Ein tragendes Prinzip des Rechtsstaates ist die Gewaltenteilung. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass staatliche Gewalt in dreifacher Ausprägung daherkommt:
als diejenige Gewalt, die

  1. die Gesetze schafft (gesetzgebende Gewalt - Legislative)

  2. die Gesetze anwendet (ausführende Gewalt  - Exekutive) und

  3. die überprüft, wie die Gesetze korrekt anzuwenden sind (Rechtsprechung  - Judikative)

Anders als in Staaten wie etwa Diktaturen oder absolutistischen Monarchien, wird in einem Rechtsstaat hoheitliche Gewalt nicht von ein und derselben Institution ausgeübt. Die drei Bereiche staatlicher Gewalt üben vielmehr drei Institutionen aus, die voneinander unabhängig sind (Parlamente, Regierungen und Gerichte).


In einem Rechtsstaat gibt es drei unabhängige staatliche Gewalten

In Deutschland als föderativem Staat kommt noch hinzu, dass alles gleich doppelt vorhanden ist. In unserem Land ist genau bestimmt, für welche Bereiche das Bundesland und für welche Bereiche der Bund zuständig ist. Gewaltenteilung besteht in Deutschland auf beiden Ebenen. Das Prinzip ist so stark verankert, dass die Parlamente es nicht einmal einstimmig abschaffen können. Ohne Gewaltenteilung wäre die Bundesrepublik als Rechtsstaat abgeschafft.

In einem Rechtsstaat dürfen Regierungen und Verwaltung als Exekutive keine Gesetze erlassen, sie dürfen sie nur anwenden. Und dabei können unabhängige Gerichte überprüfen, ob die Verwaltung das Recht richtig abgewendet hat. Die Parlamente sind zwar die Institutionen, die die Gesetze schaffen. Aber auch sie können nicht willkürlich irgendwelche Gesetze schaffen. Die Verfassungsgerichte der Länder und das Bundesverfassungsgericht können überprüfen, ob sich die Parlamente auch an die Verfassung gehalten haben.


Deutschland ist in ein komplexes System von „Checks and Balances“ eingebunden

Als Mitgliedsstaat der Europäischen Union ist Deutschland zudem auch noch an Europäisches Recht gebunden. Auch auf dieser Ebene gibt es eine „dritte Gewalt“, die gegebenenfalls staatliches Handeln überprüft: den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Und dann sind da noch eine Menge internationale Institutionen und Verträge, die das Handeln aller drei Hoheitsbereiche in Deutschland überprüfen können. Etwa die Europäische Menschenrechtskonvention mit dem Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (RGMR).
Die gesamte Staatsgewalt ist also eingebunden in ein System von „Checks and Balances“, das die Aufrechterhaltung der Gewaltenteilung in einem Staat ermöglichen und langfristig sicherstellen soll.


In einem Rechtsstaat kann die gesetzgebende Gewalt die ausführende Gewalt in Grenzen ermächtigen, untergesetzliche Normen zu erlassen

Jetzt kann man sich aber schwer vorstellen, dass alles in einem komplizierten Gesetzgebungsverfahren geregelt wird. Da würde vieles noch viel länger dauern, als es ohnehin schon dauert. Deshalb gibt es auch Rechtsvorschriften, die keine Gesetze sind, so genannte untergesetzliche Normen. Dazu gehören Rechtsverordnungen, die durch die vollziehende Gewalt erlassen werden können. Ein Beispiel hierfür ist die Straßenverkehrsordnung.
Wegen der Gewaltenteilung darf die Exekutive solche Rechtsverordnungen aber nicht ohne ausdrückliche Ermächtigung durch den Gesetzgeber erlassen. Das nennt sich in einem Rechtsstaat „Vorbehalt des Gesetzes“. In einem Gesetz muss etwa die Regierung, ein Minister oder eine konkrete Behörde dazu ermächtigt werden, bestimmte Dinge durch eine Rechtsverordnung zu regeln. So ermächtigt etwa das Straßenverkehrsgesetz den Verkehrsminister eine Rechtsverordnung zu erlassen, die die Verkehrsregeln näher bestimmt.


Voraussetzung für die Ermächtigung ist ein förmliches Gesetz, das Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung regelt

Die Ermächtigung muss in einem förmlichen Gesetz verankert sein, das hinreichend bestimmt gefasst ist. Artikel 80 des Grundgesetzes (GG) bestimmt insoweit, dass durch Gesetz die Bundesregierung, ein Bundesminister oder die Landesregierungen ermächtigt werden kann, Rechtsverordnungen zu erlassen. Dabei müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im selben Gesetz bestimmt werden. Die Rechtsgrundlage ist in der Verordnung anzugeben.
Der Gesetzgeber darf indessen nicht seine Aufgaben ohne Weiteres auf die Verwaltung abwälzen. Vielmehr sind Art und Umfang einer Ermächtigung auch an Regeln gebunden.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat insoweit die „Wesentlichkeitstheorie“ entwickelt. Wesentliche Fragen der Grundrechtsausübung und -eingriffe im Bereich der untergesetzlichen Normsetzung muss das Parlament selbst regeln. Hierzu gibt es eine Fülle von Entscheidungen, etwa das Urteil „NC Humanmedizin“ zur Studienplatzvergabe aus dem Jahr 2017. Hier musste das BVerfG überprüfen, ob Hochschulen Kriterien für eine Vergabe von Studienplätzen selbst festlegen dürfen, wenn es nur eine begrenzte Anzahl („Numerus Clausus“) gibt.


Der Gesetzgeber darf die Exekutive nicht ermächtigen, Vorschriften zu erlassen, zu denen allein der demokratisch legitimierte Gesetzgeber befugt ist

Das BVerfG hat entschieden, dass der Bundestag untergesetzlichen Normgebern von Verfassungs wegen nicht die Kompetenz einräumen darf, den parlamentsgesetzlichen Katalog durch selbst entwickelte Auswahlkriterien zu ergänzen oder zu erweitern. Zur Regelung dieser für die Grundrechtsverwirklichung wesentlichen Frage sei allein der demokratisch legitimierte Gesetzgeber befugt. Er dürfe hier seine Regelungsverantwortlichkeit nicht auf Dritte delegieren, sondern müsse die Art der Auswahlgrundlagen abschließend regeln.
Demnach kann das BVerfG auch im Fall des dritten Bevölkerungsschutzgesetzes im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens überprüfen, ob der Gesetzgeber hier seine Ermächtigungskompetenz überschritten hat.

Mit dem Ermächtigungsgesetz 1933 hat das Parlament sich selbst entmachtet

Das Ermächtigungsgesetz 1933 war etwas völlig anderes. In diesem Gesetz ging es überhaupt nicht um untergesetzliche Normen. Vielmehr regelte das äußerst knapp gehaltene Gesetz, dass außer den Reichstag auch die Regierung Gesetze erlassen kann. Auch stand in diesem Gesetz nichts von Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung. Sie galt vielmehr universell.
Offiziell hieß die Vorschrift „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ und war nichts anderes als eine Ausschaltung des Reichstages und die Abschaffung der Gewaltenteilung. Nicht einmal internationale Verträge musste das Parlament noch ratifizieren. Außerdem war ausdrücklich geregelt, dass die von der Regierung erlassenen Gesetze von der Reichsverfassung abweichen dürfen.

Fraglich ist, ob § 28a InfSG nach der Wesentlichkeitstheorie verfassungsgemäß ist

Das dritte Bevölkerungsschutzgesetz darf man selbstverständlich kritisieren. Insbesondere der durch das Gesetz neu in das Infektionsschutzgesetz (InfSG) eingeführte § 28a enthält sicherlich auch die ein oder andere Regelung, die problematisch ist. Auch ermächtigt die Vorschrift die Bundesregierung bzw. den Gesundheitsminister, erheblich in Grundrechte einzugreifen. Ob das nach der Wesentlichkeitstheorie in der jetzigen Form verfassungsgemäß ist, wird sich zeigen. Auf jeden Fall können die Gerichte jede auf Grundlage der Ermächtigung erlassene Verordnung dahingehend überprüfen, ob die Regierung überhaupt die Grenzen der Ermächtigung beachtet hat und ob die getroffenen Regelungen einen legitimen Zweck dienen und erforderlich, geeignet und angemessen sind (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz).

Wer jetzt aber die Ermächtigung durch das dritte Bevölkerungsschutzgesetz bzw. § 29a InfSG mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933 vergleicht ist bestenfalls ein Tor.
Auf Grundlage des damaligen Gesetzes haben die Nazis innerhalb weniger Monate sämtliche Parteien außer der NSDAP verboten. Sie haben die Gewerkschaften zerschlagen und deren Vermögen einen Tag nach dem ersten Mai 1933 samt sämtlicher Gewerkschaftshäuser beschlagnahmt.

Das Ermächtigungsgesetz 1933 ermächtigte das Naziregime zu Angriffskrieg und Holocaust

Bereits im April 1933 erließ die Reichsregierung das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, auf dessen Grundlage ein großer Teil aller Beamt*innen entlassen wurden, insbesondere Regimegegner und Angehörige eine Bevölkerungsgruppe, die die Nazis wider jeder Grundlage als Angehörige einer nicht existenten „jüdischen Rasse“ ansahen.
Das Gesetz war Grundlage einer Politik, die in eine brutale Diktatur, zu von Deutschland brutal geführten Vernichtungskriegen in halb Europa und zu Auschwitz geführt hat.
Und § 28a InfSG? Er bestimmt, dass im Rahmen der Bekämpfung des Coronavirus SARS-CoV-2 k:für die Dauer der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite:k, die der Deutsche Bundestag feststellt, bestimmte Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie notwendig sein können.
Die Vorschrift führt der Gesetzgeber also gerade wegen den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Parlamentsvorbehalts aus Artikel 80 GG ein. In der Begründung zu dem Entwurf heißt es, dass es um eine gesetzliche Präzisierung im Hinblick auf Dauer, Reichweite und Intensität möglicher Maßnahmen geht.

Es geht darum, dem Parlamentsvorbehalt gerecht zu werden

Auch bis dato hatte die Bundesregierung bereits Verordnungen zu Corona-Pandemie erlassen. Grundlage dafür war eine Generalklausel in § 28 InfSG. Hier wird bestimmt, dass „die Behörde“ die „notwendigen Schutzmaßnahmen“ treffen kann. Mit der neuen Vorschrift werden diese Maßnahmen konkretisiert.
Darüber hinaus kann die Exekutive die in § 28a Absatz 1 InfSG beschriebenen Maßnahmen nur veranlassen, wenn der Bundestag eine epidemische Lage von nationaler Tragweite festgestellt hat und darf sie umgekehrt nicht mehr veranlassen, wenn der Bundestag festgestellt hat, dass eine solche Lage nicht mehr besteht.

Das dritte Bevölkerungsschutzgesetz dient also  - anders als von vielen Demonstranten lautstark vorgebracht  - also nicht dazu, den Rechtsstaat abzuschaffen. Im Gegenteil: viele bisherige Maßnahmen in der Pandemie waren verfassungsrechtlich eher grenzwertig. Mit § 28a InfSG gibt es jetzt endlich eine Rechtsgrundlage für durch die Regierung erlassene untergesetzliche Normen, die nicht nur Generalklausel ist.

Ob die Vorschrift notwendig, angemessen, ausreichend oder überhaupt verfassungsgemäß ist, darüber können und sollten wir munter streiten. Aber wir sollten tunlichst die Finger von unseriösen und unhistorischen Vergleichen lassen. Jeder darf das Handeln der Bundesregierung und der Landesregierungen in der Pandemie kritisieren. Aber populistisch die Bundesregierung mit dem Hitlerregime und das dritte Bevölkerungsschutzgesetz mit dem Ermächtigungsgesetz zu vergleichen ist nicht nur unerhört den politisch Handelnden gegenüber, sondern in höchstem Maße zynisch angesichts der Millionen Opfer des Naziregimes.
 
Hier geht es zum Regierungsentwurf des dritten Bevölkerungsschutzgesetzes
Hier geht es zum Ermächtigungsgesetz 1933