In seiner Entscheidung vom 28.09.2017 weist das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) darauf hin, dass eine Entscheidung ohne die gesetzlich vorgesehene Besetzung der Kammer oder des Senats allenfalls in dringenden Fällen zulässig ist.

Beschwerdeführer begehrt Berufsausbildungsbeihilfe - Sozialgericht gibt Antrag statt

Ein Auszubildender hatte Berufsausbildungsbeihilfe beantragt. Die zuständige Behörde lehnte ab. Das Sozialgericht (SG) verpflichtete die Bundesagentur daraufhin, dem Beschwerdeführer bis zur Entscheidung in der Hauptsache vorläufig Berufsausbildungsbeihilfe dem Grunde nach zu gewähren.

Alleinentscheidung durch Landessozialgerichts Vorsitzenden hebt Sozialgerichts Entscheidung auf

Die Bundesagentur für Arbeit legte Beschwerde gegen die Entscheidung des Sozialgerichts beim Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg ein. Darüber hätte der gesamte Senat entscheiden müssen. Statt dessen entschied der Vorsitzende allein. Er berief sich auf eine entsprechende Anwendung „… von § 155 Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)". Hiernach kann der Vorsitzende in dringenden Fällen eine Entscheidung allein treffen. Warum §155 Abs. 2 SGG entsprechend anzuwenden sei, ließ er jedoch offen.
Gegen die Alleinentscheidung des Vorsitzenden wandte sich der Auszubildende mit einer Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG).

Wesentliche Entscheidungsgründe des Bundesverfassungsgerichts

In seiner Entscheidung weist das BVerfG daraufhin, dass das Recht auf den gesetzlichen Richter auch objektives Verfassungsrecht enthalte. Dieser Grundsatz diene der Sicherung von Rechtsstaatlichkeit im gerichtlichen Verfahren. Es müsse feststehen, welches Gericht, welcher Spruchkörper und welche Richter zur Entscheidung jedes Streitfalles berufen seien. Diese Regelungen seien für die Gerichte verbindlich. Sie dürfen sich nicht darüber hinwegsetzen, sondern haben von sich aus über deren Einhaltung zu wachen. Darüber hinaus haben die Rechtssuchenden einen Anspruch darauf, dass der gesetzliche Richter über den Rechtsstreit entscheidet. Geschieht dies nicht, können sie die Beachtung der Zuständigkeitsordnung fordern und deren Missachtung im Wege der Verfassungsbeschwerde rügen.

Beschwerdeführer wurde seinem gesetzlichen Richter entzogen

Zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen LSG - Beschlusses war die Sache nach Eingang aller wesentlichen Schriftsätze und der Akten sowie dem Ablauf einer Wiedervorlagefrist jedenfalls seit zwei Wochen entscheidungsreif. Hieraus ergibt sich, dass kein Grund dafür bestand, dass in diesem Zeitraum die weiteren Senatsmitglieder oder deren Vertreter nicht beteiligt werden konnten. Wenn ein atypischer Fall der Verhinderung vorgelegen hätte, so hätte dies einer entsprechenden Begründung bedurft. Bei § 155 Abs. 2 Satz 2 SGG, der eine Entscheidung allein durch den Vorsitzenden eines Senats ermöglicht, handelt es sich um eine Ausnahmevorschrift, die eine sorgsame, einzelfallbezogene und zurückhaltende Anwendung erforderlich macht.Auch spricht gegen eine Dringlichkeit, die eine Entscheidung unter Abweichung von der regulären Besetzung des Senats erlauben würde, dass es dem Vorsitzenden möglich gewesen wäre, auf den entsprechend gestellten Antrag der Antragsgegnerin hin die Vollstreckung aus dem Beschluss des Sozialgerichts durch einstweilige Anordnung auszusetzen. Denn dies wäre ohne Beteiligung der weiteren Senatsmitglieder möglich gewesen und hätte einer eventuellen Dringlichkeit abgeholfen und die Entscheidung über die Beschwerde durch den Senat in der regulären Besetzung offen gehalten.

Hier geht es zur Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts vom 26.10.2017 zum Beschluss vom 28.09.2017; AZ:1 BvR 1510/17

Hier finden Sie die vollständige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28. September 2017 - 1 BvR 1510/17

Das sagen wir dazu:

Gerichte verstoßen gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter

Sicherlich kein Einzelfall ist die Entscheidung des LSG Berlin-Brandenburg, bei dem ein Senatsvorsitzender meinte, ohne seine Senatskollegen*innen entscheiden zu können.

Eigentlich sollte der Vorsitzende des Senats eines Berufungsgerichts wissen, dass ein Verstoß gegen das verfassungsrechtlich geschützte Recht auf den gesetzlichen Richter seine Entscheidung angreifbar und somit gegenstandslos macht wenn diese beim Verfassungsgericht angegriffen wird.

Auch in der Arbeitsgerichtsbarkeit gibt es Verstöße gegen die Besetzung der Richterbank 

Der Fall des LSG Berlin-Brandenburg stellt keine Besonderheit dar. So hat ein Vorsitzender Richter am Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg die Berufungen zweier Kläger unter Ausschluss der beizuziehenden ehrenamtlichen Richter*innen ohne mündliche Verhandlung als unzulässig zurückgewiesen. Solche Beschlüsse sind grundsätzlich nicht angreifbar, es sei denn, das zweitinstanzliche Gericht  hat die Einlegung einer Rechtsbeschwerde beim Bundesarbeitsgericht (BAG) ausdrücklich zugelassen. Eine Überprüfung seiner „Einmann-Entscheidung“  jedoch ließ der Vorsitzende Richter nicht zu.

Staatsgerichtshof zeigt „Alleinentscheider“ die Grenzen auf

Dies war Anlass für die klagenden Parteien, den Staatsgerichtshof Baden-Württemberg anzurufen, der in der Vorgehensweise des Vorsitzenden Richters am LAG eine Verletzung des Justizgewährungsanspruchs in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip sah. (Siehe hierzu: „Es muss nicht immer Karlsruhe sein!“

Einzelfälle?

Es ist anzunehmen, dass es sich bei den gesetzeswidrigen Alleinentscheidungen um Einzelfälle handelt. Hierfür spricht die seltene Anzahl von Verfahren, bei denen es zu einer verfassungsrechtlichen Überprüfung kommt. Gleichwohl sollen die wenigen bekannt gewordenen Fälle Anlass geben, Entscheidungen dann in Frage zu stellen, wenn diese von einzelnen Richtern*innen ergehen, obwohl zur Entscheidung kraft Gesetzes die Kammer oder der Senat berufen ist. 

Rechtliche Grundlagen

Artikel 101 Grundgesetz und § 155 Sozialgerichtsgesetz

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

Artikel 101
(1) Ausnahmegerichte sind unzulässig. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden.

(2) Gerichte für besondere Sachgebiete können nur durch Gesetz errichtet werden.


Sozialgerichtsgesetz (SGG)

§ 155
(1) Der Vorsitzende kann seine Aufgaben nach den §§ 104, 106 bis 108 und 120 einem Berufsrichter des Senats übertragen.
(2) Der Vorsitzende entscheidet, wenn die Entscheidung im vorbereitenden Verfahren ergeht,
1. über die Aussetzung und das Ruhen des Verfahrens;
2. bei Zurücknahme der Klage oder der Berufung, Verzicht auf den geltend gemachten Anspruch oder Anerkenntnis des Anspruchs, auch über einen Antrag auf Prozesskostenhilfe;
3. bei Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache, auch über einen Antrag auf Prozesskostenhilfe;
4. über den Streitwert;
5. über Kosten.
In dringenden Fällen entscheidet der Vorsitzende auch über den Antrag nach § 86b Abs. 1 oder 2.

(3) Im Einverständnis der Beteiligten kann der Vorsitzende auch sonst anstelle des Senats entscheiden.

(4) Ist ein Berichterstatter bestellt, so entscheidet dieser anstelle des Vorsitzenden.