Die Verlängerung befristeter Arbeitsverträge kann auch dann durch einen Vertretungsbedarf gerechtfertigt sein, wenn sich dieser Bedarf als wiederkehrend oder sogar ständig erweist.

Welcher Sachverhalt lag dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs zu Grunde?


Frau Kücük war über einen Zeitraum von elf Jahren auf der Grundlage von insgesamt 13 befristeten Arbeitsverträgen beim Land Nordrhein-Westfalen als Justizangestellte im Geschäftsstellenbereich des Amtsgerichts Köln tätig. Alle diese Verträge wurden zur Vertretung unbefristet eingestellter Justizangestellter geschlossen, die sich vorübergehend (beispielsweise im Rahmen der Elternzeit) hatten beurlauben lassen. Ihr letzter befristeter Arbeitsvertrag wurde am 12. Dezember 2006 mit Laufzeit bis zum 31. Dezember 2007 geschlossen. Im Januar 2008 erhob sie Klage beim Arbeitsgericht Köln. Sie beantragte die Feststellung, dass zwischen ihr und dem Land Nordrhein-Westfalen ein unbefristetes Arbeitsverhältnis bestehe.
Nach § 16 des Teilzeit- und Befristungsgesetzes (TzBfG) sei dies der Fall, wenn eine Befristung rechtlich unwirksam ist. Die befristeten Verträge waren jeweils mit dem Sachgrund der vorübergehenden Vertretung eines Arbeitnehmers nach § 14 Abs. 1 Nr. 3 TzBfG begründet worden. Die Klägerin machte geltend, bei insgesamt 13 befristeten Arbeitsverträgen, die in einem Zeitraum von elf Jahren unmittelbar aneinander anschließen, könne  nicht mehr von einem vorübergehenden Bedarf an Vertretungskräften ausgegangen werden. Das Arbeitsgericht Köln hatte die Klage als unbegründet abgewiesen, das Landesarbeitsgericht (LAG) hatte diese Entscheidung in zweiter Instanz bestätigt. Dagegen hatte die Klägerin hat daher Revision zum Bundesarbeitsgericht (BAG) eingelegt.

Das BAG sah die Frage als entscheidungserheblich an, ob § 14 Abs. 1 Nr. 3 TzBfG mit dem höherrangigen europäischen Recht vereinbar ist.
Mit dem deutschen TzBfG soll nämlich auch die Richtlinie 1999/70/EG, die eine Rahmenvereinbarung der europäischen Sozialpartner über befristete Arbeitsverträge durchführt, in nationales Recht umgesetzt werden. Die so genannte EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge wurde vom Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) mit den Europäischen Arbeitgeberverbänden UNICE und CEEP geschlossen. Sie benennt ausdrücklich unbefristete Arbeitsverträge als den Regelfall des Beschäftigungsverhältnisses zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Die Richtlinie 1999/70/EG verpflichtet daher die Mitgliedstaaten, Maßnahmen ergreifen, um Missbräuche durch aufeinander folgende befristete Arbeitsverträge zu vermeiden. Zu diesen Maßnahmen gehört insbesondere die Festlegung "sachlicher Gründe", die die Verlängerung solcher Verträge rechtfertigen können.

Das BAG legte dem EuGH daher mit Beschluss vom 17.11.2010 - 7 AZR 443/09 die Frage vor, ob es mit § 5 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge vereinbar ist, § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 TzBfG dahin auszulegen und anzuwenden, dass ein die wiederholte Befristung eines Arbeitsvertrags rechtfertigender sachlicher Grund auch im Fall eines ständigen Vertretungsbedarfs gegeben ist, obwohl dieser Vertretungsbedarf durch eine unbefristete Einstellung des Arbeitnehmers gedeckt werden könnte, der Arbeitgeber sich aber vorbehält, jeweils neu zu entscheiden, wie er auf den konkreten Ausfall von Arbeitnehmern reagiert.

Wie hat der Europäische Gerichtshof entschieden?


Der EuGH entschied, dass die Verlängerung befristeter Arbeitsverträge kann auch dann durch einen Vertretungsbedarf gerechtfertigt sein, wenn sich dieser Bedarf als wiederkehrend oder sogar ständig erweist. Gleichzeitig machte der EuGH aber deutlich, dass der Einsatz aufeinander folgender befristeter Verträge unter Berücksichtigung ihrer Zahl und Gesamtdauer einer Missbrauchskontrolle unterzogen werden kann.

Aus dem bloßen Umstand, dass  ein Arbeitgeber gezwungen sein mag, wiederholt oder sogar dauerhaft auf befristete Vertretungen zurückzugreifen, und dass diese Vertretungen auch durch die Einstellung von Arbeitnehmern mit unbefristeten Arbeitsverträgen gedeckt werden könnten, folge weder, dass kein solcher sachlicher  Grund gegeben ist, noch das Vorliegen eines Missbrauchs. Automatisch den Abschluss unbefristeter Verträge zu verlangen, wenn die Größe des betroffenen Unternehmens oder der betroffenen Einrichtung und die Zusammensetzung des Personals darauf schließen lassen, dass der Arbeitgeber mit einem wiederholten oder ständigen Bedarf an Vertretungskräften konfrontiert ist, ginge über die Ziele hinaus, die mit der Rahmenvereinbarung der europäischen Sozialpartner verfolgt würden. Dadurch würde somit der Wertungsspielraum verletzt, der den Mitgliedstaaten und den Sozialpartnern eingeräumt wird.

Bei der Beurteilung der Frage, ob die Verlängerung eines befristeten Arbeitsvertrags im Einzelfall durch einen sachlichen Grund wie den vorübergehenden Bedarf an Vertretungskräften gerechtfertigt ist, kommt es jedoch nach dem EuGH auf alle Umstände des Einzelfalls einschließlich der Zahl und der Gesamtdauer der in der Vergangenheit mit demselben Arbeitgeber geschlossenen befristeten Verträge an. Damit setzt der EuGH einen neuen Maßstab für die Missbrauchskontrolle: Denn im deutschen Befristungsrecht stellen die Gerichte bei der Prüfung bisher nur auf den auf den letzten befristeten Arbeitsvertrag ab.


Auswirkungen der Entscheidung auf die Praxis:


Die deutsche Rechtsprechung wird sich auf der Grundlage dieses Urteils ändern müssen. Nach der bisherigen Praxis prüfen die Arbeitsgerichte bei Kettenarbeitsverhältnisses nur die Wirksamkeit des zuletzt abgeschlossenen befristeten Vertrags. Nach dieser neuen Entscheidung müssen die Gesamtumstände des Arbeitsverhältnisses berücksichtigt werden. Der EuGH ist zwar grundsätzlich der Auffassung, dass eine Befristung erlaubt sein kann, wenn sogenannte „Kettenarbeitsverträge“ mit immer neuen Sachgründen für eine Befristung abgeschlossen werden. Er hat deshalb auch keine zulässige Höchstdauer oder Höchstzahl für Befristungen festgelegt. Jedoch müssen bei der rechtlichen Beurteilung der Befristungen nunmehr alle Umstände des Falls einschließlich der Zahl und der Gesamtdauer der in der Vergangenheit mit demselben Arbeitgeber geschlossenen Arbeitsverträge berücksichtigt werden, um zu überprüfen, ob die Befristung rechtmäßig war. Dabei wird die Frage eine Rolle spielen, ob der Bedarf an einer Arbeitsleistung nur ein vorübergehender oder ein dauerhafter ist. Es kommt daher nicht nur auf eine rückblickende Beurteilung an, ob ein Sachgrund für eine Befristung tatsächlich vorgelegen hat, sondern auch auf eine Prognose ob auch zukünftig nur ein vorübergehender Bedarf bestehen wird.

 


Tjark Menssen