Eine behindertengerechte Toilette gab es für die Auszubildende nur ein Stockwerk höher und schwer zu erreichen.  Copyright by asbe24/fotolia
Eine behindertengerechte Toilette gab es für die Auszubildende nur ein Stockwerk höher und schwer zu erreichen. Copyright by asbe24/fotolia


Im August 2018 begann das Ausbildungsverhältnis der Klägerin zur Verwaltungsfachangestellten. Die junge Frau bewegt sich mit dem Rollstuhl fort. Bei ihr ist ein Grad der Behinderung von 100 festgestellt sowie die Voraussetzungen für die Merkzeichen G (gehbehindert), aG (außergewöhnlich gehbehindert), H (hilflos) und B (Begleitung erforderlich).

Gesundheitliche Einschränkungen waren bekannt

Der Behörde war die Schwerbehinderung im Einzelnen bekannt. Es gab eine Einstellungsuntersuchung, die eine uneingeschränkte Berufstauglichkeit in gesundheitlicher Hinsicht bescheinigte. Im Gesundheitszeugnis war vermerkt, dass der Arbeitsplatz sowie die Toiletten gut erreichbar sein müssen und die Klägerin aufgrund ihrer gesundheitlichen Einschränkungen zum Teil verlangsamt arbeitet.

Die beklagte Stadt versuchte Ende Oktober 2018 das Ausbildungsverhältnis innerhalb der Probezeit zu kündigen. Was war passiert? Man hatte die Auszubildende einmal schlafend an ihrem Arbeitsplatz vorgefunden. Daraus schloss man, die gesundheitlichen Einschränkungen müssten wohl gewichtiger sein als erwartet. Der Erschöpfungszustand zeige, dass die Klägerin den steigenden Anforderungen der Ausbildung nicht gewachsen sein könne.

Grundsatz: Kein Kündigungsschutz während der Probezeit

Die junge Frau erhob mit Hilfe des DGB Rechtsschutz Büros Gelsenkirchen Klage. Kein so einfaches Unterfangen, denn die Auszubildende war noch in ihrer dreimonatigen Probezeit. Die Kündigungsmöglichkeit ist während der Probezeit stark erleichtert. Ausbilder und Azubi können innerhalb der vereinbarten Probezeit jederzeit, ohne Einhaltung einer Frist und ohne besonderen Grund kündigen.

Nur ausnahmsweise kann eine Kündigung in der Probezeit unwirksam sein, wenn sie sich bei einer allgemeinen Rechtskontrolle etwa als willkürlich, sittenwidrig oder diskriminierend herausstellt.

Ausnahme: Diskriminierende Kündigung ist unwirksam

Erfreulicherweise sahen die Richter*innen beim Arbeitsgericht Gelsenkirchen hier eine Ausnahme.

Die Klage stützte sich auf die diskriminierende Wirkung der Kündigung. Zudem wurde ein Verstoß gegen Treu und Glauben, gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz sowie gegen Verfassungsrecht und europäisches Recht vorgebracht.

AGG gilt auch in der Probezeit von Ausbildungsverhältnissen

Zunächst stellte das Gericht klar, dass das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) anzuwenden ist. Für die Kündigung eines Berufsausbildungsverhältnisses in der Probezeit gelte nichts anderes als bei einer Kündigung eines Arbeitsverhältnisses in den ersten sechs Monaten, wo während der Wartezeit das Kündigungsschutzgesetz noch nicht gilt. Nach dem AGG (umgangssprachlich Antidiskriminierungsgesetz) sind Benachteiligungen aus Gründen einer Behinderung verboten.

Damit gab es für die Richter*innen eine Basis, um zu prüfen, ob die Kündigung die Auszubildende diskriminiert.

Die Arbeitsumgebung war weder barrierefrei noch leidensgerecht

Ein wichtiger Punkt ist dabei, wie der Arbeitsplatz der Klägerin im Rathaus gestaltet war. Sie wurde an einem Arbeitsplatz eingesetzt, der nicht barrierefrei war. Unter anderem war der Besuch der Toilette trotz eines vorhandenen Aufzuges mit erheblichen Schwierigkeiten für die Auszubildende verbunden.

Zudem sei es dem Arbeitgeber zumutbar, bei einer schwerbehinderten Auszubildenden eine längere Umstellungs- und Anpassungszeit abzuwarten.

Klägerin wird durch die Kündigung wegen der Behinderung unmittelbar benachteiligt

Das Gericht bestätigt einen Zusammenhang zwischen Behinderung und Kündigung. Das Einschlafen am Arbeitsplatz stehe ebenso wie die nicht leidensgerechte Arbeitsumgebung in einem engen Zusammenhang mit der Schwerbehinderung der Klägerin. Die beklagte Stadt konnte das letztlich nicht widerlegen. Sie hätte dafür darlegen müssen, dass die Gründe der Kündigung nicht in der Behinderung liegen.

Die Probezeitkündigung hat das Ausbildungsverhältnis also nicht aufgelöst.


Das vollständige Urteil des Arbeitsgerichts Gelsenkirchen können Sie hier nachlesen.

Weitere Infos zu den Rechten der Azubis in der Ausbildung gibt es hier.

Das sagen wir dazu:

In dieser Stadtverwaltung finden sich offenbar Barrieren nicht nur in den Gebäuden, sondern auch in so manchen Köpfen. Zu einer Kündigung und einem Rechtsstreit hätte es hier nicht kommen müssen. Personalrat, Schwerbehindertenvertretung und Betriebsärztin hatten sich darüber ausgetauscht, welche Schwierigkeiten die örtlichen Gegebenheiten verursachen und wie diese im Zusammenhang mit den gesundheitlichen Einschränkungen der Klägerin eventuell vermieden werden könnten.

Lösungsvorschläge stoßen auf taube Ohren

Der Personalrat und insbesondere die Schwerbehindertenvertretung hatten gezielte und realisierbare Vorschläge unterbreitet. Die Stadtverwaltung nahm diese aber nicht an, sondern setzte die Kündigungsabsicht durch.Die Auszubildende hatte sich nach anfänglichem Zögern auch vor Ausspruch der Kündigung bereit erklärt, eine Arbeitsassistenz zu beantragen. Die Arbeitsassistenz soll Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung eine Hilfestellung bei der Arbeitsausführung benötigen, ansonsten aber in der Lage sind, ihre arbeitsvertraglichen Pflichten zu erfüllen, die Teilhabe am Arbeitsleben ermöglichen. Die Stadtverwaltung hatte zwar zunächst eine solche Arbeitsassistenz angeregt, offenbar war für sie die Sache aber erledigt, als die Klägerin anfangs ablehnte.

Ausbildung stellt an schwerbehinderte Menschen besondere Anforderungen

Die Richter*innen beim Arbeitsgericht Gelsenkirchen haben sich gut in die Situation der Auszubildenden eingefunden. Sie haben bedacht, dass für jeden Azubi die Umstellung vom Schulalltag in den Berufsalltag körperlich belastend ist und die Umstellung für die schwerbehinderte Klägerin erschwert ist. Sie haben auch bedacht, dass die nicht barrierefreie Arbeitsumgebung mit der durch die Behinderung reduzierten körperlich Belastbarkeit zusammentrifft. Erfreulicherweise haben sie daraus den Schluss gezogen, dass die Kündigung im Zusammenhang mit der Behinderung steht und damit gegen das Benachteiligungsverbot verstößt.

„Das Ergebnis ist einfach gerecht und tut richtig gut“

Das sagt Neslihan Celik vom DGB Rechtsschutz Gelsenkirchen, die die Klägerin im Verfahren vertreten hat. Die Stadt kann noch Berufung beim Landesarbeitsgericht einlegen. Für die Auszubildende hoffen wir, dass das Urteil rechtskräftig wird und die Klägerin nun die erforderliche Unterstützung erhalten wird, um einen Weg ins Berufsleben zu finden.

Rechtliche Grundlagen

§ 3 TVAöD, § 7 AGG

Tarifvertrag für Auszubildende des öffentlichen Dienstes (TVAöD) - Besonderer Teil BBiG -
§ 3 Probezeit
(1) Die Probezeit beträgt drei Monate.
(2) Während der Probezeit kann das Ausbildungsverhältnis von beiden Seiten
jederzeit ohne Einhalten einer Kündigungsfrist gekündigt werden.

Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG)
§ 7 Benachteiligungsverbot
(1) Beschäftigte dürfen nicht wegen eines in § 1 genannten Grundes benachteiligt werden; dies gilt auch, wenn die Person, die die Benachteiligung begeht, das Vorliegen eines in § 1 genannten Grundes bei der Benachteiligung nur annimmt.
(2) Bestimmungen in Vereinbarungen, die gegen das Benachteiligungsverbot des Absatzes 1 verstoßen, sind unwirksam.
(3) Eine Benachteiligung nach Absatz 1 durch Arbeitgeber oder Beschäftigte ist eine Verletzung vertraglicher Pflichten.
§ 1 Ziel des Gesetzes
Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.