Gert Becker:Tarifbindung zahlt sich aus! Copyright by Adobe Stock kamasigns/Fotolia
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Anhand eines anschaulichen Falles erörtert das Arbeitsgericht Stuttgart, wie Tarifverträge auszulegen sind. Auch wird deutlich: Gute Arbeits- bzw. Ausbildungsbedingungen gibt es nur mit Tarif!
 
Der Kläger wurde beraten und vor Gericht vertreten von Gert Becker vom Büro Göppingen der DGB Rechtsschutz GmbH.
 

Azubi wird Gewerkschaftsmitglied

Ab September 2013 war der Kläger bei der Beklagten, einer Herstellerin von Befestigungstechnik, in einem Ausbildungsverhältnis beschäftigt. Die Ausbildung schloss der Kläger im Januar 2017 erfolgreich ab.
 
Der Weg zur Berufsschule, welche der Kläger während seiner Ausbildung besuchte, betrug ca. 10 Kilometer.
 
Die Beklagte war bis zum Austritt im Jahr 2009 Mitglied im Arbeitgeberverband der Metallindustrie Baden  - Württemberg. Der Kläger ist seit Dezember 2014 Mitglied der Gewerkschaft IG Metall.
 
Zwischen der IG Metall und dem Verband der Metallindustrie Baden  - Württemberg e.V. besteht ein Manteltarifvertrag für die Auszubildenden in der Metallindustrie für die Region Nordwürttemberg/Nordbaden (MTV Azubi). Geregelt im MTV Azubi ist unter anderem:
 
§ 1  - Geltungsbereich:
 
Dieser Manteltarifvertrag gilt […] für alle technisch Auszubildenden im Sinne des Berufsbildungsgesetzes, die Mitglied der IG Metall sind.
 
§ 8  - Berufsschule / außerberufliche Ausbildung
 
Unvermeidbar anfallende Fahrtkosten für den Besuch der Berufsschule sind durch den Ausbildenden in Höhe der Kosten für öffentliche Verkehrsmittel zu erstatten.

 

Kläger klagt auf Erstattung von Fahrtkosten

Im Juni und August 2017 verlangte der Kläger von der Beklagten die Erstattung der von ihm aufgewendeten Kosten für die Fahrten zur Berufsschule.
 
In den Jahren 2013 bis 2016 kaufte der Kläger für die jeweiligen Hin- und Rückfahrten zur Berufsschule Einzeltickets für den Bus. Die Beklagte lehnte jegliche Zahlung ab. Daraufhin zog der Kläger vor Gericht. Konkret machte er für die Jahre 2014 bis 2016 Kostenerstattung für insgesamt 142 Hin-und Rückfahrten geltend, rund 650 Euro. Der tatsächliche Schulbesuch lasse sich aus seinen Berichtsheften nachvollziehen, die Ausbilder hätten mit ihrer Unterschrift im Heft den Schulbesuch bestätigt, so der Kläger. Zur weiteren Begründung führte er aus, es sei unerheblich, ob die Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln, einem Auto oder anderweitig erfolgt seien. § 8 des MTV Azubi normiere jedenfalls eine Berechnungsgrundlage, wonach mindestens die Kosten für Fahrten zur Berufsschule mit den öffentlichen Verkehrsmittel zu erstatten seien. Demgegenüber meinte die Beklagte, die geltend gemachten Kosten seien nicht „unvermeidbar  angefallen“ im Sinne des Tarifvertrages. Jedenfalls hätte der Kläger zur Minimierung der Kosten ein günstigere Monatsticket statt Tickets für jede einzelne Fahrt kaufen müssen.
 

Gericht gibt Kläger Recht

Das Arbeitsgericht Stuttgart verurteilte die Beklagte, gestützt auf § 8 des MTV Azubi, zur Zahlung der Fahrtkosten. Da die Tarifnorm nicht selbst definiert, was unter „unvermeidbar anfallenden Fahrtkosten“ zu verstehen ist, musste das Arbeitsgericht die Tarifnorm auslegen.
 
Tarifnormen haben bei beidseitiger Tarifbindung Gesetzesrang. Daher folgte das Arbeitsgericht den vom BAG entwickelten Grundsätzen, wonach Tarifnormen wie Gesetze auszulegen sind.
 
Zunächst ist vom Wortlaut der betreffenden Tarifnorm auszugehen und der maßgebliche Sinn der Erklärung erforschen. Ist der Wortlaut der Tarifnorm nicht eindeutig, ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien zu berücksichtigen, soweit dieser sich aus der Tarifnorm feststellen lässt. Maßgeblich ist der tarifliche Gesamtzusammenhang, um Sinn und Zweck der Tarifnorm zu ermitteln. Treten Zweifel auf, gebührt der Tarifauslegung Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt.
 
Diese Grundsätze angewendet auf § 8 des MTV Azubi bedeuten: „Unvermeidbar“ sind Fahrtkosten eigentlich immer. Denn „vermeidbar“ sind sie nur, wenn gar keine Fahrt in Anspruch genommen wird. Der Kläger hätte schließlich den Weg zur Berufsschule stets zu Fuß zurücklegen können, egal ob es sich um eine weite oder kurze Entfernung handelt. Diese Auslegung kann aber nicht dem wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien entsprechen.
 
„Unvermeidbar“ ist daher nach Auffassung des Gerichts viel eher im Sinne von „zumutbar“ zu verstehen. Maßgeblich muss daher sein, ob die „unvermeidbar anfallenden Fahrtkosten“ zumutbar unter Berücksichtigung der in unserem Lebensraum vorherrschenden Verkehrsgewohnheiten sind.
 
Aus dem Gesamtzusammenhang des § 8 MTV Azubi folgt nach Ansicht des Arbeitsgerichts Stuttgart Sinn und Zweck des Unterrichts in der Berufsschule. Die Tarifnormen wollten dem Kläger als Azubi die Teilnahme am Unterricht ermöglichen. Es sollte keine Gefahr bestehen, dass der Kläger wegen etwaigem Zeit- oder Kostendruck den Unterricht nicht besucht.
 
§ 8 MTV Azubi regelt den Kostenaspekt des Schulwegs. Heraus schließt das Arbeitsgericht, dass es dem Kläger nicht zuzumuten war, die Strecke von seiner Wohnung zur Berufsschule zu Fuß zu bewältigen. Daher fielen die Kosten im Sinne des MTV Azubi „unvermeidbar“ an. Dem Kläger war es nicht zumutbar, die Wege zur Berufsschule  - immerhin ca. 10 Kilometer  - zu Fuß zu gehen. Das Gericht geht davon aus, dass bereits eine Entfernung von 1,7 Km heute üblicherweise nicht mehr von Azubis zu Fuß zurückgelegt wird.
 

Höhe der Kosten nicht beschränkt

Das Arbeitsgericht lehnt auch eine Pflicht des Klägers zur Minimierung der Kosten ab.
Der Kläger war also nicht gehalten, statt Einzelfahrkarten ein Monatsticket zu kaufen.
 
In § 8 des MTV Azubi ist keine Einschränkung enthalten, wonach der Kläger die kostengünstigste Fahrpreisvariante für die öffentlichen Verkehrsmittel wählen musste.
Der Wortlaut von § 8 MTV Azubi nimmt ohne nähere Einschränkungen ganz allgemein auf die Kosten für öffentliche Verkehrsmittel Bezug. Hierunter sind nach Auffassung des Arbeitsgerichts die üblichen Kosten für eine Einzelfahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu verstehen.
 
Der Wunsch der Tarifparteien nach einer zweckorientierten und praktisch brauchbaren Handhabung der Kostenregelung steht einer Pflicht zur Prüfung eventuell günstigerer Fahrpreistarifen entgegen. Derartige arbeitsintensive, zeitaufwendige und kostspielige Regelungen entsprechen nach Ansicht des Gerichts nicht dem Willen der Tarifparteien, da vielmehr eine Vereinfachung des Erstattungsprozederes gewünscht ist.
Die vom Kläger vorgelegten Berichtshefte mit den Unterschriften der jeweiligen Lehrer genügten dem Gericht zum Nachweis des tatsächlichen Schulbesuchs. 

Anspruch nur für Gewerkschaftsmitglieder!

Der Kläger ist - wie eingangs erwähnt - erst ab Dezember 2014 Mitglied der IG Metall.
Für den ganz überwiegenden Teil der 50 Fahrten zur Berufsschule im Jahr 2014 besteht für den Kläger wegen fehlender Mitgliedschaft in der IG Metall kein Anspruch auf Ersatz der Fahrtkosten.
 
Wichtig ist: Normative, also quasi gesetzliche Ansprüche aus einem Tarifvertrag hat nur, wer der zuständigen Gewerkschaft angehört!

Arbeitgeber sind über ihre Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband oder aufgrund eines Haustarifvertrages an den Tarifvertrag gebunden.
 
Auch ein Austritt aus dem Arbeitgeberverband, wie ihn die Beklagte im Jahr 2009 unternahm, ändert daran nichts. Arbeitgeber unterliegen dem Tarifvertrag in solchen Fällen bis zum Ende der Wirksamkeit des Tarifvertrages, der sogenannten Nachbindung. Dies regelt § 3 Absatz 3 Tarifvertragsgesetz (TVG).
 
Für die Tarifbindung des Klägers gilt: Wäre der Kläger nicht Mitglied der IG Metall gewesen, hätte er gar keinen Anspruch gehabt.
 
Dem Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart muss uneingeschränkt beigepflichtet werden.
Anhand eines anschaulichen Falls erläutert das Gericht, wie Tarifnormen in Hinblick auf ihren Sinn und Zweck und den Wünschen der Tarifparteien ausgelegt werden.
 
Deutlich wird auch, dass Tarifverträge so manches Bonbon für Gewerkschaftsmitglieder bereit halten.
 
Ähnlich wie beim Arbeitsweg ist es grundsätzlich Sache des Azubi, wie er zur Berufsschule kommt, die Kosten hierfür hat er grundsätzlich selbst zu tragen. Demgegenüber regelt der Tarifvertrag hier aber eine Pflicht für die Beklagte als Ausbildungsbetrieb zur Kostentragung für Azubis, die Mitglieder der IG Metall sind.
 
Die attraktivsten tariflichen Vergünstigungen nutzen also einem Arbeitnehmer nichts, wenn er nicht Mitglied der zuständigen Gewerkschaft ist.
 
Die Anwendbarkeit von Tarifverträgen allein durch eine Vereinbarung im Arbeitsvertrag können Arbeitgeber anbieten, müssen dies aber nicht. Außerdem wird häufig nicht der gesamte Tarifvertrag in Bezug genommen.
 
Deutlich wird also: Die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft macht bereits als Azubi Sinn. Gewerkschaften setzen sich auch für die Verbesserungen von Ausbildungsbedingungen ein, insbesondere für die Vergütung.
 
Im Übrigen hilft die hier dargestellte Tarifnorm der Arbeitgeberseite auch, motivierten Nachwuchs zu werben.
 
Maßgeblich für die Stärke einer Gewerkschaft ist ihr Organisierungsgrad.
 
Die IG Metall hat schon so machen arbeitsrechtlichen Fortschritt für Arbeitnehmer auf den Weg gebracht, die heute fast allgemein üblich sind, etwa 30 Urlaubstage pro Jahr statt der gesetzlichen 20 (bei einer 5-Tage-Woche).
 
Anspruch auf Beratung und Prozessvertretung im Arbeits- und Sozialrecht durch die DGB Rechtsschutz GmbH ist im Mitgliedbeitrag obendrein inklusive!

Hier geht es zum Urteil

Rechtliche Grundlagen

§ 3 Abs. 3 Tarifvertragsgesetz (TVG)

§ 3 Tarifvertragsgesetz (TVG)
Tarifgebundenheit

(1) Tarifgebunden sind die Mitglieder der Tarifvertragsparteien und der Arbeitgeber, der selbst Partei des Tarifvertrags ist.

(2) Rechtsnormen des Tarifvertrags über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen gelten für alle Betriebe, deren Arbeitgeber tarifgebunden ist.

(3) Die Tarifgebundenheit bleibt bestehen, bis der Tarifvertrag endet.