Überdies habe sie - die Beklagte - auf die Wirksamkeit der Vereinbarungen vertraut und sei insoweit schutzwürdig.

 

Das Arbeitsgericht hat festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung vom 27.03.2009 erst mit Ablauf des 30.06.2009 beendet worden ist. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihr Begehren weiter, die Klage insgesamt abzuweisen.

 

Wie hat das Bundesarbeitsgericht entschieden?

 

Das Bundesarbeitsgericht wies die Revision der beklagten Arbeitgeberin zurück. Die Vorinstanzen haben zutreffend entschieden, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht zum 30.04. aufgelöst worden ist, sondern bis zum 30.06.2009 fortbestanden hat.

 

Der Kläger war im maßgebenden Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung länger als zehn Jahre bei der Beklagten bzw. ihrer Rechtsvorgängerin beschäftigt. Das führt auf der Grundlage der arbeitsvertraglich in Bezug genommenen Tarifregelung des § 14 Nr. 1 Satz 3 MTV zu einer Kündigungsfrist von drei Monaten zum Monatsende. Bei der Berechnung der Beschäftigungsdauer sind entgegen § 14 Nr. 1 Satz 5 MTV auch die Zeiten zu berücksichtigen, die vor der Vollendung des 25. Lebensjahres des Klägers liegen. Die tarifliche Anrechnungsvorschrift ist ebenso wie die gesetzliche Bestimmung des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB unionsrechtswidrig und gelangt auf das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht zur Anwendung.

 

Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat darauf erkannt, dass das Unionsrecht, insbesondere das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf dahin auszulegen ist, dass es einer Regelung wie § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB entgegensteht, nach der vor Vollendung des 25. Lebensjahres liegende Beschäftigungszeiten des Arbeitnehmers bei der Berechnung der Kündigungsfrist nicht berücksichtigt werden (EuGH 19.01.2010 - C-555/07 - [Kücükdeveci] Rn. 43). Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts ist § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB damit unanwendbar, wenn der zu entscheidende Sachverhalt in den sachlichen und zeitlichen Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/78/EG fällt. Diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Im Streit stehen die Wirkungen einer im Jahr 2009 erklärten Kündigung. Zu diesem Zeitpunkt war die für die Bundesrepublik Deutschland bis zum 02.12.2006 verlängerte Umsetzungsfrist abgelaufen.

 

Die Beklagte kann sich für die Nichtberücksichtigung von Beschäftigungszeiten, die vor Vollendung des 25. Lebensjahres des Klägers liegen, nicht erfolgreich auf § 14 Nr. 1 Satz 5 MTV berufen. Das gilt unabhängig davon, ob die fragliche Tarifregelung einen rein deklaratorischen Hinweis auf die gesetzliche Bestimmung des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB enthält oder ob sie - wie die Beklagte meint - von einem eigenständigen Normsetzungswillen der Tarifvertragsparteien getragen ist. Es liegt nahe, die Tarifregelung als lediglich deklaratorischen Verweis auf § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB zu verstehen. In diesem Fall teilt sie das rechtliche Schicksal der gesetzlichen Bestimmung und ist wie diese unanwendbar. Der Verweis ginge ins Leere.
Selbst wenn zugunsten der Beklagten unterstellt wird, die Tarifregelung solle eine eigenständige Anrechnungsvorschrift darstellen, führte dies zu keinem anderen Ergebnis. Dann wäre die tarifvertragliche Regelung wegen Verstoßes gegen das durch § 7 Abs. 1, § 1 AGG konkretisierte Verbot der Altersdiskriminierung nach § 7 Abs. 2 AGG unwirksam. Denn Bestimmungen in Vereinbarungen, die gegen dieses Benachteiligungsverbot verstoßen, sind nach § 7 Abs. 2 AGG unwirksam. Zu den Vereinbarungen iSv. § 7 Abs. 2 AGG zählen neben Arbeitsverträgen auch Tarifverträge, und zwar auch dann, wenn sie vor Inkrafttreten des AGG abgeschlossen wurden.

 

Die Unanwendbarkeit von § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB und die Unwirksamkeit der Regelung in § 14 Nr. 1 Satz 5 MTV bewirken eine »Anpassung nach oben« dergestalt, dass bei der Berechnung der tariflichen Kündigungsfristen sämtliche im Betrieb oder Unternehmen zurückgelegten Beschäftigungszeiten Berücksichtigung finden.

 

Daran ändert auch die Ansicht der Beklagten nichts, die Regelungen des MTV seien auf das Arbeitsverhältnis nicht unmittelbar und zwingend, sondern aufgrund einzelvertraglicher Vereinbarung zur Anwendung gelangten. Sie verkennt, dass die Möglichkeit, bezüglich der Kündigungsfrist individualrechtlich hinter dem Gesetz zurückbleibende Vereinbarungen zu treffen, abgesehen von § 622 Abs. 5 BGB überhaupt nur im Rahmen einer einzelvertraglichen Übernahme einschlägiger tarifvertraglicher Regelungen besteht (§ 622 Abs. 4 Satz 2 BGB). Sind die in Bezug genommenen Tarifvorschriften wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht unwirksam, schlägt dies auf die vertragliche Vereinbarung durch.

 

Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 29.09.2011, 2 AZR 177/10