Unterschlägt der Arbeitgeber bei der Kündigung eines Schwerbehinderten dem Betriebsrat gegenüber eine neue Faktenlage, so ist die Kündigung unwirksam.
Unterschlägt der Arbeitgeber bei der Kündigung eines Schwerbehinderten dem Betriebsrat gegenüber eine neue Faktenlage, so ist die Kündigung unwirksam.


Das Bundesarbeitsgericht hat der Klage eines schwerbehinderten Arbeitnehmers stattgegeben, bei dessen Kündigung der Betriebsrat nicht ordnungsgemäß beteiligt worden war.

Kündigungsserie nach langjähriger Anstellung

 
Der klagende Arbeitnehmer ist seit mehr als 20 Jahren in dem Unternehmen beschäftigt. Als Leiter der Revision stand ihm ein Dienstwagen zur Verfügung. Die Kosten dafür übernahm der Arbeitgeber. 2013 verdächtigte ihn der Arbeitgeber, vertrauliche Informationen ohne Befugnis weitergegeben zu haben.
 
Bei den weiteren Ermittlungen stellte der Arbeitgeber ungewöhnliche Rechnungen bei den Betankungen des Dienstwagens fest. Im Juni 2013 entdeckten die behandelnden Ärzte beim Arbeitnehmer eine Leukämie. Auf seinen Antrag hat das Integrationsamt im September 2013 die Schwerbehinderung anerkannt. Die Voraussetzungen für die Schwerbehinderung lagen bereits mit der Diagnose der Krankheit rückwirkend im Juni 2013 vor.
 
Der betroffene Arbeitnehmer hat den Arbeitgeber über seinen Status als Schwerbehinderter informiert. Zu diesem Zeitpunkt hatte er schon eine fristlose Kündigung erhalten. Der Betriebsrat wurde hierzu angehört. Die Zustimmung des Integrationsamtes lag allerdings nicht vor.
 
Bevor zwei weitere fristlose Kündigungen ausgesprochen wurden, hat der Arbeitgeber den Betriebsrat erneut angehört. Allerdings war darin von der schweren Erkrankung und der beantragten Schwerbehinderung keine Rede.
 

Sämtliche Kündigungen unwirksam

 
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat sämtliche Kündigungen für unwirksam erklärt. Bei der ersten Kündigungserklärung lag die Zustimmung des Integrationsamts nicht vor. Denn im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung war der betroffene Arbeitnehmer als Schwerbehinderter anerkannt.
 
Das macht die vorherige Zustimmung des Integrationsamts zwingend erforderlich. Zudem hat der Arbeitnehmer den Antrag auf Anerkennung rechtzeitig vor der Kündigung gestellt und den Arbeitgeber darüber informiert. Damit greift der Sonderkündigungsschutz.
 
Die beiden weiteren Kündigungen waren wegen der nicht ordnungsgemäßen Anhörung des Betriebsrats unwirksam. Da der Arbeitgeber in der Zwischenzeit von der schweren Diagnose der Leukämie erfahren hatte, hätte er den Betriebsrat über den neuen Sachverhalt informieren müssen. Dies gilt auch dann, obwohl der Betriebsrat bereits eine abschließende Stellungnahme abgegeben hat.
 

Praxistipp: Anträge rechtzeitig stellen

 
Leiden Arbeitnehmer an körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen, ist es für sie häufig sinnvoll, die Feststellung einer Schwerbehinderung zu beantragen, schon wegen des besonderen Kündigungsschutzes, der ihnen dadurch entsteht.
 
Selbst wenn die Behörde keine Schwerbehinderung (Grad der Behinderung (GdB) von 50 oder höher anerkennt, ist es möglich, eine Gleichstellung mit einem Schwerbehinderten anerkennen zu lassen.
 
Allerdings sollten Betroffene mit dem Antrag nicht zu lange zögern. Der besondere Schutz greift nur dann, wenn der Antrag mindestens drei Wochen vor der Kündigung beim Integrationsamt eingegangen ist. Wichtig ist ebenfalls, dass der Arbeitgeber spätestens drei Wochen nach Zugang der Kündigung über die Schwerbehinderung informiert wird (vgl. BAG, 12.01.2006 – 2 AZR 539/05).
 

Anhörung muss vollständig sein

 
Zwar hat der Arbeitgeber die Beteiligungsrechte des Betriebsrats formal gewahrt, als er die Arbeitnehmervertreter angehört hat. Er muss das Gremium über die wesentlichen Umstände informieren, die zu der Kündigung geführt haben. Wenn nun der Arbeitgeber von einer schweren Erkrankung Kenntnis erhält, die eine soziale Härte für den betroffenen Arbeitnehmer bedeutet, benötigt der Betriebsrat diese Informationen für seine Stellungnahme an den Arbeitgeber. Das Verhalten des Beschäftigten stellt sich gegebenenfalls in einem ganz anderen Licht dar.
 
Hält der Arbeitgeber seine neu gewonnenen Kenntnisse zurück, verstößt er damit gegen seine Pflicht zur Anhörung. Dem Arbeitnehmer kommt dies im Prozess vor dem Arbeitsgericht zugute. Im Übrigen gilt seit dem 01.01.2017: Eine Kündigung eines Schwerbehinderten ohne ordnungsgemäße Anhörung der Schwerbehindertenvertretung ist unwirksam.
 
Dieser Artikel ist zuerst erschienen in: „AiB-Newsletter, Rechtsprechung für den Betriebsrat“ des Bund-Verlags, Ausgabe 14/2017 vom 17.05.2017.


Urteil des Bundesarbeitsgerichts


Lesen Sie auch:


Gesetz schützt Schwerbehinderte besser vor Kündigung

Präventionsverfahren erst nach der Probezeit

Betriebsrat kann Entlassung von gewalttätigen Arbeitnehmern verlangen

Rechtliche Grundlagen

§ 85 SGB IX

Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber bedarf der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes.