Der Arbeitgeber darf auch dann nicht entgegen der tariflichen Regelung die generelle Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung ab dem ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit verlangen, wenn sich seine Arbeitnehmer im Streik befinden.

Der Fall:

Die Beteiligten streiten über einen Unterlassungsanspruch des Betriebsrats. Dieser sieht seine Mitbestimmungsrechte durch eine Anordnung der Arbeitgeberin verletzt. Diese hatte im Vorfeld eines anstehenden Arbeitskampfes angewiesen, das alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bis zum Ende des Arbeitskampfes am ersten Krankheitstag eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen müssen.

§ 16 des geltenden Manteltarifvertrages Flugsicherung regelt hingegen folgendes:
(2) (..) Dauert die Arbeitsunfähigkeit länger als drei Kalendertage, so haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine ärztliche Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer spätestens an dem darauf folgenden Werktag vorzulegen.
(3) Die Arbeitgeberin kann im begründeten Einzelfall eine ärztliche Bescheinigung ab dem ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit nach Rücksprache mit dem Betriebsrat verlangen.

Die Entscheidung:

Ein Unterlassungsanspruch scheitert bereits am fehlenden Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats. Diese ist nicht gegeben, weil die Anordnung der Arbeitgeberin bereits nach dem Tarifvertrag unzulässig ist. Der Tarifvertrag schließt ist eine generelle Anweisung an alle ihre Mitarbeiter aus. Dies ergibt eine Auslegung der maßgeblichen Tarifregelung.

Schon der Wortlaut in § 16 Abs. 3 MTV spricht dafür, dass der Arbeitgeber die Vorlage nur gegenüber einzelnen Arbeitnehmern verlangen kann. Ein „einzelner Fall“ bezieht sich aber auf die Zahl der betroffenen Personen und bedeutet damit, dass dies nur gegenüber einzelnen Arbeitnehmern, nicht aber gegenüber der Gesamtheit der Arbeitnehmer möglich sein soll.

Dieses Ergebnis findet seine Bestätigung im Gesamtzusammenhang der tariflichen Regelung. § 16 Abs. 2 MTV übernimmt als Grundregel die im EFZG geregelte Anzeige- und Nachweispflichten. Demgegenüber schränkt dessen Absatz 3 die in § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG enthaltene allgemeine Berechtigung des Arbeitgebers, die Vorlage der ärztlichen Bescheinigung früher zu verlangen, auf den „begründeten Einzelfall“ ein und sieht in diesen Fällen eine Rücksprache mit dem Betriebsrat vor.

Damit haben die Tarifvertragsparteien eine gegenüber dem Gesetz eigenständige Regelung in Bezug auf die frühere Vorlagepflicht getroffen. Dies hat zur Folge, dass der Arbeitgeber – anders als im Gesetz vorgesehen – keine entsprechende generelle Anweisung an alle Mitarbeiter erlassen kann.

Folgen für die Praxis:

Nach § 5 Abs. 1 S. 2 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) hat der Arbeitnehmer, wenn die Arbeitsunfähigkeit länger als drei Kalendertage dauert eine ärztliche Bescheinigung über das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer spätestens an dem darauffolgenden Arbeitstag vorzulegen. Grundsätzlich kann der Arbeitgeber nach dem § 5 Abs. 1 S. 3 EFZG den Arbeitnehmern generell aufgeben, schon am ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzulegen. Für dieses Vorlageverlangen ist keine Form vorgeschrieben und der Arbeitgeber muss nicht begründen wieso er die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung schon früher vorgelegt wissen will.
Etwas anderes gilt aber nun, wie man anhand vorliegender Entscheidung sieht, wenn in einem Tarifvertrag eine Regelung getroffen wurde, ab wann Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorzulegen sind. Hier konnte nicht allgemein von allen Arbeitnehmern im Streik verlangt werden, dass diese schon am ersten Tag Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorlegen, weil die im Gesetz vorgesehene allgemeine Berechtigung des Arbeitgebers auf bestimmte Fälle durch den Tarifvertrag begrenzt wurde. Folge ist, dass der Arbeitgeber eine entsprechende generelle Anweisung an alle Mitarbeiter wegen des Tarifvertrages nicht erlassen durfte. Solche einzelnen Abänderungen des gesetzlichen Grundsatzes können auch im Arbeitsvertrag oder auch in eine Betriebsvereinbarung getroffen werden. Generell ist die Frage der Vorlage von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen eine Frage der betrieblichen Ordnung i.S. V. § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG und daher mitbestimmungspflichtig.

Beschluss des LAG Berlin-Brandenburg vom 14.08.2012, Az: 7 TaBV 468/12