Wenn eine Regelung einen Ausgleich für Mehrarbeit vorsieht, muss dies auch für Lehrer gelten, die vorzeitig in Pension gehen.
Wenn eine Regelung einen Ausgleich für Mehrarbeit vorsieht, muss dies auch für Lehrer gelten, die vorzeitig in Pension gehen.

Sie waren infolge Dienstunfähigkeit vorzeitig pensioniert worden und konnten deshalb den vorgesehenen Ausgleich nicht (vollständig) erhalten.

Die von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und DGB Rechtsschutz GmbH geführten Verfahren waren beim Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) erfolgreich. Die schleswig-holsteinische Regelung verletzt die Lehrer*innen in ihrem Recht auf Gleichbehandlung.

Die umstrittene sog. Vorgriffsstunden- regelung sieht der Pflichtstundenerlass des Landes Schleswig-Holstein vor. Danach erhöhte sich für einen bestimmten Zeitraum die wöchentliche Unterrichtsverpflichtung um eine halbe Stunde pro Woche; diese Mehrarbeit sollte in einem entsprechenden Zeitraum vor dem Erreichen der Regelaltersgrenze durch eine Stunde weniger Unterricht ausgeglichen werden.

Kein Ausgleich infolge vorzeitiger Pensionierung

Lehrkräfte, die vor Erreichen der Regelaltersgrenze infolge Dienstunfähigkeit vorzeitig in den Ruhestand versetzt wurden, konnten vom vorgesehenen Unterrichts-Ausgleich tatsächlich nicht oder nicht mehr vollständig profitieren.


Eine finanzielle Ausgleichsleistung war auch nicht möglich, da die Regelung in Schleswig-Holstein eine finanzielle Abgeltung ausdrücklich ausschloss. Die betroffenen Lehrkräfte sahen sich deshalb benachteiligt und in ihren Rechten verletzt, weil im Pflichtstundenerlass keine Kompensation zu Gunsten der vorzeitig pensionierten Lehrkräfte vorgesehen war.

Argumentation des Landes Schleswig-Holstein

Das Land Schleswig-Holstein verteidigte seine Regelung mit dem Argument, dass die Vorgriffsstunden nur die Unterrichtszeit, nicht aber die Gesamtarbeitszeit der Lehrer*innen veränderten. Unterrichtszeit stelle nämlich nur einen Teil der Arbeitsverpflichtungen dar. 


Daneben hätten Lehrer*innen auch außerunterrichtliche Verpflichtungen wie Vor- und Nachbereitung, Korrektur von Klassenarbeiten, Klassenfahrten, Konferenzen etc.. Das Land sei frei, wie es das Verhältnis der für Unterricht aufzuwendenden Arbeitszeit und der Arbeitszeit für Verpflichtungen außerhalb von Unterricht einschätze und festlege.


Die Vorgriffsstundenregelung betreffe nur den Umfang der Unterrichtszeit, indem sie für einen vorübergehenden Zeitraum mehr Unterricht und im Ausgleichszeitraum weniger Unterricht festlege. Damit sei die Arbeitszeit nur konkretisiert, aber nicht verändert worden; die Lehrerarbeitszeit sei insgesamt gleich geblieben.

Kein Erfolg der Klagen beim Oberverwaltungsgericht

Das Oberverwaltungsgericht (OVG) folgte der Argumentation des Landes Schleswig-Holstein und wies die Klagen ab. Es teilte die Auffassung des Landes, die Vorgriffstundenregelung sei keine Arbeitszeitregelung. 


Die regelmäßige Lehrerarbeitszeit werde nicht über einen längeren Zeitraum ungleich verteilt, da lediglich eine Änderung der Unterrichtsverpflichtung mit Einführung der Vorgriffsstunden verbunden sei. Die Arbeitszeiten würden nur schwerpunktmäßig auf den Unterrichtsbereich verlagert. Die Vorgriffsstundenregelung stelle daher – anders etwa als Regelungen in Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen – keine Regelung über ein verpflichtendes Arbeitszeitkonto dar.

Regelung verstößt gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz

Beim Bundesverwaltungsgericht waren die Klagen dagegen erfolgreich. Nach Auffassung der obersten Verwaltungsrichter benachteiligt die schleswig-holsteinische Regelung in unzulässiger Weise die pensionierten Lehrer*innen, die nicht mehr in den Genuss des Stunden-Ausgleichs kommen können.


Die Regelung verstößt daher gegen den verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz (Art.3 Abs.1 GG). Die Ungleichbehandlung besteht zum einen gegenüber den Lehrern, die keine Vorgriffsstunden geleistet haben, zum anderen gegenüber den Lehrern, denen ein vollständiger Zeitausgleich gewährt worden ist.


Die Ungleichbehandlung ist auch nicht sachlich gerechtfertigt. Das Land Schleswig-Holstein hat sich dafür entschieden, die Arbeitszeit der Lehrer infolge des später vorgesehenen Ausgleichs nicht zu erhöhen. Ohne einen Ausgleich käme es aber bei der Gruppe der vorzeitig pensionierten Lehrer*innen faktisch zu einer Erhöhung der Pflichtstundenzahl und damit auch der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit. 


Nach Auffassung des BVerwG muss das Land Schleswig-Holstein deshalb eine anderweitige Regelung in den Fällen vorsehen, in denen ein Freizeitausgleich faktisch nicht möglich ist. Dieser Ausgleich kann zum Beispiel in einer pauschalen Vergütung bestehen.

Anmerkung der Redaktion: 

Erstaunlich ist, dass das Land Schleswig-Holstein das OVG noch mit seiner Argumentation, die Vorgriffsstunden erhöhten nur die Unterrichts – nicht aber die Arbeitszeit der Lehrkräfte, überzeugen konnte. Denn, träfe dies zu, fragt sich, weshalb das Land einen späteren Ausgleich überhaupt als erforderlich angesehen hat. 


Durch seine Ausgleichsregelung hat es selbst zum Ausdruck gebracht, dass nur der spätere Ausgleich eine Erhöhung der Arbeitszeit in dem Zeitraum verhindert, in dem eine halbe Stunde pro Woche mehr Unterricht geleistet werden muss. 


Es ist auch nicht nachvollziehbar, wieso ein Mehr an Unterrichtsstunden keinen Einfluss auf die Arbeitszeit der Lehrer insgesamt haben soll. Mehr Unterrichtszeit beeinflusst zum einen zwangläufig auch die Arbeitszeit; zum anderen wirkt sich eine höhere Unterrichtsstundenverpflichtung auch auf die Arbeitsverpflichtungen außerhalb des Unterrichts aus, weil sich auch die zeitliche Belastung für Vor – und Nachbereitungszeit und Korrekturzeit für Klassenarbeiten erhöht.


Lehrer*innen haben also über mehrere Jahre Mehrarbeit geleistet, für die ein späterer Ausgleich vorzusehen war. Vorzeitig pensionierte Lehrkräfte von jedem Ausgleich faktisch auszuschließen, benachteiligt diese Lehrer*innen ohne sachlichen Grund, zumal die Ungleichbehandlung durch eine Regelung über eine finanzielle Ausgleichszahlung ohne weiteres vermeidbar gewesen wäre. Beruht die vorzeitige Pensionierung vor Erreichen der Regelaltersgrenze auf einer Behinderung, stellt der  fehlende Ausgleich außerdem eine Diskriminierung behinderter Menschen und damit auch einen Verstoß gegen die europäische Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/78/EG dar.