Wer fast nichts hört, benötigt keine ständige Begleitung. Copyright by makistock / Fotolia
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Ja, sagt das Landessozialgericht Baden-Württemberg. Zwar reichten dazu die angegebenen Beeinträchtigungen nicht aus. Die DGB Rechtsschutz GmbH konnte jedoch erreichen, dass die Verwaltung an eine frühere Anerkennung der erheblichen Beeinträchtigung im Straßenverkehr auch für die Zukunft gebunden blieb. Sehr interessant an der Entscheidung des LSG ist, dass es sich umfassend mit den einzelnen Voraussetzungen des Gesetzes und der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zur Vergabe des Merkzeichens „B“ befasst.

Merkzeichen „G“, „Gl“ oder „H“

Doch der Reihe nach: Schwerbehinderte Menschen sind nach dem Gesetz berechtigt, bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel eine Begleitperson mitzunehmen, wenn sie in Folge der Behinderung dauernd auf fremde Hilfe angewiesen sind. Dabei muss eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr gegeben sein. Außerdem kommt die Anerkennung bei hilflosen oder gehörlosen Menschen in Betracht. Das Gesetz knüpft an die Merkzeichen „G“ (Gehbehinderung), „Gl“ (gehörlos) oder „H“ (hilflos) an. Im Einzelfall muss der*die Betroffene regelmäßig auf fremde Hilfe beim Ein- und Aussteigen oder während der Fahrt des Verkehrsmittels angewiesen sein. Gleiches gilt beim Ausgleich von Orientierungsstörungen.

Regelmäßige Hilfe erforderlich

Die Versorgungsmedizinischen Grundsätze fordern die Berechtigung für eine ständige Begleitung. Diese Notwendigkeit muss neben den Merkzeichen „G“, „Gl“ oder „H“ vorliegen. Das LSG folgert hieraus, es müsse beachtet werden, dass die betroffene Person bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel auf fremde Hilfe beim Ein- oder Aussteigen oder während der Fahrt angewiesen sei. Alternativ käme die Hilfe zum Ausgleich von Orientierungsstörungen in Betracht.
 
Die Klägerin im Verfahren vor dem LSG Baden-Württemberg konnte die Merkzeichen „G“, „Gl“ oder „H“ nicht vorweisen. Bei ihr bestand eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit. Hörgeräte brachten nicht den gewünschten Erfolg. Die Klägerin hatte angegeben, sie könne Bus und Bahn fahren. Dort sei sie jedoch auf fremde Hilfe angewiesen, denn sie bekomme die Durchsagen nicht mit. Sie käme zwar auch ohne Begleitung immer irgendwie an, aber manchmal erst viel später.

Erhebliche Einschränkung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr

Ist Hilfebedürftigkeit konkret nicht nachgewiesen, wie bei der Klägerin, so sieht das LSG dennoch die Möglichkeit der Anerkennung des Merkzeichens „B“. Die Versorgungsmedizinischen Grundsätze sähen eine Anerkennung ausdrücklich auch für Querschnittsgelähmte und Menschen ohne Hände vor. Zu diesem Personenkreis zählte die Klägerin allerdings nicht. Bei Blinden und Hörbehinderten komme die Anerkennung auch in Betracht, wenn nämlich eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr anzunehmen sei. Wann das der Fall sei, bestimme sich nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen. Danach sei in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer in Folge der Einschränkung seines Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurücklegen könne, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt würden. Die Anerkennung komme auch bei gleich schweren inneren Leiden, bei Anfallsleiden oder Störungen der Orientierungsfähigkeit in demselben Ausmaß in Betracht. Diese Voraussetzungen waren bei der Klägerin aber ebenfalls nicht gegeben. Die Taubheit machte sie nicht orientierungslos und hinderte sie auch nicht an der Fortbewegung. Sie benötigte auch keine Hilfe beim Ein- und Aussteigen. Auch fehlte es an der Regelmäßigkeit der erforderlichen Hilfe. Schließlich stellte das Gericht außerdem fest, dass die weiteren allgemeinen Voraussetzungen des Merkzeichens „G“ nicht gegeben waren. Denn auch hierdurch wäre eine erhebliche Beeinträchtigung der Fortbewegung im Straßenverkehr nachgewiesen. Dazu hätte die Klägerin innere Leiden, die sich auf die Gehfähigkeit auswirken mit einem Grad der Behinderung von 50 aufweisen müssen. Eine zur Taubheit hinzukommende weitere Störung der Ausgleichsfunktion hätte ebenfalls genügt.

Bestandskräftige Anerkennung bindet die Verwaltung

Die Juristen*innen der DGB Rechtsschutz GmbH aus Stuttgart konnten den Prozess dennoch für die Klägerin gewinnen.In einem früheren Bescheid von 1978 hatte das Versorgungsamt nämlich schon einmal als weitere gesundheitliche Beeinträchtigung eine Feststellung zu gesundheitlichen Merkmalen für die Inanspruchnahme von Vergünstigungen getroffen. In diesem fast 40 Jahre alten Bescheid stand nämlich, die Klägerin sei in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt. Der Bescheid war längst bestandskräftig und konnte durch die Verwaltung nicht mehr aufgehoben werden. Dies gelte selbst für den Fall, dass zum Zeitpunkt der Klage feststehe, dass die entsprechenden Voraussetzungen überhaupt nicht vorlägen  - so das LSG. Der Bescheid sei bindend geworden und das Versorgungsamt müsse sich auch 40 Jahre später noch daran halten. Auf der Grundlage dieses Bescheides kam es daher zur Anerkennung der erheblichen Beeinträchtigung im Straßenverkehr durch das Landessozialgericht. Es lohnt sich also, alte Bescheide aufzubewahren und in späteren Situationen auch nochmal hinein zu schauen. Verwertbare Rechtsargumente kann man auch 40 Jahre später noch finden.

 

Hier geht es zur Entscheidung des  LSG Baden-Württemberg
 
Hier geht es zu den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen: