Ein fremder Staat kann sich gegenüber der arbeitsrechtlichen Klage eines Angestellten seiner Botschaft nicht auf seine Immunität berufen, wenn der Angestellte Aufgaben verrichtet, die nicht unter die Ausübung hoheitlicher Befugnisse fallen. Das hat der Europäische Gerichtshof auf eine Anfrage des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg entschieden.
Welcher Sachverhalt lag dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs zu Grunde?
Herr Mahamdia, der die algerische und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, arbeitete für den algerischen Staat als Kraftfahrer bei der algerischen Botschaft in Berlin. Er hat vor den deutschen Gerichten Klage gegen seine Kündigung erhoben und verlangt eine Vergütung. Algerien macht demgegenüber geltend, dass es als fremder Staat in Deutschland von der Gerichtsbarkeit befreit sei; diese Immunität sei durch das Völkerrecht, wonach ein Staat nicht der Gerichtsbarkeit eines anderen Staates unterworfen werden könne, anerkannt. Außerdem beruft sich Algerien auf die in dem Arbeitsvertrag zwischen ihm und Herrn Mahamdia enthaltene Gerichtsstandsvereinbarung. Danach seien im Falle von Streitigkeiten ausschließlich die algerischen Gerichte zuständig.
In diesem Zusammenhang bat das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg den Gerichtshof um Auslegung der Verordnung Nr. 44/2011*, die Regelungen über die gerichtliche Zuständigkeit für individuelle Arbeitsverträge enthält. Diese Regelungen sollen dem Arbeitnehmer als der schwächeren Vertragspartei einen angemessenen Schutz gewährleisten. So kann der Arbeitnehmer den Arbeitgeber, wenn dieser seinen Wohnsitz außerhalb der Europäischen Union hat, vor den Gerichten des Mitgliedstaats verklagen, in dem sich die "Niederlassung" dieses Arbeitgebers befindet, in der der Arbeitnehmer seine Arbeit verrichtet.
Wie hat der Europäische Gerichtshof entschieden?
Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass eine Botschaft eines Drittstaats in einem Mitgliedstaat in einem Rechtsstreit über einen Arbeitsvertrag, den diese Botschaft im Namen des Entsendestaats geschlossen hat, eine "Niederlassung" im Sinne der Verordnung darstellt, wenn die von dem Arbeitnehmer verrichteten Aufgaben nicht unter die Ausübung hoheitlicher Befugnisse fallen.
Wie jede andere öffentliche Einrichtung könne eine Botschaft nämlich zivilrechtliche Rechte und Pflichten erwerben und übernehmen. Das ist der Fall, wenn sie Arbeitsverträge mit Personen schließt, die keine hoheitlichen Aufgaben verrichten. Darüber hinaus könne eine Botschaft einem Mittelpunkt geschäftlicher Tätigkeit gleichgestellt werden, der auf Dauer nach außen hervortritt. Außerdem weise eine Streitigkeit im Bereich der Arbeitsverhältnisse wie die vorliegende einen hinreichenden Zusammenhang mit dem Betrieb der betreffenden Botschaft in Bezug auf die Personalangelegenheiten auf.
Soweit sich Algerien auf Immunität beruft, stellt der Gerichtshof klar, dass diese Immunität nicht absolut gilt. Sie ist allgemein anerkannt, wenn der Rechtsstreit hoheitliche Handlungen betrifft. Sie kann hingegen ausgeschlossen sein, wenn sich der gerichtliche Rechtsbehelf auf Handlungen bezieht, die nicht unter die hoheitlichen Befugnisse fallen.
Was die in den Arbeitsvertrag von Herrn Mahamdia aufgenommene Klausel angeht, wonach im Falle von Streitigkeiten ausschließlich die algerischen Gerichte zuständig sind, wies der Gerichtshof darauf hin, dass die Verordnung Nr. 44/2001 die Möglichkeit beschränkt, von den in ihr enthaltenen Zuständigkeitsvorschriften abzuweichen (Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen). Eine vor Entstehung der Streitigkeit getroffene Gerichtsstandsvereinbarung darf den Arbeitnehmer nicht an der Anrufung der Gerichte hindern, die nach den Sonderbestimmungen dieser Verordnung für individuelle Arbeitsverträge zuständig sind. Andernfalls würde nämlich das Ziel, den Arbeitnehmer als schwächere Vertragspartei zu schützen, verfehlt. Folglich kann eine vor Entstehen einer Streitigkeit getroffene Gerichtsstandsvereinbarung lediglich dem Arbeitnehmer die Möglichkeit eröffnen, außer den nach der Verordnung Nr. 44/2001
normalerweise zuständigen Gerichten andere Gerichte, und zwar gegebenenfalls auch Gerichte außerhalb der Union, anzurufen.
Auswirkungen der Entscheidung auf die Praxis:
Dies ist ein Fall, dessen Praxisrelevanz auf den ersten Blick eher begrenzt sein dürfte.
Setzt ein Nationalstaat als Arbeitgeber Mitarbeiter in Deutschland ein, stellt sich die Frage, ob arbeitsrechtliche Streitigkeiten gegen diesen Nationalstaat vor deutschen Arbeitsgerichten ausgetragen werden können.
Der EuGH bejaht dies, wenn es sich um „normale“ Arbeitsverhältnisse handelt und nicht um hoheitliche Aufgaben. Ein Diplomat könnte daher nicht gegen seine Abberufung klagen, wohl aber eine Reinigungskraft, ein Kraftfahrer, ein Pförtner und andere Beschäftigte, die in einem zivilrechtlichen Arbeitsverhältnis stehen. Diese üben keine hoheitlichen Tätigkeiten aus; die staatliche Immunität greift daher nicht.
Die oben zitierte europäische Verordnung ist soweit eindeutig.
Für die Praxis interessanter ist wohl die Entscheidung des EuGH hinsichtlich der im Arbeitsvertrag vereinbarten Gerichtsstandsklausel. Nach dieser sollten ausschließlich algerische Gerichte zuständig sein.
Diese Klausel war wegen Verstoßes gegen vorgenannte Verordnung unwirksam. Der Arbeitnehmer wurde in seinem Recht, ein Gericht anzurufen, in unzulässiger Weise behindert. Dies ist freilich für sämtliche Fälle interessant, in denen ausländische Firmen Niederlassungen auf deutschem Staatsgebiet haben. Dort beschäftigten Mitarbeitern darf die Anrufung deutscher Arbeitsgerichte durch Gerichtsstandsklauseln in den Arbeitsverträgen nicht verwehrt werden.
Pressemitteilung des Gerichtshof der Europäischen Union vom 19.07.2012, Az: Rs. C 154/11