Der 72-jährige Geschäftsführer eines Betriebs beabsichtigte diesen im April 2014 zu schließen. Die wirtschaftliche Lage des Betriebs sei nicht gut, der Betrieb erwirtschaftete seit Jahren keinen Gewinn mehr. Auch fand er keinen Geschäftsführer als Nachfolger. Die Bemühungen, den Betrieb zu verkaufen, waren erfolglos.

Geschäftsführer kündigt alle Mitarbeiter

Nachdem er eine Massenentlassungsanzeige bei der zuständigen Arbeitsagentur erstattet hatte, sprach er im April 2014 die ordentliche Kündigungen gegenüber allen Beschäftigten aus. Der Kläger vorliegender Sache wehrte sich gegen die Kündigung.

Er erhob Kündigungsschutzklage. Er begründet die Klage damit, dass er schwerbehindert sei. Die Unwirksamkeit der Kündigung ergebe sich daraus, dass die Kündigung ohne vorherige Zustimmung des Integrationsamtes ausgesprochen worden sei.

Der beklagte Arbeitgeber führte in seiner Klageerwiderung aus, dass er nichts von der Schwerbehinderung gewusst habe. Erst im Mai 2014 erkannte das Versorgungsamt beim Kläger einen Grad der Behinderung von 50 an. Da seine Schwerbehinderung offenkundig gewesen sei, hielt der Kläger den Einwand des Arbeitgebers für unbeachtlich.

Zustimmung des Integrationsamtes vor Ausspruch der Kündigung nicht erforderlich

Das Argument des Arbeitgebers konnte schon das erstinstanzliche Gericht nicht überzeugen. Das Arbeitsgericht Koblenz wies die Klage ab. Hiergegen legte der Kläger beim Landesarbeitsgericht (LAG) Rheinland-Pfalz ein.

Das Landesarbeitsgericht wies die Berufung des Klägers zurück und bestätigte die Entscheidung des Arbeitsgerichts. Entgegen der Auffassung des Klägers habe die ordentliche Kündigung nicht der Zustimmung des Integrationsamtes bedurft.

Denn zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs stand der Kläger noch nicht unter dem Sonderkündigungsschutz als schwerbehinderter Mensch. Dies ergebe sich daraus, dass das Versorgungsamt eine Schwerbehinderung erst im Mai 2014 anerkannte habe, die Kündigung jedoch bereits im April 2014 ausgesprochen wurde.

Schwerbehinderung war nicht offenkundig

Zum Kündigungszeitpunkt, so die Richter*innen der 5. Kammer des LAG Rheinland-Pfalz, sei die Schwerbehinderung des Klägers nicht offenkundig gewesen. Der Nachweis der Schwerbehinderteneigenschaft gegenüber dem Arbeitgeber sei nur dann entbehrlich, wenn die Schwerbehinderung offenkundig sei.

Überdies müsse nicht nur offenkundig sein, dass eine oder mehrere Beeinträchtigungen vorliegen, sondern auch, dass der Grad der Behinderung in einem Feststellungsverfahren auf wenigstens 50 festgesetzt würde.

Hieran aber habe es hier gefehlt. Der Kläger habe nicht dargelegt, dass seine Beeinträchtigungen so erheblich waren oder sind, dass sie auch vom Arbeitgeber ohne sozialmedizinische Vorbildung als offensichtliche Schwerbehinderung wahrzunehmen und einzustufen seien.

Hier finden Sie vollständige Urteil des Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 12.01.2017, Az: 5 Sa 361/16:

Hier geht es zu der in der „Anmerkung“ erwähnten Entscheidung des Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 1. März 2007 · Az: 2 AZR 217/06

Das sagen wir dazu:

Auch wenn das Kündigungsschutzverfahren für den Kläger negativ ausging, so ist die Entscheidung dennoch für Arbeitnehmer*innen von Interesse.

 

In Ziffer 38 der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz weist das Gericht darauf hin, dass der Nachweis der Schwerbehinderteneigenschaft gegenüber dem Arbeitgeber dann entbehrlich ist, wenn die Schwerbehinderung offenkundig ist. 

 

Dies aber setze voraus, dass das Vorliegen einer oder mehrerer Beeinträchtigungen nicht nur offenkundig sein muss, sondern auch, dass der Grad der Behinderung (GdB) auf wenigstens 50 in einem Feststellungsverfahren festgesetzt würde. 

Hierfür spreche aber im vorliegenden Fall nichts. Der Kläger habe hierzu auch nicht ansatzweise etwas vorgetragen. Er habe nicht behauptet, dass seine Funktionsbeeinträchtigungen so erheblich waren oder sind, dass sie auch vom Geschäftsführer der Beklagten als offensichtliche Schwerbehinderung wahrzunehmen und einzustufen waren. 

 

Auch seien die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers nicht so auffallend, dass sie ohne weiteres "ins Auge springen".

 

Da bei dem Kläger folgende Behinderungen festgestellt wurden:

 

  • Herzerkrankung
  • Nierenfunktionseinschränkung
  • Funktionsstörung der Wirbelsäule
  • Ohrgeräusche, Schlafstörungen, Erschöpfungsdepression
  • Funktionsstörung der Zehen
  • Oberbauchbeschwerden
  • Schulterfunktionsstörung (links)

 

handelt es sich um solche Behinderungen, die nicht zu der Annahme führen können, dass es sich hierbei um einen offenkundig schwerbehinderten Menschen handelt, dessen Beeinträchtigungen im Rahmen des Feststellungsverfahren t einen GdB in Höhe von 50 erreichen werden.

Ab wann gilt der besondere Kündigungsschutz für Schwerbehinderte und mit den Schwerbehinderten Gleichgestellten?

Ein Arbeitnehmer, der sich auf den besonderen Kündigungsschutz beruft, muss spätestens drei Wochen vor Ausspruch der Kündigung durch den Arbeitgeber seinen Antrag auf Anerkennung als schwerbehinderter Mensch bei der zuständigen Behörde eingereicht haben. 

 

Dies ergibt sich aus der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Siehe hierzu zum Beispiel: Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 1. März 2007 -Az. 2 AZR 217/06, dass im Ergebnis folgendes aussagt:

 

  1. Die Vorschrift des § 90 Abs. 2a SGB IX gilt nicht nur für schwerbehinderte Menschen, sondern auch für ihnen nach § 68 SGB IX gleichgestellte behinderte Menschen.
  2. Nach § 90 Abs. 2a 1. Alt. SGB IX findet der Sonderkündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen dann keine Anwendung, wenn die Schwerbehinderung im Zeitpunkt der Kündigung nicht nachgewiesen ist.
  3. Trotz fehlenden Nachweises bleibt der Sonderkündigungsschutz dagegen dann nach § 90 Abs. 2a 2. Alt. SGB IX bestehen, wenn das Fehlen des Nachweises nicht auf fehlender Mitwirkung des Arbeitnehmers beruht. Das Fehlen des Nachweises beruht nach dem Gesetz jedenfalls dann auf fehlender Mitwirkung des Arbeitnehmers, wenn er den Antrag auf Anerkennung oder Gleichstellung nicht mindestens drei Wochen vor der Kündigung gestellt hat. § 90 Abs. 2a 2. Alt. SGB IX enthält insoweit die Bestimmung einer Vorfrist.