Der tarifgebundene Arbeitgeber ist betriebsverfassungsrechtlich verpflichtet, die tarifliche Vergütungsordnung ungeachtet der Tarifbindung der Arbeitnehmer im Betrieb anzuwenden, soweit deren Gegenstände der erzwingbaren Mitbestimmung des § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG unterliegen.

Welcher Sachverhalt lag dem Beschluss des Bundesarbeitsgerichts zu Grunde?


Arbeitgeberin und Betriebsrat streiten über die Verpflichtung der Arbeitgeberin, neu eingestellte Beschäftigte in den Gehaltstarifvertrag einzugruppieren. Die Arbeitgeberin betreibt bundesweit Drogeriemärkte. Der Antragsteller ist der für den Betrieb »D« errichtete Betriebsrat.

Die Arbeitgeberin ist nach einem mit der Gewerkschaft ver.di abgeschlossenen Anerkennungstarifvertrag an die jeweils gültigen Tarifverträge für den Einzelhandel im Land Nordrhein-Westfalen gebunden. Zu diesen gehört der Gehaltstarifvertrag für den Einzelhandel in Nordrhein-Westfalen vom 11. Juni 2009 (GTV NRW). In § 3 GTV NRW sind die Anforderungen für die Eingruppierung der kaufmännischen und technischen Angestellten festgelegt.

Seit November 2008 vereinbart die Arbeitgeberin mit neu eingestellten Arbeitnehmern Arbeitsentgelte, bei deren Höhe individuelle Kriterien wie etwa die zuvor erworbene Berufserfahrung berücksichtigt werden. Diese Arbeitnehmer gruppierte die Arbeitgeberin nicht mehr in die Vergütungsordnung des jeweils geltenden Gehaltstarifvertrags ein. Der Betriebsrat vertrat die Ansicht, die Arbeitgeberin sei auch weiter verpflichtet, die neu einzustellenden Arbeitnehmer nach § 99 Abs. 1 BetrVG wie bisher in die Gehaltsgruppen des § 3 GTV NRW einzugruppieren. Er beantragte beim Arbeitsgericht, die Arbeitgeberin entsprechend zu verpflichten.

Wie hat das Bundesarbeitsgericht entschieden?


Das BAG hat dem Betriebsrat Recht gegeben und die Arbeitgeberin verpflichtet, neu eingestellte Mitarbeiter wieder in den GTV einzugruppieren. Der Betriebsrat hat in entsprechende Anwendung von § 101 BetrVG einen Anspruch darauf, dass die Arbeitgeberin bei der Einstellung von Arbeitnehmern eine Entscheidung über die Eingruppierung der von ihnen ausgeübten Tätigkeiten nach Maßgabe der Gehaltsgruppen des § 3 GTV NRW trifft und das in § 99 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 BetrVG vorgesehene Verfahren durchführt.

Diese Pflicht besteht unabhängig von der Mitgliedschaft der Arbeitnehmer bei ver.di. Die Arbeitgeberin ist im Verhältnis zu ihrem Betriebsrat verpflichtet, die Tätigkeit ihrer Arbeitnehmer den in § 3 GTV NRW geregelten Gehaltsgruppen zuzuordnen. Die dort bestimmte Vergütungsordnung ist der im Betrieb geltende Entlohnungsgrundsatz iSv. § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG. Diesen können weder die Arbeitgeberin noch die Betriebsparteien auf die tarifgebundenen Arbeitnehmer beschränken.

Nach § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG hat der Arbeitgeber in Unternehmen mit in der Regel mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern den Betriebsrat vor jeder Eingruppierung zu unterrichten und dessen Zustimmung zu beantragen. § 99 Abs. 1 Satz 2 BetrVG verpflichtet den Arbeitgeber, bei Einstellungen und Versetzungen insbesondere den in Aussicht genommenen Arbeitsplatz und die vorgesehene Eingruppierung mitzuteilen. Verlangt das Gesetz die Mitteilung der vorgesehenen Eingruppierung, setzt dies voraus, dass der Arbeitgeber zuvor eine entsprechende Beurteilung vornimmt. An dieser hat er den Betriebsrat zu beteiligen.

Dem Mitbeurteilungsrecht unterliegt dabei auch die Frage, ob ein Arbeitnehmer einer im Betrieb geltenden Vergütungsordnung zugeordnet werden kann. Denn im Betrieb eines tarifgebundenen Arbeitgebers stellt die im einschlägigen Tarifvertrag enthaltene Vergütungsordnung zugleich das im Betrieb geltende System für die Bemessung des Entgelts der Arbeitnehmer dar. Damit ist der tarifgebundene Arbeitgeber betriebsverfassungsrechtlich verpflichtet, die tarifliche Vergütungsordnung ungeachtet der Tarifbindung der Arbeitnehmer im Betrieb anzuwenden, soweit deren Gegenstände der erzwingbaren Mitbestimmung des § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG unterliegen. Dieses Verständnis geben die Funktion des Tarifvorbehalts in § 87 Abs. 1 Eingangshalbs. BetrVG sowie der Normzweck des § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG vor.

Zwar kann das Mitbestimmungsrecht bei der Einführung und Änderung eines betrieblichen Vergütungssystems im Betrieb eines tarifgebundenen Arbeitgebers durch den Tarifvorbehalt des § 87 Abs. 1 Eingangshalbs. BetrVG ausgeschlossen sein. Der Ausschluss erfordert aber, dass die Tarifvertragsparteien selbst über die mitbestimmungspflichtige Angelegenheit eine zwingende und abschließende inhaltliche Regelung getroffen und damit dem Schutzzweck des verdrängten Mitbestimmungsrechts Genüge getan haben. Die Tarifvertragsparteien dürfen das Mitbestimmungsrecht nicht ausschließen oder einschränken, ohne die mitbestimmungsflichtige Angelegenheit selbst zu regeln.

Nach der Senatsrechtsprechung ist für das Eingreifen des Tarifvorbehalts des § 87 Abs. 1 Eingangshalbs. BetrVG und dem damit einhergehenden Ausschluss des Mitbestimmungsrechts bereits die Tarifbindung des Arbeitgebers ausreichend. Einer normativen Bindung der betriebszugehörigen Arbeitnehmer (§ 4 Abs. 1 Satz 1 TVG) bedarf es hierfür nicht. Das gilt auch dann, wenn es sich bei der das Mitbestimmungsrecht verdrängenden tariflichen Regelung um Inhaltsnormen handelt. Das entspricht dem Zweck des Eingangshalbsatzes. Denn dieser geht davon aus, dass eine bestehende gesetzliche oder tarifliche Regelung dem Schutzbedürfnis der Arbeitnehmer ausreichend Rechnung trägt und daher Mitbestimmungsrechte entbehrlich macht.

Auswirkungen der Entscheidung auf die Praxis:

Das BAG hat mit dieser Entscheidung die Einflussmöglichkeiten der Betriebsräte gestärkt.
Im Ergebnis steht ein besserer Schutz von Nicht-Gewerkschaftsmitgliedern. Diese können für sich selbst keine tariflichen Rechte gegenüber dem Arbeitgeber in Anspruch nehmen.
Der Betriebsrat kann aber nach dieser BAG-Entscheidung auch für diese Beschäftigten bei tarifgebundenen Arbeitgebern durchsetzen, dass die Beschäftigten bei Neueinstellungen nach der tariflichen Vergütungsordnung einzugruppieren sind.
Das ist vor allem wegen des sonst geltenden Tarifvorbehalts für den Betriebsrat interessant. Haben die Tarifvertragsparteien etwas durch Tarifvertrag geregelt, so ist diese Regelungsmaterie den Betriebsparteien, und damit dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates, entzogen.
Eine Regelung kann der Betriebsrat nicht mehr vereinbaren. Er kann aber - so diese Entscheidung - den Schutz der tariflichen Vergütungsordnung auch für nicht tarifgebundene Arbeitnehmer durchsetzen. Die ansonsten entstehende Schutzlücke ist nach neuer Auffassung des BAG nicht hinnehmbar.

Dies bedeutet in der Praxis aber nicht, dass für das Nicht-Gewerkschaftsmitglied auch der Tariflohn durchgesetzt werden könnte. Nur die tariflichen Entlohnungsgrundsätze müssen vom Arbeitgeber gewahrt werden. Die konkrete Entgelthöhe ist hingegen nicht Gegenstand der betrieblichen Mitbestimmung und damit auch nicht vom Betriebsrat über diesen Umweg durchsetzbar.

Beschluss des BAG vom 18.10.2011, 1 ABR 25/10