Amazon: Keine Rücksicht auf Gesundheit der Beschäftigten. Copyright by Adobe Stock/Pixavril
Amazon: Keine Rücksicht auf Gesundheit der Beschäftigten. Copyright by Adobe Stock/Pixavril

30. März 2020, Staten Island, New York: Christian S., langjähriger Mitarbeiter von Amazon, steht mit einigen Dutzend Kolleg*innen und einem Transparent mit der Aufschrift „Unsere Gesundheit ist ebenfalls unentbehrlich“ vor einer Lagerhalle von Amazon.
 
Der Grund dafür: Kurz zuvor hatten sich mehrere Beschäftigte in der Lagerhalle mit dem Coronavirus infiziert. Amazon sah dennoch keinen Grund, die Lagerhalle vorübergehend zu schließen, um sie gründlich zu reinigen. Etwa 5.000 Mitarbeiter sind dort beschäftigt.
 
Christian S. und seine Mitstreiter verlangen eine zweiwöchige Schließung der Lagerhalle und eine gründliche Desinfektion. Die Reaktion des Online-Handelsriesen: Er kündigt Christian S., weil er sich angeblich nicht an die Regeln des social distancing und Quarantäneauflagen gehalten habe.
 

Entlassung „unmoralisch und unmenschlich“

Christian S. sieht darin nur einen Vorwand, um einen missliebigen Mitarbeiter loszuwerden. Mit dieser Auffassung ist er nicht allein. Die Generalstaatsanwältin von New York hat die Entlassung als „unmoralisch und unmenschlich“ bezeichnet und angekündigt, den Vorfall gründlich zu untersuchen.
 
Sie rief zudem die Arbeitsschutzbehörde National Labor Relations Board zu weiteren Ermittlungen auf. Auch der New Yorker Bürgermeister Bill de Blasio hält Verstöße von Amazon gegen rechtliche Bestimmungen für möglich; er hat eine Untersuchung der Angelegenheit durch den Menschenrechtsbeauftragten der Stadt angeordnet.
 

Keine ausreichenden Schutzmaßnahmen für Mitarbeiter

Seit Beginn der Coronakrise hat sich das Auftragsvolumen des Online-Händlers enorm erhöht. Amazon spricht davon, 200.000 Mitarbeiter einzustellen, um die Aufträge zu abzuarbeiten. Auch der Arbeitsrhythmus hat sich deutlich gesteigert.
 
Die Beschäftigten haben in den Lager- und Sortierhallen wenig Möglichkeiten, einander aus dem Weg zu gehen. Die Spinde in den Umkleideräumen stehen dicht beieinander. Die Mitarbeiter*innen kommen täglich mit mehreren tausend Gegenständen in Berührung, die potentiell infiziert sein können.
 
Auch Durchgangsschleusen mit Drehkreuzen und Türklinken, die von vielen Mitarbeitern täglich angefasst werden, stellen eine Infektionsgefahr dar. Nach Angaben von Beschäftigten werden sie nicht regelmäßig desinfiziert.
 
Amazon gibt bislang auch keine Schutzkleidung wie Handschuhe und Mundschutz an die Mitarbeiter*innen heraus. Die Firma behauptet zwar, Kontakte zwischen den Beschäftigten zu entzerren. Weitere Details sind aber nicht bekannt; die Werke können auch nicht besichtigt werden.
 

ver.di kritisiert krankheitsbedingte Kündigungen bei Amazon.

Auch in Deutschland steht der Online- Händler in der Kritik. So hat das Unternehmen vor zwei Wochen erklärt, bis Ende April eine Anwesenheitsprämie von zwei Euro pro Arbeitsstunde zu zahlen. Das führe aber dazu, dass sich Beschäftigte in der Corona-Krisenzeit krank zur Arbeit schleppen und damit die Gesundheit ihrer Kolleg*innen gefährden, erklärte Orhan Akman, ver.di-Bundesfachgruppenleiter für den Einzel- und Versandhandel.
 
Amazon solle lieber die Gehälter erhöhen, um den Beschäftigten ein ausreichendes Einkommen zu sichern. Noch schlimmer sei es, so Akman, dass es bei Amazon selbst unter den jetzigen Bedingungen krankheitsbedingte Kündigungen gebe.
 
“Die Vorgehensweise des Konzerns zeigt, wie notwendig tarifvertragliche Regelungen über die Einkommen und den Gesundheitsschutz bei Amazon sind“, so Akman. Amazon weigert sich aber schon seit Jahren, Tarifverträge abzuschließen.
 
Lesen Sie hierzu auch:
ver.di  - Amazon: In Corona-Zeiten krank zur Arbeit? ver.di fordert mehr Rücksicht auf Gesundheit der Beschäftigten und tarifvertragliche Regelungen

Das sagen wir dazu:

Es ist schon erstaunlich: Schulen, Universitäten, öffentliche Einrichtungen und Geschäfte werden geschlossen, um eine Verbreitung des Coronavirus zu vermeiden. Die Bundesregierung und die Regierungen der Bundesländer fordern die Bürger*innen auf, zu Hause zu bleiben und sich nur dann nach draußen zu begeben, wenn ein triftiger Grund dafür vorliegt. Durch Rechtsverordnungen und Allgemeinverfügungen werden Sanktionen für Zuwiderhandlungen festgelegt.

Ein völlig anderes Bild stellt sich in Produktions- und Großhandelsfirmen, aber auch in den Geschäften des Einzelhandels dar: Die Unternehmen muten ihren Beschäftigten zwar nicht in allen Fällen, aber doch an vielen Orten zu, auf engem Raum und ohne ausreichende Schutzmaßnahmen zu arbeiten. Ein „rechtsfreier Raum“, könnte man meinen.

Amazon ist nicht allein

Dabei ist Amazon nicht das einzige Unternehmen, dessen Arbeitsbedingungen kritisiert werden. Auch in Call-Centern, Paket-Zustellerdiensten und sonstigen Lieferdiensten grassiert unter den Mitarbeiter*innen die Angst, sich zu infizieren. So sitzen in Call-Centern oft ein Dutzend Mitarbeiter*innen oder mehr in einem Raum. Paketzusteller*innen oder Auslieferer von Lieferdiensten kommen mit Kunden in Berührung, oft ohne durch eine Schutzkleidung gesichert zu sein. Social distancing, wie es von der Politik gefordert wird, ist unter diesen Umständen nicht möglich.

Oft haben diese Unternehmen keine Betriebsräte, die darauf drängen könnten, dass Schutzmaßnahmen eingeführt und eingehalten werden. Wenn einzelne Mitarbeiter*innen sich beschweren, geraten sie oft unter Druck, wie das Beispiel bei Amazon zeigt. Es ist dringend erforderlich, dass der Gesetzgeber für die Unternehmen verbindliche Regelungen aufstellt, um die Mitarbeiter zu schützen.

Tarifvertragliche Regelungen erforderlich

Genauso wichtig ist es, die Arbeitsbedingungen und Maßnahmen für den Gesundheitsschutz rechtsverbindlich in Tarifverträgen zu regeln, wie Orhan Akman von der ver.di fordert. Es bleibt zu hoffen, dass sich diese Einsicht nicht nur bei den Arbeitgebern, sondern auch bei den Kunden der Online-Händler durchsetzt.