Bei der Ermittlung des Schwellenwerts von zwanzig Arbeitnehmern im Sinne von § 111 BetrVG, ab dem der Arbeitgeber mit dem Betriebsrat über einen Interessenausgleich beraten muss, sind Leiharbeitnehmer mit zu berücksichtigen, wenn sie länger als drei Monate im Unternehmen eingesetzt sind. Unterlässt der Arbeitgeber dies, steht gekündigten Arbeitnehmern ein Anspruch auf Nachteilsausgleich nach § 113 Abs. 3 BetrVG zu.

Welcher Sachverhalt lag dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts zu Grunde?


Die Parteien streiten über die Zahlung eines Nachteilsausgleichs. Der Kläger ist Bodenlegerhelfer. Er war bei der Beklagten, die ein Unternehmen betreibt, das sich mit dem Verkauf und dem Verlegen von Bodenbelägen befasst, seit November 2000 zu einem Stundenlohn von zuletzt 11,00 Euro brutto bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden angestellt. Die Beklagte beschäftigte bis Mai 2009 regelmäßig 20 eigene Arbeitnehmer. In der Zeit vom 3. November 2008 bis zum 15. September 2009 war bei ihr darüber hinaus eine Leiharbeitnehmerin eingesetzt. Ende Mai 2009 kündigte die Beklagte den Kläger sowie zehn weitere Arbeitnehmer zum 30. September 2009 aus betriebsbedingten Gründen. Zuvor hatte sie den bei ihr gebildeten Betriebsrat über die beabsichtigten Kündigungen unterrichtet, den Versuch eines Interessenausgleichs jedoch abgelehnt. Die Kündigungsschutzklage des Klägers wurde durch das Arbeitsgericht rechtskräftig abgewiesen. Der Kläger hat geltend gemacht, ihm stehe gemäß § 113 Abs. 3 BetrVG ein Nachteilsausgleich zu, weil die Beklagte aufgrund ihrer Unternehmensgröße einen Interessenausgleich hätte versuchen müssen. Die Beklagte beantragte, die Klage abzuweisen. Sie führte aus, sie habe regelmäßig nicht mehr als 20 Arbeitnehmer beschäftigt. Leiharbeitnehmer seien bei der Ermittlung der Beschäftigtenzahl in § 111 Satz 1 BetrVG nicht zu berücksichtigen. Der geforderte Nachteilsausgleich sei zudem überhöht.
Das Arbeitsgericht hat die Beklagte zur Zahlung einer Abfindung in Höhe von 5.715,60 Euro, was einem Drittel eines Bruttomonatsgehalts pro Beschäftigungsjahr entspricht, verurteilt. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Zahlungsbegehren weiter.

Wie hat das Bundesarbeitsgericht entschieden?


Die Revision des Klägers war vor dem Ersten Senat des Bundesarbeitsgerichts erfolgreich. Das BAG stellte fest, dass dem Kläger ein Anspruch auf Zahlung einer Abfindung als Nachteilsausgleich gemäß § 113 Abs. 3 i. V. m. Abs. 1 BetrVG zusteht. Die Beklagte habe mit der Entlassung von elf Arbeitnehmern eine Betriebsänderung im Sinne des § 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG durchgeführt, ohne hierüber mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich versucht zu haben. Die Unterrichtungs- und Beratungspflicht des Arbeitgebers nach § 111 Satz 1 BetrVG habe bestanden, da zum Zeitpunkt des Entstehens der Beteiligungsrechte des Betriebsrats in dem Unternehmen mehr als 20 wahlberechtigte Arbeitnehmer beschäftigt waren. Nachdem die Beklagte am 20. Mai 2009 den Betriebsrat zur Kündigung des Klägers und zehn weiterer Arbeitnehmer angehört hatte, ist für die Ermittlung der Unternehmensgröße von der Beschäftigtenzahl Mitte Mai 2009 auszugehen. Zu dieser Zeit beschäftigte die Beklagte in ihrem Unternehmen unstreitig zwanzig eigene Arbeitnehmer und eine Leiharbeitnehmerin.

Bei der Ermittlung des Schwellenwerts von 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern sind Leiharbeitnehmer, die länger als drei Monate im Unternehmen eingesetzt sind, mitzuzählen, obwohl sie nicht in einem Arbeitsverhältnis zum Entleiher stehen. Für ein solches Normverständnis spricht nach dem BAG bereits der Wortlaut des § 111 Satz 1 BetrVG. Leiharbeitnehmer sind Arbeitnehmer und nach § 7 Satz 2 BetrVG im Betrieb des Entleihers wahlberechtigt, wenn sie dort länger als drei Monate eingesetzt werden. Dies lege nahe, diesen Personenkreis bei der Ermittlung des Schwellenwerts in § 111 Satz 1 BetrVG mit zu berücksichtigen.

Rechtssystematisch sei zu beachten, dass nach der Rechtsprechung des Siebten Senats des Bundesarbeitsgerichts zu den betriebsverfassungsorganisatorischen Schwellenwerten des § 9 BetrVG Leiharbeitnehmer keine Arbeitnehmer des Entleiherbetriebs im Sinne des § 9 BetrVG sind. Bei der Feststellung der Belegschaftsstärke im Sinne dieser Bestimmung seien nur betriebsangehörige Arbeitnehmer, die in einem Arbeitsverhältnis zum Betriebsinhaber stehen und in dessen Betriebsorganisation eingegliedert sind, zu berücksichtigen. Diese Voraussetzungen erfüllten Leiharbeitnehmer nicht.

Der Erste Senat widerspricht dieser Auffassung nicht, betont jedoch, dass das zu § 9 BetrVG entwickelte Verständnis des Begriffs „wahlberechtigte Arbeitnehmer“ jedoch nicht ohne Berücksichtigung des jeweiligen Normzwecks auf andere Vorschriften übertragen werden kann. Angesichts der unterschiedlichen Zwecke der Schwellenwerte in § 9 und § 111 BetrVG sei eine differenzierte Auslegung des Begriffs „wahlberechtigte Arbeitnehmer“ geboten. Bei einer am Schutz vor finanzieller Überforderung kleinerer Unternehmen orientierten Auslegung dieses Tatbestandsmerkmals in § 111 Satz 1 BetrVG sei zu berücksichtigen, dass Leiharbeitnehmer wie betriebsangehörige Arbeitnehmer Arbeitsplätze besetzen und dem Weisungsrecht des Entleihers unterliegen. Zwar zahle der Entleiher ihnen kein Arbeitsentgelt, doch entstünden ihm durch das mit dem Verleihunternehmen vereinbarte Entgelt für die Arbeitnehmerüberlassung vergleichbare personenbezogene Personalkosten.

Der Zweck des Schwellenwerts in § 111 Satz 1 BetrVG stehe deshalb einer Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern bei der Ermittlung der Belegschaftsstärke nicht entgegen. Er verlange diese vielmehr, weil nur so sichergestellt wird, dass die Beteiligungsrechte des Betriebsrats und die Rechte der betriebsangehörigen Arbeitnehmer aus §§ 111, 112 BetrVG bei einem nach der gesetzlichen Wertung als ausreichend leistungsfähig anzusehenden Unternehmen in Anspruch genommen werden können. Leiharbeitnehmer seien bei der Ermittlung des Schwellenwerts in § 111 Satz 1 BetrVG allerdings nur zu berücksichtigen, wenn sie „wahlberechtigt“ sind. Erforderlich ist daher, dass sie entsprechend § 7 Satz 2 BetrVG länger als drei Monate in dem Betrieb eingesetzt sind.

Ebenso wie betriebsangehörige Arbeitnehmer seien Leiharbeitnehmer bei der Feststellung der Belegschaftsstärke nach § 111 Satz 1 BetrVG auch nur mitzuzählen, wenn sie zu den „in der Regel“ Beschäftigten gehören. Maßgeblich sei damit die Personalstärke, die für das Unternehmen im Allgemeinen kennzeichnend ist, und nicht, wie viele Arbeitnehmer dem Unternehmen im Zeitpunkt der Entscheidung über die Betriebsänderung zufällig angehören. Die Feststellung der maßgeblichen Unternehmensgröße erfordere regelmäßig sowohl einen Rückblick als auch eine Prognose. Werden Arbeitnehmer lediglich zeitweilig beschäftigt, kommt es für die Frage der regelmäßigen Beschäftigung darauf an, ob sie normalerweise während des größten Teils eines Jahres, d. h. länger als sechs Monate beschäftigt werden.

Auswirkungen der Entscheidung auf die Praxis:

Wieder einmal hat das BAG zur Frage der Leiharbeitnehmer und deren Stellung im Betrieb des Entleihers eine Entscheidung getroffen. Die Auswirkung der Beschäftigung von Leiharbeitnehmern war schon mehrmals Streitgegenstand von Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichtes gewesen. Auch im vorliegenden Fall soll der kontinuierliche bzw. häufige Einsatz von Leiharbeitnehmer Auswirkungen beim Entleiher haben.
Im Falle einer Betriebsänderung in Unternehmen mit in der Regel mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern hat der Arbeitgeber mit dem Betriebsrat über einen Interessenausgleich zu beraten. Wenn der Arbeitgeber die Beratung mit dem Betriebsrat über einen Interessenausgleich unterlässt, haben die Arbeitnehmer, die infolge der Betriebsänderung ihren Arbeitsplatz verlieren, einen Anspruch auf Abfindung in Form eines Nachteilsausgleichs.
Das Bundesarbeitsgericht hatte nun darüber zu entscheiden, ob bei der Ermittlung dieses Schwellenwertes Leiharbeitnehmer mitzuzählen sind, obwohl diese keine Arbeitnehmer des Betriebes sind, da sie nur ein Arbeitsverhältnis mit dem Verleiher und nicht mit dem Entleiher haben. Nach dem BAG zählen Leiharbeitnehmer bei der Frage, ob der Arbeitgeber und Betriebsrat über einen Interessensausgleich beraten müssen, beim Entleiher mit, wenn diese mind. 3 Monate beschäftigt wurden. Dies erfreut natürlich die Arbeitgeber nicht. Als Betriebsrat sollte bei Kündigungen immer die Anzahl der Leiharbeitnehmer im Jahr der Kündigung mitgezählt werden und darauf gedrängt werden einen Interessensausgleich abzuschließen. Sollte der Arbeitgeber sich weigern, sollte dennoch vom Betriebsrat zumindest an den gekündigten Arbeitnehmer der Hinweis ergehen, dass dieser einen Anspruch auf Nachteilsausgleich hat und diesen auch zeitnah beim Arbeitgeber geltend machen muss. Das BAG trifft die Arbeitgeber hier an einem finanziellen Punkt, so dass vielleicht in Zukunft mit Verweis auf diese Entscheidung ein Interessensausgleich eher zustande kommt bzw. auch bei Kleinbetrieben durch das Mitzählen der Leiharbeitnehmer die Verpflichtung zum vorherigen Interessensausgleich bei Betriebsänderungen überhaupt erst entsteht.