Eine 34-jährige Arzthelferin leidet seit Geburt an einer Fehlbildung der linken Hand. Aufgrund operativer Maßnahmen liegt ein Teilhandverlust vor. Der Mittelfinger fehlt komplett, Daumen, Zeige- und Ringfinger sind nur zur Hälfte vorhanden. Sie ist Rechtshänderin. Somit ist ihre Gebrauchshand voll einsatzfähig.

 

Ihr behandelnder Arzt hatte eine individuelle Finger-Handprothese aus Silikon verordnet, die rund 17.600 € kostet. Die gesetzliche Krankenversicherung sah keine medizinische Notwendigkeit für diese Verordnung und lehnte die Übernahme der Kosten ab. Durch die Prothese würden keine Funktionen der linken Hand ausgeglichen werden, wandte die Krankenkasse zur Begründung ein. Auch habe sie keine Gelenke und sei vollständig unbeweglich. Der Arzt habe sie allein aus ästhetischen Gründen verordnet. Ein sicheres Greifen, Zupacken oder Festhalten von Gegenständen oder eine verbesserte Feinmotorik sei auch mit der Prothese weiterhin nicht möglich.

Versicherte können Anspruch auf Versorgung mit Körperersatzstücken haben

Nachdem der Widerspruch keinen Erfolg hatte, erhob die Arzthelferin Klage vor dem Sozialgericht Frankfurt (SG), das allerdings bereits im Dezember 2020 der Krankenkasse Recht gab. Das Hessische Landessozialgericht sah das indessen anders und hob jetzt das Urteil des SG auf. 

 

Rechtsgrundlage für die Übernahme von Kosten für Hilfsmittel ist § 33 des 5. Sozialgesetzbuches (SGB V). Danach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 SGB V ausgeschlossen sind. 

 

Der Anspruch besteht nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) mit Blick auf die "Erforderlichkeit im Einzelfall" nur, soweit das begehrte Hilfsmittel geeignet, ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sei und das „Maß des Notwendigen“ nicht überschreite. Nicht entscheidend für den Versorgungsanspruch sei indessen, ob das begehrte Hilfsmittel im Hilfsmittelverzeichnis gelistet sei, denn es handele sich bei diesem Verzeichnis nicht um eine abschließende Regelung im Sinne einer Positivliste.

Körperersatzstücke müssen erforderlich sein, um eine Behinderung auszugleichen

Hilfsmitteln seien, so das BSG, Körperersatzstücke sowie orthopädische und andere Hilfsmittel. Erfasst würden alle Hilfen, die von den Leistungsempfängern getragen oder mitgeführt oder bei einem Wohnungswechsel mitgenommen werden könnten.  Sie müssten unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls erforderlich sein, um 

 

  1. einer drohenden Behinderung vorzubeugen, 
  2. den Erfolg einer Heilbehandlung zu sichern oder 
  3. eine Behinderung bei der Befriedigung von Grundbedürfnissen des täglichen Lebens auszugleichen, soweit sie nicht allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens sind.

Unmittelbarer und mittelbarer Behinderungsausgleich

Das BSG unterscheidet noch zwischen dem unmittelbaren und dem mittelbaren Behinderungsausgleich. Beim unmittelbaren Behinderungsausgleich dient das Hilfsmittel unmittelbar dem Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion selbst. Im Bereich des mittelbaren Behinderungsausgleichs wird das Hilfsmittel zum Ausgleich der direkten und indirekten Behinderungsfolgen eingesetzt. Diese Differenzierung hält das BSG für notwendig, weil der Ausfall einer Körperfunktion den Krankheitsbegriff in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erfüllt, und es deren Aufgaben gehört, ausgefallene oder beeinträchtigte Körperfunktionen so weit wie möglich wiederherzustellen oder zu verbessern.

Hessisches LSG: die Finger-Handprothese ist im Wege des unmittelbaren Behinderungsausgleichs geeignet, die Körperfunktion zu verbessern

An diese Rechtsprechung des BSG knüpft das Hessische LSG an. Nach der Beweisaufnahme stünde fest, dass die von der Arzthelferin beantragten Versorgung mit einer Finger-Handprothese aus Silikon im Wege des unmittelbaren Behinderungsausgleichs geeignet sei, die beeinträchtigte Körperfunktion wieder herzustellen bzw. zu verbessern. Das Gericht hatte Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkasse (MDK) ausgewertet. Zudem hatte es einen Sachverständigen angehört und die behandelnden Ärzte befragt.

 

Insbesondere nach dem Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen sei davon auszugehen, dass mit der Silikonprothese aufgrund der erhaltenen Beweglichkeit in den Grundgelenken eine deutliche funktionelle Verbesserung der Greiffunktionen der linken Hand herbeigeführt werden könne. Die Elastizität des Silikons ermögliche das Greifen größerer Gegenstände, soweit diese nicht allzu schwer seien. Auch Pinzetten-, Zangen-, Dreipunkt- und Schlüsselgriff könnten verbessert werden. 

Anderslautende Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) sind nicht maßgebend

Dies gelte gleichermaßen für die Arbeiten mit Computertastatur und Computermouse, Trackball und berührungsempfindlichen Bildschirmen. Zudem sollte das Halten von Handy und Telefon mit der Teilhandprothese möglich sein, so dass die Versicherte mit ihrer rechten Hand Daten leichter eingeben könne. Anderslautende Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) seien nicht maßgebend, da diese lediglich nach Aktenlage und nur auf der Basis von Fotos der betroffenen Hand erstattet worden seien. 

 

Da eine gleichwertige Versorgung anders nicht möglich sei, liege auch kein Verstoß gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot vor, so das LSG. Die Revision zum Bundessozialgericht hat es nicht zugelassen.

Hier geht es zum Urteil des Hessischen Landessozialgericht, Urteil vom 23. September 2021 - L 8 KR 477/20 (PDF)

Rechtliche Grundlagen

§§ 33 und 12 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V)

Wichtige Vorschriften:
§ 33 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V)
(1) Versicherte haben Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen sind. (…) Wählen Versicherte Hilfsmittel oder zusätzliche Leistungen, die über das Maß des Notwendigen hinausgehen, haben sie die Mehrkosten und dadurch bedingte höhere Folgekosten selbst zu tragen.

§ 12 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V)
(1) Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.