„Die Ausgangslage ist schwierig, machen wir das Beste daraus“, sagt Sibylle Wankel, Leiterin des Justitiariats bei der IG Metall Vorstandsverwaltung. Gemeinsam mit Dr. Olaf Deinert, Professor an der Universität Göttingen, zeigte sie auf der Online-Veranstaltung des vierten Campus Arbeitsrecht die Probleme auf, die eine abnehmende Tarifbindung mit sich bringt.

Nur noch 27 Prozent der Betriebe in Deutschland sind tarifgebunden

An Tarifverträge sind dabei zumeist nur große Unternehmen und Betriebe in den klassischen Branchen gebunden. Insgesamt seien nur noch 27 Prozent der Betriebe in Deutschland tarifgebunden, so Kollegin Wankel. Das habe eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) ergeben. Dabei gebe es ein starkes Gefälle zwischen West- und Ostdeutschland. Das werde zudem in jedem Jahr stärker.
Viele der Dienstleistungsbetriebe, die in den letzten Jahren neu entstanden seien, würden gar nicht erst in die Tarifbindung gehen. Leider ginge aber auch der Organisationsgrad bei den Gewerkschaften zurück. Es bestünde bei den Beschäftigten in Deutschland nur noch ein Organisationsgrad von 15 Prozent.

Wenn Tarifautonomie nicht mehr funktioniert, wird die Ungerechtigkeit größer

Das System der Tarifverträge könne als Ordnungssystem unserer Arbeitswelt unter diesen Bedingungen nicht mehr funktionieren. Und das bedeute wiederum, dass die Ungerechtigkeit bei den Löhnen sich immer mehr verstärke. Daher sei es eine Aufgabe, des Gesetzgebers und der Rechtsprechung, die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie, wie sie in Artikel  9 Absatz 3 Grundgesetz vorgesehen sei, wiederherzustellen. „Ohne Koalitionen macht die Tarifautonomie keinen Sinn“, wie Sibylle Wankel treffend bemerkte.
Allerdings sei man mit dem bisherigen Modell ganz gut gefahren, deshalb ginge es um eine vorsichtige Weiterentwicklung, bemerkte hierzu Olaf Deinert. Es sei letztlich ein politischer Gestaltungsprozess, deshalb würden sich viele Vorschläge der Referenten auch an den Gesetzgeber richten. Der Gestaltungsprozess habe aber auch Grenzen, die sich aus dem Verfassungsrecht und dem Recht der Europäischen Union ergeben.

Das Grundgesetz beauftragt den Gesetzgeber, das System der Tarifautonomie fortzuentwickeln und auszugestalten

Das Grundgesetz schütze nicht nur die Bildung von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, sondern auch deren Bestand und deren Tätigwerden, was schließlich der Zweck des Ganzen sei. Und eines der wichtigsten Tätigkeiten der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sei die Ausübung von Tarifautonomie.
Bereits in den 50er Jahren habe das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden, dass die Verfassung den Gesetzgeber beauftrage, das System der Tarifautonomie fortzuentwickeln und auszugestalten, so Olaf Deinert.

Tarifverträge dürfen zwischen Mitgliedern der Gewerkschaften und Nichtmitgliedern differenzieren

Einen wichtigen Ansatz, die Tarifautonomie zu stärken, sahen die Referenten in Differenzierungsklauseln. Das sind Bestimmungen in Tarifverträgen, die Gewerkschaftsmitgliedern gegenüber nichttarifgebundenen Arbeitnehmern einen materiellen Vorteil gewähren. Sowohl vom Bundesarbeitsgericht (BAG) als auch vom BVerfG sind einfache Differenzierungsklauseln inzwischen anerkannt.
Dabei handelt es sich um Klauseln, die Vorteile für Gewerkschaftsmitglieder vorsehen. Das habe das BVerfG kürzlich erst im Fall Nokia Siemens Network entschieden. Tarifverträge hätten damals für Gewerkschaftsmitglieder bessere Bedingungen in einer Transfergesellschaft als auch eine höhere Abfindung geregelt.
Nach Auffassung der Referenten könnte der Gesetzgeber Maßnahmen zur Stärkung der Tarifautonomie flankieren, indem er etwa tariflich geregeltes Entgelt steuerlich begünstigt.

Das Ziel tarifdispositiver Regeln kann sein, Modifizierungen von Schutzgesetzen bzw. Anpassungen an Besonderheiten zuzulassen

Eine weitere Möglichkeit des Gesetzgebers seien Gesetze, die einerseits für Arbeitnehmer*innen zwingend Schutzmaßnahmen vorsehen, andererseits aber die Möglichkeit eröffneten, durch Tarifvertrag von den Maßnahmen abzuweichen. Das hätte einen gewissen Anreiz für Arbeitgeber, Tarifverträge abzuschließen.
Das hätte allerdings den Nachteil, dass man das Regelungsziel des Gesetzgebers damit preisgeben könnte. Daher könne das Ziel tarifdispositiver Regeln nur darin liegen, dass man Modifizierungen bzw. Anpassungen an Besonderheiten zuließe. Das könne allerdings auch zum Missbrauch von Tarifautonomie führen, indem Arbeitgeber selbst sich willige „Gewerkschaften“ herbeisuchten, um ihnen genehme Tarifverträge abzuschließen.

Soll ein Firmentarifvertrag nur dann von einer gesetzlichen Regelung abweichen können, wenn der Arbeitgeber zugleich durch einen Flächentarifvertrag gebunden ist?

Es gebe den berechtigten Einwand, dass dann Gewerkschaftsmitglieder benachteiligt sein könnten. Olaf Deinert meinte jedoch, dass der Einwand nicht mehr ganz so zugkräftig sei, wenn tarifdispositiver Regeln nur Modifizierungen bzw. Anpassungen an Besonderheiten zuließen. Sein Vorschlag sei zudem, dass in Haustarifverträgen nur dann von einer Regelung abgewichen werden könne, wenn der Arbeitgeber zugleich durch einen Flächentarifvertrag gebunden sei, der die Abweichung vorsehe. Das könne einen Anreiz bieten, dem Arbeitgeberverband als tarifgebundenes Mitglied beizutreten.
Darauf hatte Sibylle Wankel indessen einen differenzierten Blick. Sie wies darauf hin, dass auch große Unternehmen wie etwa VW nicht Mitglied in einem Verband seien. Aus historischen Gründen gebe es hier einen Firmentarifvertrag. Ihr Vorschlag wäre, dass man schauen müsse, ob es sich branchen- oder betriebsspezifische Abweichungen handele. Dann könne man das Problem auflösen, indem die Abweichungen gleichwertig sein müssten. Das könne verhindern, dass mit einzelnen Arbeitgebern Tarifverträge abgeschlossen würden, die das Niveau unterhalb dessen des Flächentarifvertrage zögen.

Der Tarifvertrag als Leitbild der Inhaltskontrolle bei Arbeitsverträgen

Einen Ansatzpunkt sah Olaf Deinert auch noch bei der Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen. Nach dem Gesetz stünden Tarifverträge Rechtsvorschriften im Sinne von § 307 Absatz 3 BGB gleich. Diese Vorschrift besagt, dass eine Inhaltskontrolle nur stattfindet, wenn von Rechtsvorschriften abgewichen wird. Somit fände sie auch nach Auffassung von Olaf Deinert , wenn von einem Tarifvertrag abgewichen werden würde.
Deshalb könne der Tarifvertrag zum Maßstab dafür genommen werden, was angemessen sei, gleichsam als Leitbild der Inhaltskontrolle. Weiche der Arbeitsvertrag um eine gewisse Marge (etwa um 20 Prozent) zulasten der Arbeitnehmer*innen vom Tarifvertrag ab, sei die Regelung nicht mehr angemessen.
Das hätte den Charme, dass dadurch Unterbietungswettbewerben entgegengewirkt werden könne. Zugleich werde ein Anreiz für Beschäftigte geschaffen, einer Gewerkschaft beizutreten, weil er dann mehr bekäme.

Für Arbeitslose, die in der Gewerkschaft sind, sollten Arbeitsplätze nicht angemessen sein, die die das Tarifniveau substanziell unterschreiten

Olaf Deinert schlug dem Gesetzgeber dann noch eine Modifikation beim Arbeitslosengeld und bei Hartz IV vor. Das Gesetz sieht vor, dass Arbeitslose jede zumutbare Beschäftigung annehmen müssen. Die Tendenz sei insoweit, dass jede Arbeit zumutbar sei. Wenn der Gesetzgeber regeln würde, dass Arbeit nicht zumutbar ist, die das Tarifniveau substanziell unterschreitet, gebe das auch einen gewissen Anreiz, einer Gewerkschaft beizutreten.
Sibylle Wankel zog schließlich nach einer guten halben Stunde das Fazit des Vortrages: Tarifautonomie gelänge am besten durch starke Gewerkschaften und starke Arbeitgeberverbände und durch attraktive Inhalte. „Das Weihnachtsgeld bringt bekanntermaßen weder der Weihnachtsmann, die Weihnachtsfrau noch der Gesetzgeber, sondern das machen die Tarifvertragsparteien.“

Aus der Praxis: Mitbestimmung lässt sich nicht immer einfach durchsetzen

In der anschließenden Plenumsdiskussion gesellten sich noch Dr. Wolfgang Kozak von der Arbeiterkammer Wien und Michael Martin, Vorsitzender des Konzernbetriebsrates der Sirona Dental Systems GmbH zu den Referenten. Herr Martin schilderte insbesondere Probleme aus der Praxis. Mitbestimmung lasse sich nicht immer einfach durchsetzen. Das liege an einer Gesetzgebung, die zu kurz greife, aber auch an der Internationalisierung.
Er komme aus einem Konzern, der aus sieben zuvor eigenständigen Unternehmen bestünde. Der Mutterkonzern habe seinen Sitz in den USA. Mit Hilfe der IG Metall sei es gelungen, den Arbeitgeber zum Abschluss eines Tarifvertrages für einen Konzernbetriebsrat zu überzeugen.
Dr. Wolfgang Kozak wies auf die Unterschiede zum österreichischen Recht hin. In Österreich könne durch einen Tarifvertrag die Betriebsrätestruktur nicht geregelt werden. Ein Kollektivvertrag könne vielmehr nur das regeln, was auch durch einen Arbeitsvertrag geregelt werden könne, es sei denn, der Gesetzgeber ermächtige die Tarifparteien ausdrücklich.

In Österreich ticken die Uhren anders

Anders als in Deutschland ist in Österreich ein Beschäftigter auch tarifgebunden, wenn er nicht Mitglied in der Gewerkschaft ist. Voraussetzung sei, dass der Arbeitgeber Mitglied in dem Verband sei, der den Kollektivvertrag abgeschlossen habe. Man müsse dabei berücksichtigen, dass es in Österreich parallel neben den Gewerkschaften noch das gesetzliche Kammersystem gebe. Auf Arbeitgeberseite schließe die Wirtschaftskammer und auf Arbeitnehmerseite der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) und die Arbeiterkammer die Kollektivverträge ab.
90 Prozent aller Unternehmen in Österreich seien Mitglied der Wirtschaftskammer. Obwohl Tarifverträge für alle Beschäftigten dieser Unternehmen gelten, habe der ÖGB in den letzten drei Jahren einen Mitgliederzuwachs zu verzeichnen.

Das ist insbesondere deshalb interessant, weil wir in Deutschland auch von Seiten der Gewerkschaften eine generelle Geltung der Tarifverträge ablehnen. Die Erfahrung zeigt nämlich, dass viele Beschäftigte gar nicht erst einer Gewerkschaft betreten würden, wenn sie ohnehin in den Genuss der tariflichen Ansprüche kommen. Warum das nach den Erfahrungen der österreichischen Kolleg*innen anders sein könnte, kommentierte Olaf Deinert mit den Worten, in Österreich seien offensichtlich „die Menschen anders drauf“.

Hier geht es zum Referat und der anschließenden Diskussion