Schon mit Urteilen aus Juli 2014 hatte das Bundessozialgericht (BSG) entschieden, dass erwerbsunfähige volljährige behinderte Menschen, die Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem Sozialgesetzbuch Zwölf (SGB XII - Sozialhilfe) erhalten und bei ihren Eltern leben, grundsätzlich einen Anspruch auf Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 1 (100 %, derzeit 399 €), haben. 

Die Rechtsprechung hat das BSG nun fortgeführt. Es bekräftigte seine Auffassung, wonach sich der volle Anspruch aus der verfassungskonformen Auslegung des § 27a Absatz 3 SGB XII und der gesetzlichen Vermutung einer gemeinsamen, damit auch eigenen, nicht fremden Haushaltsführung ergebe.

Hintergrund und Rechtslage der Regelbedarfsstufen

Nach § 27a Absatz 3 SGB XII sind zur Deckung des regelmäßigen Lebensunterhaltes (Regelbedarf) monatliche Regelsätze zu gewähren. Der Regelsatz ist ein monatlicher Pauschal¬betrag, über dessen Verwendung die Leistungsberechtigten eigenverantwortlich entscheiden dürfen.

Vom Regelsatz sind insbesondere die Kosten für Ernährung, Kleidung, Körperpflege, hauswirtschaftlichen Bedarf einschließlich Haushaltsenergie, sowie persönlichen Bedürfnisse des täglichen Lebens erfasst. Zu den persönlichen Bedürfnissen des täglichen Lebens gehört auch eine Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben.

2011 erfolgte eine Gesetzesänderung und Neugestaltung der Regelbedarfsstufen für die Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt und der Grundsicherung.  Die Regelbedarfe ergeben sich nach Regelbedarfsstufen, die nach der Haushaltsführung differenzieren.

Insgesamt gibt es sechs Regelbedarfsstufen, wobei die

  • Regelbedarfsstufe 1 für eine erwachsene leistungsberechtigte Person gilt, die als alleinstehende oder alleinerziehende Person einen eigenen Haushalt führt.

Dagegen betrifft die

  • Regelbedarfsstufe 3 erwachsene leistungsberechtigte Personen, die weder einen eigenen Haushalt führen, noch als Ehegatte, Lebenspartner oder in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft einen gemeinsamen Haushalt führen.

Einordnung erfolgt (noch) in die Regelbedarfsstufe 3

Volljährige behinderte Menschen, die bei den Eltern leben, werden in die Regelbedarfsstufe 3 eingeordnet, so noch die Praxis. Der notwendige Regelbedarf wird von den Sozialhilfeträgern von vornherein mit der Regelbedarfsstufe 3 beschrieben. Denn die Konstellation erwachsener nicht erwerbsfähiger Leistungsberechtigter zusammen mit ihren Eltern in einem Haushalt sei angeblich der Hauptanwendungsfall für die Regelbedarfsstufe 3. So die Gesetzesbegründung zur Neuregelung 2011.

Diese Einstufung wirkt sich in der Höhe der monatlichen Leistungen in nicht unerheblichem Maße aus. Nach der Stufe 1 beträgt der Regelsatz 399 €, nach der Stufe 3 nur noch 320 € (80% der Stufe 1).

Gesetzliche Vermutung einer gemeinsamen Haushaltsführung  

Das BSG geht von einer gesetzlichen Vermutung einer gemeinsamen Haushaltsführung aus, also davon, dass sich der volljährige Behinderte grundsätzlich an der Haushaltsführung beteiligt. 

Diese gesetzliche Vermutung könne der Sozialhilfeträger nur dann widerlegen, wenn er vorträgt, dass es an der Fähigkeit des behinderten Menschen an einer gemeinsamen Haushaltsführung fehle und zwar auch unter entsprechender Anleitung. Gerichtliche Ermittlungen zur Widerlegung der Vermutung seien nur bei qualifiziertem Vortrag des Sozialhilfeträgers zu den fehlenden Fähigkeiten zulässig. 

Eine Behinderung schließt Selbständigkeit nicht aus 

Das BSG betonte, dass Eigenständigkeit nicht mit Eigeninitiative gleichzusetzen sei. Auch wenn ein behinderter Mensch einen Anstoß oder eine Anleitung zu einer Sache braucht, bedeutet dies also noch lange nicht, dass er diese Sache nicht eigenständig durchführen kann.

Schon in den Urteilen im Juli 2014 hat das BSG seine grundsätzlichen Einschätzung angeführt, wonach Eltern typischerweise ihrer Verpflichtung zur Förderung des behinderten Menschen sowie der Anleitung (im Rahmen seiner Fähigkeiten) nachkommen. Das spricht nach dem BSG also für den Grundsatz der Beteiligung auch eines behinderten Menschen an der gemeinsamen Haushaltsführung. 

Die Verfahren sind durch die Entscheidung des BSG noch nicht beendet. In beiden Fällen wurde die Sache an das Landessozialgericht zurückverwiesen, weil ausreichende Feststellungen zur Höhe der Leistung fehlten. 

Anmerkung der Redaktion: 

Zu Recht sehen viele in der Regelung der Bedarfsstufen eine Diskriminierung volljähriger Behinderter. Denn der Regelung scheint die Annahme zugrunde zu liegen, dass diese in keiner Weise zur Haushaltsführung beitragen. So pauschal ist diese Annahme ganz sicher falsch. Letztlich werden die erwachsenen Behinderten, die bei ihren Eltern leben, trotz Volljährigkeit quasi wie Kinder behandelt. Eine Selbständigkeit wird ihnen abgesprochen.

Das BSG geht in seiner zu begrüßenden Rechtsprechung von folgender wichtiger (und richtiger) Betrachtungsweise aus: Behinderte Menschen führen im Rahmen ihrer geistigen und körperlichen Fähigkeiten ein selbständiges Leben, auch wenn sie von Personen betreut werden, mit denen sie zusammenleben.  

Viel Kritik an Regelbedarfsstufen – Ministerium kündigt Änderung an

Nach den Entscheidungen des BSG aus Juli 2014 war aus dem Ministerium für Arbeit und Soziales zunächst zu hören, man teile dort die Auffassung des (obersten deutschen!) Gerichts nicht. Nun hat das Ministerium zugesagt, dass die Urteile des BSG umgesetzt werden. Mit einer gesetzlichen Regelung wird erst 2016 zu rechnen sein, bis dahin sollen die Betroffenen zwar weiter in die Stufe 3 eingeordnet werden, finanziell aber mit den Personen der Stufe 1 gleichgestellt werden. 

Hier der Link zur Pressemitteilung des Bundessozialgerichts vom 24.03.2015

Hier der Link zum Urteil des Bundessozialgerichts vom 23.07.2014, B 8 SO 12/13 R