Über die Sozialversicherungspflicht in der deutschen landwirtschaftlichen Kranken- und Pflegeversicherung staunen auch die französischen Charolais-Rin
Über die Sozialversicherungspflicht in der deutschen landwirtschaftlichen Kranken- und Pflegeversicherung staunen auch die französischen Charolais-Rin

Im Grundsatz gilt, wer in der Bundesrepublik Deutschland Bodennutzung betreibt, ist Landwirt und wird regelmäßig Mitglied in der Landwirtschaftlichen Sozialversicherung mit der Folge der Beitragspflicht. Gleiches gilt für forstwirtschaftliche Betriebe. Nutzen Landwirte mit einem Betriebssitz im EU-Ausland Flächen in Deutschland, so flatterten in der Vergangenheit schnell die Beitragsbescheide der deutschen Landwirtschaftlichen Sozialversicherungsträger in die Briefkästen. Aufgrund des archaisch geprägten Landwirtbegriffs gilt dies auch für deren Ehegatten und mitarbeitende Familienangehörige.

 

Französischer Landwirt bekam Hilfe vom DGB Rechtsschutz Pirmasens

 

Weshalb soll es in der Landwirtschaft eine doppelte Beitragspflicht geben? Wer als inländischer Arbeitnehmer z.B. auf Montage im EU-Ausland arbeitet, wird deswegen neben der bestehenden deutschen Sozialversicherungspflicht nicht auch noch im EU-Ausland beitragspflichtig zur dortigen Sozialversicherung. Dies dachte sich auch ein Landwirt aus dem französischen Departement Lorraine, der im angrenzenden Rheinland-Pfalz (keine 50 Meter von der Staatsgrenze entfernt) ein paar Rinder weiden ließ, als die Landwirtschaftliche Kranken- und Pflegeversicherung von ihm rund 8.000,- EUR an rückwirkend fälligen Beiträgen für seinen Betrieb in Deutschland verlangte. 

 

Ein Betrieb in Deutschland? Er war landwirtschaftlicher Unternehmer in Frankreich, hatte dort alle Betriebsmittel, die Stallungen für die Rinder, die Maschinen und Futtermittel konzentriert und war dort auch versichert in der Sozialkasse Landwirte, der MSA Lorraine. Es kam keine rechte Freude darüber auf, dass er nun zu doppelten Kosten auch noch in Deutschland zum Arzt hätte gehen können, die Versichertenkarte wurde ihm schon unmittelbar zugeschickt. 

 

Zunächst suchte er bei einem Fachanwalt für Sozialrecht Hilfe und Beistand, dort entstanden aber nur weitere Kosten, geholfen wurde ihm nicht. Als lebenslanger Gewerkschafter in Frankreich und Mitglied der IG BAU in Deutschland konnte das Büro Pirmasens der DGB Rechtsschutz GmbH für Abhilfe sorgen und ihn vor der hohen Nachzahlung bewahren. Es reicht ihm völlig aus, dass er weiterhin allein in Frankreich zu Arzt gehen kann.

 

Zur Rechtslage und dem landwirtschaftlichen Betriebsbegriff

 

Kernpunkt des Problems ist der landwirtschaftliche Betriebsbegriff. Einen landwirtschaftlichen Betrieb führt danach jeder, der in Deutschland Bodennutzung ab einer Mindestgröße betreibt, d.h. etwas säht und erntet, Holz erwirtschaftet oder eben Vieh züchtet oder weidet (so erneut BSG 12. Senat, Urteil vom 27.06.2012 – B 12 KR 18/10 R). Für rein innerdeutsch geführte Betriebe ergibt sich hieraus ein logisches Ganzes; anders wird es, wenn ein landwirtschaftlicher Betrieb aus dem EU-Ausland deutschen Boden bewirtschaftet. In unserem Fall waren ja alle Betriebsmittel am Betriebsstrandort in Frankreich konzentriert, womit zweifelsfrei ein in Frankreich angesiedelter landwirtschaftlicher Betrieb vorlag. 

 

Die Bodennutzung durch das Weiden der Kühe in Rheinland-Pfalz – wenige Meter von der Grenze entfernt - führte nach deutschem Recht und der Auffassung der Landwirtschaftlichen Kranken- und Pflegekasse zum Entstehen eines zweiten, nun deutschen landwirtschaftlichen Betriebs, der eigenständig neben dem Hauptbetrieb in Frankreich bestehen soll und die Beitragspflicht zur Landwirtschaftlichen Sozialversicherung auch in Deutschland auslöst. Der Hauptbetrieb in Frankreich wurde hierbei zunächst von der Landwirtschaftlichen Kranken- und Pflegeversicherung vollständig ignoriert, so als gäbe es ihn nicht. Ergo sollte unser französischer Landwirt – anders als ein im Ausland tätiger Arbeitnehmer - doppelte Beiträge an die beiden nationalen Sozialversicherungssysteme für zwei Betriebe bezahlen, in Frankreich und in Deutschland.

 

EU hat Sicherungssysteme der Mitgliedstaaten harmonisiert

 

Die nach dem „Brexit“ wegen ihrer Bürokratieverliebtheit hart in die Kritik geratene Europäische Union hat diese Problem jedoch früh erkannt und sinnvoll gelöst, indem sie die sozialen Sicherungssysteme der Mitgliedsstaaten schon in der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 harmonisiert hat. Hiernach soll eine doppelte Zuständigkeit der jeweiligen nationalen Sozialversicherungsträger vermieden werden. Nach Art. 10. Nach Art 13 sind die Vorschriften des Wohnortstaates bzw. des Sitzes des Unternehmens anzuwenden, wenn dort ein wesentlicher Teil der Tätigkeit ausgeübt wird. Letztlich sollte mit der Verordnung die Mobilität und Freizügigkeit innerhalb der Union verbessert werden. 

 

In der zeitlich nachfolgenden Verordnung (EG) Nr. 987/2009 und deren Ausführungsverordnung wird unmissverständlich geregelt, dass eine Person bereits dann dem Rechtssystem des Wohnortstaates unterliegt, wenn sie üblicherweise nennenswerte Tätigkeiten auf dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates ausübt, in dem sie ansässig ist.

 

Sofern ein Landwirt in seinem EU-Heimatstaat der Sozialversicherungspflicht unterliegt, kommt es auf eine dort überwiegend ausgeübte Tätigkeit nicht mehr an. Die Tätigkeiten im Mitgliedsstaat (hier Frankreich) dürfen nur nicht „geringfügig“ sein. Folgerichtig hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) diese Grenze als bereits erreicht angesehen, wenn nur ein Viertel der Tätigkeit im EU-Heimatstaat geleistet wird.

 

Bei Landwirten mit Viehzucht oder Milchwirtschaft ist dieses Maß schnell erreicht. Die Weidezeit und damit die Bodennutzung erschöpfen sich witterungsbedingt auf die Zeit von Mai bis Oktober. Damit war eindeutig der Betrieb in Frankreich maßgebend für die Mitgliedschaft in der Sozialversicherung.

 

Was tun bei Betriebskonkurrenz?

 

Trotz der klaren Rechtsmeinung des BMAS war die Landwirtschaftlichen Kranken- und Pflegeversicherung im Verfahren hiervon zunächst wenig beeindruckt und hielt an dem Bescheid fest.

 

Zunächst gelang es im Widerspruchsverfahren der Landwirtschaftlichen Kranken- und Pflegekasse klar zu machen, dass es neben dem  „deutschen“ Betrieb (aufgrund der durch das Weiden der Rinder erfolgten Bodenbewirtschaftung) noch einen Betrieb in Frankreich gibt, den man offensichtlich im Eifer der Bescheiderteilung bislang komplett übersehen hatte. 

 

Einige Schriftwechsel später und tieferer Einsicht in die EG-Verordnungen samt deren Ausführungsverordnungen konzentrierte sich der Streit auf die Frage, ob unser Landwirt bereits in Frankreich sozialversichert war. Die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 sollte die Mobilität und Freizügigkeit in der Europäischen Union und dem Europäischen Wirtschaftsraum verbessern und nicht diese einschränken, indem den EU-Bürgern Mittel entzogen und den Sozialversicherungsträgern Wege zur Generierung von Beitragseinkommen aufgezeigt werden.

 

Im Verfahren bestätigte die französische Sozialversicherung MSA Lorraine das Bestehen der Pflichtversicherung in Frankreich. Die Landwirtschaftliche Kranken- und Pflegeversicherung half daraufhin dem Widerspruch ab und erklärte das Versichertenkonto für ausgeglichen. Die bereits sehr früh im Verfahren zugeschickte Versicherungskarte wurde über das Büro Pirmasens unmittelbar wieder zurückgesandt, weil nach der klaren Rechtslage eine Inanspruchnahme deutscher  Krankenversicherungsleistungen ohnehin nie in Betracht kam und keine Rückzahlungsproblematik entstehen sollte.

 

Was hat dies für weitere Konsequenzen?

 

Zunächst konnte der Rückzahlungsanspruch von 8.000,- EUR Beitragsrückstand abgewehrt werden. Die Landwirtschaftliche Kranken- und Pflegeversicherung informierte auch die Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft. Diese hatte bereits vor Jahren den Landwirt als Pflichtmitglied aufgenommen, die geforderten Beiträge hat er auch geleistet. Die Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft erklärte aufgrund der Abhilfe im Verfahren mit der Landwirtschaftlichen Kranken- und Pflegversicherung per Bescheid ihre Zuständigkeit für unseren Viehzüchter für beendet und erstatte die bereits gezahlten Beiträge nach den Verjährungsvorschriften des § 27 SGB IV (ohne diese zu zitieren). 

 

Eine Behörde vergisst im Bescheid die Rechtsgrundlage? Die Vorschrift des § 27 SGB IV enthält im Absatz 1 auch eine Verzinsungspflicht mit 4 % pro Jahr, mehr als jede Bank derzeit zahlt.  Ob die Verzinsung vergessen wurde? Um im Französischen zu bleiben: „Honni soit qui mal y pense / Ein Schelm, wer Schlechtes dabei denkt“. Gegen den Bescheid wurde wegen der fehlenden Verzinsung Widerspruch eingelegt.

 

Eine erste Umfrage unter den anderen „grenzüberschreitend“ tätigen französischen Landwirten ergab jedoch, dass diese bislang keine befreienden Bescheide erhalten haben. Ein Grund mehr, nicht nur Gutes zu tun sondern auch darüber zu berichten.

 

Wer jetzt vielleicht zu kurz denkt und im Sog der aktuellen EU-Kritik und eines falsch verstandenen Nationalismus meint, „Ausländer sollen ruhig Beiträge zur deutschen Sozialversicherung bezahlen“, sei darauf hingewiesen, dass die Sache auch umgekehrt funktioniert hätte. Ein deutscher Landwirt, der Kühe in Frankreich weiden lässt, ist ebenso von einer Beitragspflicht zur französischen Kranken-, Pflege- und Unfallversicherung zu befreien. Wir sind eben alle (auch) Ausländer, es kommt – wie unser Fall zeigt - gerade in Grenzregionen auf wenige Meter an.

 

Das Zweite Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte (KVLG 1989) kann hier eingesehen werden.  

Die VERORDNUNG (EG) Nr. 883/2004 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit kann hier nachgelesen werden. 

Die VERORDNUNG (EG) Nr. 987/2009 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit kann hier eingesehen werden.