Schön formulierte Unternehmensleitbilder treffen auf betriebliche Realität: Der "Geht`s noch Award" für dreiste Arbeitgeber
Schön formulierte Unternehmensleitbilder treffen auf betriebliche Realität: Der "Geht`s noch Award" für dreiste Arbeitgeber

Es gibt Preise in allen möglichen Disziplinen. Dies soll eine bewusst unsachliche Darstellung einiger willkürlich ausgewählter Kandidaten zum noch nicht erfundenen „Geht's-Noch-Award“ sein.

„Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!“ (Johann Wolfgang von Goethe)

Als junger Jurist, der soeben aus den neoklassizistischen Hallen der juristischen Fakultät in Tübingen trat, war ich mir noch recht sicher, dass Menschen - im juristischen Sinn betrachtet- nicht jede denkbare Dumm- oder Frechheit machen. Ganz unerfahren war ich nicht, hatte ich doch das Jurastudium durch zahlreiche studentische Jobs und vorrangig durch langjährige Ferienarbeit bei einem schwäbischen Automobilhersteller finanziert.

Etwas älter und lebenserfahrener musste ich diese Ansicht nach Abschluss des Referendariats revidieren: ja, manche probieren es doch und viel zu selten traf man sie in Strafverfahren bei Gericht.

Als Rechtsschützer der DGB Rechtschutz GmbH im nunmehr 25. Jahr bin ich mir sicher: Nichts ist so dumm und dreist, dass es nicht irgendein Arbeitgeber wenigstens versucht.

Dort, wo keine Kontrolle und rechtliche Beratung der Arbeitnehmer als „Opfer“ stattfindet, kommen diese Leute damit sogar durch. Rechtliche Aufklärung und Beistand durch die Gewerkschaften und den DGB-Rechtsschutz sind somit unerlässliche Elemente auf dem Weg, die Arbeitswelt wenigstens ein wenig moralischer und für die Arbeitnehmer*innen auch sicherer und besser zu machen.

„Hurra, wir beklauen die Arbeitnehmer“ (Plakat auf der Demo gegen Sozialkahlschlag 2004 in Stuttgart)

Jüngstes Beispiel und Auslöser dieses Artikels ist ein Fall aus dem nahen Saarland. Was sich zunächst wie ein typischer Fall im Tagesgeschäft anhörte, entpuppte sich als handfester Skandal:
Einem Leiharbeitnehmer wurden ca. 110,- EUR grundlos als „Vertragsstrafe“ vom Lohn abgezogen. So etwas klagt man ein, der Arbeitgeber wird verurteilt und gut ist es.

Hier bestellte sich für den Arbeitgeber der vielleicht ehrlichste Anwalt weit und breit und gab unumwunden zu, dass die 110,- EUR überhaupt nicht auf einer Vertragsverletzung beruhen, sondern die dem Arbeitnehmer auferlegten Kosten der arbeitsmedizinisch geforderten G25-Untersuchung sind.

Jetzt wird es unappetitlich: Seit Bismarcks „Kaiserlicher Botschaft“ von 1881 tragen ausschließlich die Arbeitgeber die Kosten der gesetzlichen Unfallversicherung. Das sollte jeder Arbeitgeber und erst recht jeder Anwalt wissen. In § 3 Absatz 3 des ArbSchG ist dies vom Gesetzgeber in erfrischender Deutlichkeit formuliert worden: „Kosten für Maßnahmen nach diesem Gesetz darf der Arbeitgeber nicht den Beschäftigten auferlegen“.

Die arbeitsmedizinische G25-Unterschung kostet auch nicht 110,- EUR, sondern beim normalen 1,3-fachen Satz nach der Gebührenordnung der Ärzte (GOÄ) nur rund 70,- EUR.

Da bewegt sich ein Leiharbeitsunternehmen am Markt, das offensichtlich seinen Arbeitnehmern die eigene Kostenpflicht für arbeitsmedizinische G-Untersuchungen als Arbeitnehmerpflicht aufschwatzt und auferlegt und gleich noch 40,- EUR für sich selbst abzweigt. Bereichert man sich so an allen Arbeitnehmern, kommt da schon eine nette Summe zusammen und man verschafft sich auch gleich noch einen Wettbewerbsvorteil. Wir sind hier schnell im Bereich der Urkundenfälschung und des Betrugs bzw. Unterschlagung, ein Fall für die Behörden und die Staatsanwaltschaft.

Wie war das am Anfang? Es geht immer noch dümmer, leider auch dreister und unverschämter.

„Jede Dummheit findet einen, der sie macht“ (Tennessee Williams)

Selbst Unternehmen von Weltruf und -rang reihen sich, nachdem sie sich vollmundig klingende Leitbilder gegeben haben, in die Schlange zum „Geht's-noch-Award“ ein. Da leistet sich eine Personalleiterin nach einem verlorenen Prozess eine persönliche Fehde mit einer Montagemitarbeiterin und schreckt auch davor nicht zurück, falsche Behauptungen unter dem Briefkopf der Konzernmutter gegenüber einer Krankenkasse zu erheben. Unternehmerische ethische Selbstkontrolle oder Unrechtsbewusstsein? Keine Spur davon. Beim Fußball heißt das „Nachtreten ohne Ball“ und führt zur gelben Karte…

Ein anderer Personalleiter eines Betriebs eines Weltkonzerns ruft im Konfliktfall mit Arbeitnehmer*innen die im Betrieb mitarbeitenden Familienangehörigen ins Personalbüro und versucht so Einfluss auf das „schwarze Schaf“ zu nehmen und so seine Interessen durchzusetzen. Sippenhaft als Personalführungselement? Jede Arbeitnehmerin und Arbeitnehmer kann nachvollziehen, dass der aufgezwungene Gang zum Personalleiter in einer völlig fremden Sache -neudeutsch- kein „Must Have“ ist und auch keinen Klick auf den „Like“-Button verdient.

„Wer dem Arbeiter seinen Lohn nicht gibt, der ist ein Bluthund“ (Bibel: Jesus Sirach 34,27)

„Lug und Trug“ sind heute ständige Begleiter beim Gang zum Arbeitsgericht. Trotz Änderungen in der Rechtsprechung bei Darlegung der Beweislast über geleistete Überstunden sind diese Prozesse oft schwer zu führen und langwierig. Arbeitgeber bestreiten häufig sogar dann noch die Leistung von Überstunden, nachdem diese zuvor den Kunden in Rechnung gestellt wurden.

In einem über das Büro Pirmasens geführten Fall half uns der glückliche Umstand, dass der Arbeitgeber das Kundendienstfahrzeug des Klägers mit einem Gerät ausgerüstet hatte, das die GPS-Daten exakt nach Ort und Zeit aufzeichnete. Hiervon wusste der Kläger zunächst nichts. Der Arbeitgeber und sein Anwalt bestritten vor dem Arbeitsgericht vehement die Überstundenleistung, bis aus der Kanzlei des Anwalts versehentlich die kompletten GPS-Bewegungsdaten des Firmenwagens vorgelegt wurden. Diese stimmten exakt mit unserem Sachvortrag überein. Ein kleiner Prozessbetrug, nachweisbar durch Urkundenbeweis? Schnell konnte ein Vergleich einschließlich Zinsen geschlossen werden.

Beliebt ist das Leugnen von Mehrarbeit auch in der Gastronomie: während der Chef direkt nach der Restaurant-Neueröffnung in seinen verdienten Fernreiseurlaub entschwindet, schafft sich der Küchenchef, der in Personalunion auch noch Restaurantleiter ist, krumm. Rund 300 Stunden hat er im ersten Monat geleistet. Natürlich werden vom Arbeitgeber im Verfahren vor dem Arbeitsgericht die Leistung der Überstunden bestritten und auch getäuscht, bis aufgrund unseres Vortrags die Abgabe an die Staatsanwaltschaft droht und man sich doch besser auf die fast vollständige Zahlung der Überstunden besinnt, natürlich aus rein „prozessökonomischen Gründen“.

„Klug ist nicht, wer keine Fehler macht. Klug ist der, der es versteht, sie zu korrigieren“ (Wladimir Iljitsch Lenin)

Was sonst nur in Hollywoodfilmen über Börsentycoone zu sehen ist, gilt auch in der pfälzischen Provinz: die Gier als unternehmerisches Prinzip.

Ein mittelständisches Unternehmen vergisst- tatsächlich versehentlich- bei ERA-Einführung einen Entgeltbestandteil korrekt fortzuführen. Wegen des komplizierten Abrechnungssystems und der unübersichtlichen Entgeltabrechnung merkt es der Arbeitnehmer erst, als dieser Entgeltbestandteil ein Minuszeichen trägt. Der Betriebsrat errechnet über die Jahre einen Fehlbetrag von rund 20.000,- EUR.

Im Verfahren vor dem Arbeitsgericht verlor diesmal leider die gute Seite. Der Anspruch war größtenteils verjährt und verfristet. Mehr als ein Bagatellbetrag konnte nicht durchgesetzt werden. Das Prinzip der gesetzlichen Verjährung und der Ausschlussfristen hat dies vereiteltet, irgendwann soll einfach Rechtsfrieden gerade im Arbeitsverhältnis herrschen. Ähnliches kennt man von Hochzeiten: „…der möge jetzt sprechen oder für immer schweigen“.

Unabhängig davon bleibt es einem sich nach seinem vollmundig klingenden Leitbild ethisch korrekt handelndem Unternehmen natürlich unbenommen, für gemachte Fehler auch tatsächlich die Verantwortung zu übernehmen. Wer je wissen wollte was Ethik und Moral in Geld wert sind: keine 20.000,- EUR!

„Die Welt ist ganz erbärmlich schlecht“ (frei nach Paul Baehr)

Wer als Arbeitnehmer*in schon einmal den Chef um eine berechtigte Lohnerhöhung bat, kennt vielleicht diese Antwort: „Sie wollen unser Unternehmen verlassen?“. Zwar fällt nicht das Wort „Kündigung“, die Botschaft selbst ist aber eindeutig. Spielt diese Drohung irgendwann keine Rolle mehr, weil z.B. das Arbeitsverhältnis endet, so wird erbittert gestritten wie dieser unternehmerische Hinweis gemeint war und ob deshalb die zunächst nicht weiterverfolgten Ansprüche noch durchsetzbar sind. Allein kann dies kein Arbeitnehmer stemmen, ein aktueller Fall aus dem Rechtsschutz.

„Die Moral von der Geschicht“ ?“ (frei nach Wilhelm Busch)

Erstens, es gibt viele faire Betriebe und leider auch zunehmend solche, die Moral und Anstand nicht kennen und mit rüden Methoden und harten Bandagen ihren täglichen Vorteil suchen. Und zweitens braucht es Mut und einen starken Partner, damit die Gerechtigkeit und die Moral nicht auf der Strecke bleiben.

Zwar gibt es den Ratschlag, dass der Klügere nachgeben soll, zumindest die Arbeitswelt darf aber nicht von den Dummen und Dreisten beherrscht werden. Jedes Mal, wenn sich Arbeitnehmer*innen zur Wehr setzen, wird ein Schritt zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und hin zu mehr Gerechtigkeit gemacht. Die Beispiele sollen zeigen, dass noch viel zu tun ist und noch kein Ende der nach oben offenen Dreistigkeitsskala erreicht ist. Wehren wir uns!