Auch Lokführer dürfen streiken, selbst wenn ihr Zug dann stehen bleibt. © Adobe Stock: anjajuli
Auch Lokführer dürfen streiken, selbst wenn ihr Zug dann stehen bleibt. © Adobe Stock: anjajuli

Als Mitglied der EVG unterstützte der Kläger auch deren Tarifforderungen und nahm an dem Streik im Juni 2022 teil, indem er seinen nachts begonnenen Dienst als Lokführer unterbrach. Nach Erreichen eines planmäßigen Haltes legte er seine Arbeit nieder. Andere Mitglieder der EVG holten ihn ab und brachten ihn zum Ort der zentralen Streikveranstaltung.

 

Der Warnstreik fand um 12 Uhr sein Ende

 

Um 12:00 Uhr meldete sich der Kläger wieder zum Dienst. Er befand sich zu diesem Zeitpunkt noch am Orte der zentralen Streikveranstaltung. Die Leitstelle teilte ihm telefonisch mit, dass er um 12:19 Uhr eine weiter entfernt liegende Zugstrecke fahren solle. Der Kläger wies darauf hin, dies sei für ihn zeitlich unmöglich.

 

Nach dem Telefonat fuhr der Kläger umgehend mit dem nächsten Zug zum vorgegebenen Einsatzort und kam dort um 13:40 Uhr an. Er übernahm den Zug von der Vertretung und fuhr diesen sodann zur Abstellung. Anschließend schloss der Kläger seinen Dienst ordnungsgemäß ab und teilte dies der Leitstelle mit.

 

Der Arbeitgeber ließ das nicht gelten und erteilte ihm eine Abmahnung. Er habe Dienst mit einer Arbeitszeit von 3:42 - 14:20 Uhr gehabt. Wegen seiner Anwesenheit am Ort der zentralen Streikveranstaltung habe er seinen Dienst nicht erfüllen können und damit gegen die Dienstanweisungen verstoßen. Der Kläger hätte seine Arbeitsleistung an dem Ort anbieten müssen, an dem er seinen Dienst zu erbringen gehabt hätte und nicht am Ort der Streikveranstaltung.

 

Der Kläger sah sich in seinen Grundrechten beeinträchtigt

 

Die Abmahnung sanktionierte nach Auffassung des Klägers dessen verfassungsrechtlich geschütztes Verhalten, da sowohl die Streikteilnahme an einem rechtmäßigen Streik an sich als auch die Teilnahme an einer zentralen Streikkundgebung essentieller Bestandteil des nach Art. 9 Abs. 3 GG garantierten Streikrechts seien. Die Beklagte verkenne, dass es in der Natur eines Streiks liege, dass auch im Nachgang weitere Verzögerungen und Störungen im Betriebsablauf auftreten könnten.

 

Die Abmahnung sollte aus der Personalakte raus. Das war der Wusch des Klägers. Matthias Kramer vom DGB Rechtsschutzbüro Siegen erhob für ihn Klage beim Arbeitsgericht und gewann den Prozess.

 

Der Kläger habe gegen die Beklagte einen Anspruch auf Entfernung der Abmahnung aus seiner Personalakte, entschied das Gericht. Die Abmahnung der Beklagten sei zu Unrecht erfolgt. Sie beruhe auf einer unzutreffenden Bewertung der Rechtslage. Der Kläger habe nach der Beendigung des Warnstreiks keine Pflicht verletzt.

 

Die Abmahnung hat eine Rüge- und Warnfunktion

 

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts können Betroffene die Entfernung einer zu Unrecht erteilten Abmahnung aus der Personalakte verlangen.

 

Bei der Abmahnung handelt es sich um die Ausübung eines arbeitsvertraglichen Rechts durch den Arbeitgeber. Als Gläubiger der Arbeitsleistung weist er den*die Schuldner*in auf die vertragliche Pflicht hin und macht auf die Verletzung dieser Pflicht aufmerksam. Das nennt man die Rügefunktion der Abmahnung.

 

Zugleich fordert er für die Zukunft zu einem vertragstreuen Verhalten auf und kündigt, wenn ihm dies angebracht erscheint, individualrechtliche Konsequenzen für den Fall einer erneuten Pflichtverletzung an. Darin liegt die Warnfunktion einer Abmahnung.

 

Die Entfernung der Abmahnung kann in vielen Fällen verlangt werden

 

Eine solche missbilligende Äußerung des Arbeitgebers in Form einer Abmahnung ist geeignet, Arbeitnehmer*innen in ihrem beruflichen Fortkommen und im Persönlichkeitsrecht zu beeinträchtigen. Deshalb können Betroffene verlangen, dass diese Beeinträchtigung beseitigt wird, wenn die Abmahnung inhaltlich unbestimmt ist, formell nicht ordnungsgemäß zustande kam, wenn sie unrichtige Behauptungen über Tatsachen enthält oder auf einer unzutreffenden rechtlichen Bewertung des Verhaltens beruht.

 

Gleiches gilt, wenn die Abmahnung den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt oder kein schutzwürdiges Interesse des Arbeitgebers am Verbleib der Abmahnung in der Personalakte mehr besteht.

 

Der Warnstreik war rechtmäßig

 

Der Kläger habe an einem rechtmäßigen Streik teilgenommen und in diesem Zusammenhang auch an der zentralen Streikveranstaltung teilnehmen dürfen, so das Arbeitsgericht – und zwar bis zu deren Ende.

 

Die Teilnahme am Streik gehöre zu dessen verfassungsmäßig garantierten Rechten aus Art. 9 Abs. 3 GG.

 

Danach ist das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.

 

Die Beklagte wertete die Rechtslage falsch

 

Aus diesem Grund sei der Kläger entgegen der Ansicht der Beklagten auch nicht verpflichtet, seine Teilnahme an der zentralen Streikveranstaltung so frühzeitig zu beenden, dass er quasi eine juristische Sekunde nach der Beendigung des Warnstreiks wieder an seinem Arbeitsplatz die Arbeit hätte aufnehmen können. Eine solche Pflicht würde den Kläger in seinem grundgesetzlich garantierten Streikrecht unzulässig einschränken.

 

Nach Beendigung des rechtmäßigen Warnstreiks sei der Kläger verpflichtet gewesen, seine Arbeit unter Berücksichtigung der konkreten Umstände und des jeweiligen Einzelfalls schnellstmöglich wieder aufzunehmen. Dieser Pflicht sei er nachgekommen, indem er sich unmittelbar nach Beendigung des Warnstreiks wieder zum Dienst gemeldet, sich auf Weisung der Beklagten an seinen Einsatzort begeben und dort seine Arbeit wieder aufgenommen habe.

 

Zeitliche Verzögerungen bei der Wiederaufnahme der Arbeit seien in der Eigenart des Betriebs- und Unternehmensgegenstandes der Beklagten zu sehen. Die Tätigkeit als Lokführer führe unweigerlich zu streiktypischen Folgen und Störungen im Betriebsablauf.

 

Der Kläger hatte keinen festen Einsatzort

 

Als Lokführer übe der Kläger seine arbeitsvertraglich geschuldete Tätigkeit auf einem sich bewegenden Arbeitsplatz, nämlich seiner Lok, aus. Für die Dauer und nach der Beendigung einer rechtmäßigen Streikteilnahme könne der Kläger nicht genau vorhersagen, wo sein konkreter Einsatzort liege, obwohl ihm sein Fahrplan an sich bekannt sei.

 

Dies hänge damit zusammen, dass die Beklagte als Reaktion auf die rechtmäßige Arbeitsniederregung auf verschiedene Art und Weise reagieren könne, nämlich:

 

·       die Lok durch eine Vertretungskraft besetzen,

·       den Zug ausfallen lassen,

·       den Fahrplan ändern oder

·       den Zug dort stehen lassen, wo der Kläger seine Arbeit niedergelegt habe.

 

Für welche dieser Möglichkeiten sich die Beklagte entscheide, könne und müsse der Kläger nicht voraussehen.

 

Der Kläger musste seine Arbeitsbereitschaft anzeigen

 

Der Kläger könne sich schnellstmöglich nach Beendigung der Streikmaßnahme (wieder) zum Dienst melden, der Beklagten seine nochmalige Arbeitsbereitschaft anzeigen und deren konkrete Weisung hinsichtlich seiner Arbeitsleistung abwarten.

 

Das habe der Kläger getan. Dass es gerade bei Verkehrsbetrieben nach Beendigung einer Streikmaßnahme auch zeitlich nachfolgend noch zu Störungen im Betriebsablauf komme und noch eine gewisse Zeit vergehe, bis der Fahrplan wieder normal laufe, sei allgemein bekannt.

 

Darüber berichte auch die Presse regelmäßig. Dies sei von den rechtmäßig bestreikten Verkehrsunternehmen als streiktypische Folge hinzunehmen. Dem könne die Beklagte nicht dadurch entgegenwirken, indem sie rechtmäßig streikende Arbeitnehmer*innen zwinge, am Ort des Beginns ihrer Arbeitsniederlegung zu verweilen, oder aber daran zu hindern, an zentralen Streikveranstaltungen teilzunehmen.

 

Die Vertretung war gesichert

 

Schließlich scheine die Verbindung um 12:19 Uhr nicht ausgefallen, sondern von einer Vertretungskraft bedient worden zu sein. Dies zeige, dass auch die Beklagte selbst nicht damit gerechnet habe, unmittelbar nach Beendigung des rechtmäßigen Warnstreiks bereits alle bis dahin streikenden Arbeitnehmer wieder dienstplanmäßig einsetzen zu können. Sie habe stattdessen tatsächlich entsprechende Vorkehrungen getroffen.

 

Die Abmahnung musste die Beklagte daher aus der Personalakte des Klägers entfernen. Das Arbeitsgericht entschied völlig richtig. Alles andere wäre auch für Teilnehmende an einer rechtmäßigen Streikmaßnahe nicht nachvollziehbar.

 

Insgesamt zwei Kollegen hatten anlässlich der Teilnahme am Streik eine Abmahnung erhalten und erhoben mit Unterstützung des gewerkschaftlichen Rechtsschutzes Klage beim Arbeitsgericht. Erfreulicherweise sah der Arbeitgeber nach dem ersten Urteil wohl ein, dass er sich nicht im Recht befand und beendete den zweiten Rechtsstreit mit einem Vergleich. Auch diese Abmahnung entfernte er aus der Personalakte.