Grundsätzlich schließt der Bezug von Verletzengeld nach § 72 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII den Bezug von Unfallrente aus, weil das Verletztengeld für den Zeitraum der Heilung gezahlt wird und Unfallrente erst dann und insoweit, als das Beeinträchtigungen vorliegen, die nicht mehr heilen können.
Aber nach dem Urteil des Bundessozialgerichts, gilt der Ausschluss nur für das jeweilig versicherte Beschäftigungsverhältnis.
Hat ein Versicherter mehrere Beschäftigungsverhältnisse, müssen diese einzeln betrachtet werden.

Der zugrundeliegende Fall in Kürze:

Der Kläger arbeitete mit einem Jahreseinkommen von 38.770 € als Fahrer und im Nebenjob als Spinningtrainer mit einem Jahreseinkommen von 3.028 €. Er erlitt im Hauptberuf einen Arbeitsunfall mit Fußverletzung, wodurch er bis zum 29.05.2011 im Hauptberuf arbeitsunfähig war. Danach war er nur noch als Staplerfahrer vollschichtig einsatzfähig, nicht mehr als Fahrer.


Die Arbeitsunfähigkeit im Nebenjob bestand weiter fort. Die Berufsgenossenschaft zahlte bis zum 31.05.2012 Verletztengeld sowie – daran anschließend - Verletztenrente ab dem 01.06.2012 aufgrund einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 % ausgehend von einem Jahresarbeitsverdienstes (JAV) aus der Summe der beiden Verdienste. 


Der Kläger begehrte Verletztenrente beginnend mit dem 30.05.2011 von der Berufsgenossenschaft. Dies war wegen der Leistung von Verletztengeld abgelehnt worden; ein gleichzeitiger Bezug sei gesetzlich nicht möglich.

Arbeitsunfall kann parallel zu zwei verschiedenen Leistungen führen

Im Gegensatz zur Berufungsinstanz sah das Bundessozialgericht den Kläger gegenüber einem Versicherten mit nur einer Beschäftigung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG als ungleichbehandelt an. Da dies nicht gerechtfertigt werden könne, gebiete sich eine verfassungskonforme Auslegung des § 72 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII.


Danach sei dem Kläger ab dem 30.05.2011 ausgehend von einem JAV in Höhe der Hauptbeschäftigung Verletztenrente parallel neben Verletztengeld aus dem JAV der Nebenbeschäftigung zu leisten. 


Dem stehe weder der Wortlaut, noch die Systematik der Norm entgegen, so das Bundessozialgericht weiter. Es sei nicht ersichtlich, dass nur eine versicherte Beschäftigung im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII in der gesetzlichen Unfallversicherung zu Leistungen aus einem Arbeitsunfall führen könne. Ein Arbeitsunfall könne daher parallel zu zwei verschiedene Leistungen führen.

Anmerkung zur Tragweite der Entscheidung des Bundessozialgerichts:

Der Entscheidung ist in vollem Umfang zuzustimmen. Arbeitnehmer*innen mit mehreren parallel ausgeübten Beschäftigungen sind heute eine alltägliche Erscheinung.


Das Bundessozialgericht konnte sich hierbei allein auf die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs.1 GG stützen. Ein Rückgriff auf das Europarecht und den wohl darüber hinaus anwendbaren Art. 4 des Anhangs zur Richtlinie 97/81EG war nicht notwendig.


In der Praxis dürfte die Entscheidung einige Bedeutung haben. Das Fortbestehen einer Arbeitsunfähigkeit in einem Arbeitsverhältnis beim Wegfall in einem anderen ist bei Mehrfachbeschäftigungen nicht selten. Die Bedeutung geht daher über die gesetzliche Unfallversicherung hinaus und erfasst auch die Auslegung des Ruhens von Krankengeld nach § 49 Abs. 1 Nr. 1 SGB V.


Gerade im Krankenversicherungsrecht tun sich damit jedoch neue Probleme auf: Die Blockfrist des § 48 SGB V dürfte auch eine differenzierte Betrachtung der einzelnen Beschäftigungsverhältnisse des Versicherten erfordern. Hierauf müssen sich die Kassenärzte und Krankenkassen einstellen. Es bedarf in diesen Fällen künftig sehr genauen Ermittlungen und Tatsachenvortrags auch seitens der Versicherten und deren Prozessbevollmächtigten.


Die Terminvorschau und den Terminbericht zur Entscheidung des Bundesozialgerichts vom 23.07.2015 können Sie hier nachlesen.

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Terminbericht


Im Praxistipp: § 72 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) VII

Rechtliche Grundlagen

§ 72 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) VII

Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) - Gesetzliche Unfallversicherung

§ 72 Beginn von Renten

(1) Renten an Versicherte werden von dem Tag an gezahlt, der auf den Tag folgt, an dem
1.
der Anspruch auf Verletztengeld endet,
2.
der Versicherungsfall eingetreten ist, wenn kein Anspruch auf Verletztengeld entstanden ist.
(2) Renten an Hinterbliebene werden vom Todestag an gezahlt. Hinterbliebenenrenten, die auf Antrag geleistet werden, werden vom Beginn des Monats an gezahlt, der der Antragstellung folgt.
(3) Die Satzung kann bestimmen, daß für Unternehmer, ihre im Unternehmen mitarbeitenden Ehegatten oder mitarbeitenden Lebenspartner und für den Unternehmern im Versicherungsschutz Gleichgestellte Rente für die ersten 13 Wochen nach dem sich aus § 46 Abs. 1 ergebenden Zeitpunkt ganz oder teilweise nicht gezahlt wird. Die Rente beginnt spätestens am Tag nach Ablauf der 13. Woche, sofern Verletztengeld nicht zu zahlen ist.
(4) (weggefallen)