Auch nach langer Krankheit kann es wieder aufwärts gehen
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Die Klägerin ist 40 Jahre alt, ledig und hat zwei minderjährige Kinder. Sie arbeitet seit 2006 als Verkäuferin in einer Drogerie.

 

Im Mai 2019 erkrankte sie arbeitsunfähig.

 

Die Arbeitsunfähigkeit dauerte lange an

 

Der Arbeitgeber lud die Klägerin in den Jahren 2019, 2020 und 2021 zu einem Betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) sowie zu Mitarbeiter- bzw. Fürsorgegesprächen ein. Die Gespräche konnten durch die Klägerin nicht wahrgenommen werden oder coronabedingt nicht stattfinden.

 

Im Januar 2020 suchte die Klägerin auf Einladung des Arbeitgebers den Betriebsarzt auf.

Ergebnis war, dass sie sich zum damaligen Zeitpunkt noch in ärztlicher Behandlung befand, jedoch in absehbarer Zeit mit einer Aufnahme ihrer Tätigkeit zu rechnen sei.

 

Es vergingen dann zwei Jahre. Im Februar 2022 forderte der Arbeitgeber die Klägerin auf, einen Termin beim Betriebsarzt zu machen. Ein Termin wurde vereinbart, die Klägerin sagte diesen aber aus gesundheitlichen Gründen ab. Einen Nachholtermin gab es nicht.

 

Arbeitgeber spricht krankheitsbedingte Kündigung aus

 

Im April 2022 bewilligte die Deutsche Rentenversicherung Bund der Klägerin eine

Integrationsmaßnahme Teamwork als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben. Diese findet von Juli 2022 bis Juni 2023 statt.

 

Im Mai 2022 hörte der Arbeitgeber den Betriebsrat an, um das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin krankheitsbedingt zu kündigen. Der Betriebsrat gab keine Stellungnahme ab. Es folgte die Kündigung zu Ende Oktober 2022.

 

Prüfung einer krankheitsbedingten Kündigung

 

Ob eine Kündigung, die auf eine lang anhaltende Erkrankung gestützt wird, sozial gerechtfertigt ist, ist in drei Stufen vorzunehmen. Zunächst ist eine negative Prognose zum Gesundheitszustand des erkrankten Arbeitnehmers erforderlich. Zum Zeitpunkt der Kündigung muss objektiv betrachtet davon auszugehen sein, dass die Erkrankung noch länger andauert. Die prognostizierten Fehlzeiten müssen dann auf zweiter Stufe zu einer erheblichen Beeinträchtigung betrieblicher Interessen führen.

 

Auf dritter Stufe sind zu guter Letzt die Interessen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer gegeneinander abzuwägen. Eine Kündigung ist gerechtfertigt, wenn die Interessenabwägung ergibt, dass die betrieblichen Beeinträchtigungen den Arbeitgeber unzumutbar belasten.

 

Interessenabwägung fällt zugunsten der Arbeitnehmerin aus

 

Das Arbeitsgericht Aachen kam zu einer für die Klägerin positiven Entscheidung.

 

Das Gericht ließ in diesem Fall offen, ob eine negative Gesundheitsprognose auf der ersten Stufe besteht, die auf der zweiten Stufe zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Belange führt. Denn jedenfalls die Interessenabwägung falle zu Gunsten der Klägerin aus. Im Zeitpunkt der Kündigung Mitte Mai 2022 sei es für den Arbeitgeber nicht unzumutbar gewesen, das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin fortzusetzen.

 

Mildere Mittel als eine krankheitsbedingte Kündigung

 

Eine personenbedingte Kündigung, wozu auch die wegen Krankheit gehört, ist unverhältnismäßig und damit rechtsunwirksam, wenn sie als Mittel nicht geeignet oder nicht erforderlich ist. Eine Kündigung ist nicht durch Krankheit oder andere Gründe in der Person bedingt, wenn es angemessene mildere Mittel zur Vermeidung oder Verringerung künftiger Fehlzeiten gibt. Mildere Mittel können insbesondere die Umgestaltung des bisherigen Arbeitsbereichs oder die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers auf einem anderen Arbeitsplatz sein.

 

Darüber hinaus kann der Arbeitgeber aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verpflichtet sein, dem Arbeitnehmer vor einer Kündigung die Chance zu bieten, Behandlungsmaßnahmen zu ergreifen, um dadurch die Wahrscheinlichkeit künftiger Fehlzeiten auszuschließen.

 

BEM spielt zentrale Rolle bei der Verhältnismäßigkeit

 

Für eine Kündigung ist das betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) keine formelle Voraussetzung. Das BEM ist auch nicht selbst ein milderes Mittel gegenüber der Kündigung. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung spielt die Durchführung des Verfahrens jedoch eine besondere Rolle. Mit Hilfe des BEM können mildere Mittel als die Beendigung des Arbeitsverhältnisses erkannt und entwickelt werden.

 

Das BEM ist ein rechtlich regulierter Verlaufs- und ergebnisoffener Suchprozess, durch den individuell angepasste Lösungen ermittelt werden sollen, um zukünftige Arbeitsunfähigkeit zu vermeiden.

Nach der Konzeption des Gesetzes lässt das BEM den Beteiligten bei der Prüfung, mit welchen Maßnahmen, Leistungen oder Hilfen das Arbeitsverhältnis erhalten bleiben kann, jeden denkbaren Spielraum zu. Als Hilfen, um Arbeitsunfähigkeit zu überwinden, kommen neben ärztlichen Maßnahmen zur Heilung auch gesetzliche Hilfen und Leistungen zur medizinischen Rehabilitation in Betracht.

 

Mindeststandards für die Unterrichtung und Datenschutz

 

Den Arbeitnehmer*innen muss verdeutlicht werden, dass es um die Grundlagen ihrer Weiterbeschäftigung geht und dazu ein ergebnisoffenes Verfahren durchgeführt werden soll, in das auch sie Vorschläge einbringen können. Daneben ist ein Hinweis zur Datenerhebung und Datenverwendung erforderlich, der klarstellt, dass nur solche Daten erhoben werden, deren Kenntnis erforderlich ist, um ein zielführendes, der Gesundung und Gesunderhaltung des Betroffenen dienendes BEM durchführen zu können. Den Betroffenen ist mitzuteilen, welche Krankheitsdaten als sensible Daten im Sinne der Datenschutzgrundverordnung erhoben und gespeichert und inwieweit und für welche Zwecke sie dem Arbeitgeber zugänglich gemacht werden.

 

Das Gericht hat diese Grundsätze angewendet und ist so zu dem Ergebnis gekommen, dass der Arbeitgeber kein ordnungsgemäßes BEM-Verfahren eingeleitet hat.

 

Bloßer Hinweis auf die Vertraulichkeit der Inhalte ist ungenügend

 

Die Einladungsschreiben des Arbeitgebers genügten nicht den gesetzlichen Vorgaben, so das Gericht.

Denn die Arbeitnehmerin wurde nicht darüber unterrichtet, welche Daten wie und wozu erfasst und verwendet würden. Das betrifft insbesondere die Gesundheitsdaten der Klägerin.

 

Keineswegs reiche die Angabe, wonach die Inhalte des BEM selbstverständlich vertraulich behandelt werden.

 

Doch noch ein anderer Aspekt war für das Gericht maßgeblich. Die Kündigung erweise sich als unverhältnismäßig, da der Arbeitgeber ein BEM vor Ausspruch der Kündigung jedenfalls nicht erneut eingeleitet und den Ausgang der der Klägerin bewilligten Maßnahme nicht abgewartet hat.

 

Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben bewilligt

 

Der Arbeitgeber hätte zunächst abwarten müssen, ob die ab Juli 2022 bewilligte Maßnahme zur Reintegration und Überwindung der Arbeitsunfähigkeit erfolgreich endet oder nicht. Denn bei erfolgreichem Abschluss der Integrationsmaßnahme wäre die langandauernde Arbeitsunfähigkeit überwunden gewesen, ohne das Arbeitsverhältnis kündigen zu müssen.

 

Eine Kündigung zeitlich bevor die Maßnahme durchgeführt und abgeschlossen wurde, war nach Ansicht des Gerichts nicht erforderlich und unverhältnismäßig.

 

Einjährige Dauer der Maßnahme spielt keine Rolle

 

Die Arbeitgeberseite hatte im Verfahren eingewendet, die Integrationsmaßnahme sei mit einem Jahr zu lange, um abzuwarten. Dem widersprach das Gericht. Die Dauer der Integrationsmaßnahme von einem Jahr ändere an der Unverhältnismäßigkeit der Kündigung nichts.

 

Auch den weiteren Einwand des Arbeitgebers, man habe von der Maßnahme nichts gewusst, hält das Gericht für unerheblich. Denn er wäre verpflichtet gewesen, der Klägerin vor Ausspruch der Kündigung (erneut) ein BEM anzubieten. In diesem hätten auch mögliche oder bereits bewilligte Maßnahmen der Deutschen Rentenversicherung zur Rehabilitation und Reintegration besprochen werden können.

 

Erfolgloses BEM war nicht zu erwarten

 

Dass das BEM erfolglos geblieben wäre, also keine Möglichkeit bestand, die Kündigung durch angemessene mildere Maßnahmen zu vermeiden, hat der Arbeitgeber nicht dargelegt. Der Erfolg der Maßnahme sei ungewiss, so sein Argument. Allein diese Ungewissheit über den Erfolg der Rehabilitationsmaßnahme reiche aber nicht aus, so das Gericht. Dass die Maßnahme objektiv nutzlos war, hat der Arbeitgeber nicht aufgezeigt und könnte dies auch sicher nicht.

 

Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig.

 

Arbeitsgericht Aachen, Urteil vom 27. September 2022 - 2 Ca 1346/22