Silke Clasvorbeck berichtet für dgbrechtsschutz.de vom Rechtspolitischen Kongress
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Sozialleistungen in Europa – Chance oder Abschottung nationaler Sicherungssysteme?


Ein wahrlich schwieriges Thema. Damit beschäftigten sich Prof. Dr. Eichenhofer von der Universität Jena, Prof. Dr. Langenfeld vom Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, Dr. Oppermann, Richterin am BSG und Dr. Harich, Richter am Oberverwaltungsgericht Bremen. Hierbei war sicher gut, dass sowohl Redner als auch Zuhörer noch die glühende Rede von Prof. Prantl vom Vortag im Ohr hatten. Dieser hatte sich für Europa als Schutzraum ausgesprochen.  

Deutscher Sozialstaat ist nicht der Sozialstaat der Deutschen

Die Eingangsfrage lautete dann auch, was der Schutzraum Europa umfasst. In seinem Impulsreferat ging Prof. Eichenhofer das Thema offen an. Zur Frage der Freizügigkeit und den Sozialleistungen in Europa gibt es Stimmen, die von „Einwanderung in die Sozialleistungen“ sprechen. Europa sei keine Sozialunion. Prof. Eichenhofer stellte sich die Frage, ob dies richtig sei.  Er knüpfte dafür bei der Frage an, für welche Menschen der Sozialstaat da ist. Sein Ergebnis: „Der Deutsche Sozialstaat ist nicht der Sozialstaat der Deutschen“.

Ausschluss Unionsbürger von Hartz IV europarechtswidrig?

In § 7 des Sozialgesetzbuch, Zweites Buch (SGB II) werden Unionsbürger, die sich allein zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten, von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes ausgenommen. Die Experten waren sich einig, dass diese Vorschrift verfassungsrechtlich problematisch ist, da sie nach der Nationalität unterscheidet. Vom Bundesverfassungsgericht gibt es hierzu keine grundsätzliche Klärung. Das Gericht hatte allerdings in früheren Entscheidungen zur Rente und zum Asylbewerberleistungsgesetz eine Unterscheidung nach der Staatsangehörigkeit für verfassungswidrig erklärt.

Der Schlüssel zur Klärung liegt nach Prof. Eichenhofer allerdings im Europarecht. Hier gilt das Prinzip der Nichtdiskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit bei sozialen Leistungen. Dabei seien die Leistungen sozialer Sicherung auch die beitragsunabhängigen Geldleistungen. Er sieht hier ein Riesenproblem.

Für die sozialgerichtliche Praxis kam Frau Oppermann zu Wort. Die Sozialgerichte entscheiden die Rechtsstreite unterschiedlich, zum Teil gegen die gesetzliche Norm. Sie sieht eine unmittelbare Diskriminierung, da die Vorschrift direkt an die Staatsangehörigkeit anknüpft. Sie sieht das Arbeitslosengeld II zusammen mit ihren Kollegen vom Bundessozialgericht als beitragsunabhängige Leistung. Das ist allerdings höchst umstritten.  

Das Bundessozialgericht hat die Frage einer möglichen Europarechtswidrigkeit des gesetzlichen Leistungsausschluss für Arbeit suchende Unionsbürger  im Dezember letzten Jahres dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgelegt. Die Entscheidung bleibt mit Spannung abzuwarten. 

Dr. Harich bremste allerdings die Hoffnung auf die Entscheidung des EuGH.

„Freizügigkeit hat nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine grundrechtliche und soziale Dimension“

Deshalb muss der EuGH nach Prof. Eichenhofer in seiner Interpretation die Grundrechtecharta beachten. Das Verbot der Diskriminierung wegen des Vermögens sei für die Reichen gedacht, er stellte aber die kühne Überlegung an, ob das nicht auch für den armen Tropf gelten müsse. Sein Fazit: „Man darf den Armen nicht die Freizügigkeit versagen“. Seine Vision ist es, ein Europäisches Fürsorgeabkommen zum sozialen Standard zu machen.

Prof. Langenfeld machte den aktuellen Stand klar. Danach hat sich die Freizügigkeit als Grundrecht für Unionsbürger entwickelt. Dabei erhalten Arbeitnehmer und Selbständige die soziale Gleichheit in vollem Umfang. Sie spricht von einer weitgehenden sozialen Solidarität. Ein Migrationsbarometer dazu habe ergeben, dass 2/3 eine soziale Unterstützung zugestehen. Die streitigen Fälle sind die der nicht Erwerbstätigen. „Europa ist hier einen weiten Weg gegangen“, so Frau Dr. Langenfeld.

Sozialhilfe und Aufenthaltsrecht

Im Folgenden thematisierte sie den Bezug zwischen Sozialhilfe und dem Aufenthaltsrecht. Eine Spannung gäbe es für den Zeitraum nach Ablauf von 3 Monaten und Erlangung des Daueraufenthaltsrechts. Wenn Sozialhilfe in unangemessener Weise in Anspruch genommen wird, können aufenthaltsbeendende Maßnahmen eingeleitet werden.

Dr. Harich als Verwaltungsrichter sprach sich dafür aus, das Problem aufenthaltsrechtlich anzugehen. Bei Ausstellung der Freizügigkeitsbescheinigungen fehle es oft an einer Prüfung. Und das, obwohl das Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche unbefristet ist. Es gäbe nur wenige Möglichkeiten, sich rechtmäßig aufhaltende Unionsbürger von den Sozialleistungen auszuschließen. Deshalb sollten die Ausländerbehörden stärker in die Pflicht genommen werden. Es gilt eine Freizügigkeitsvermutung und er fordert eine Prüfung, ob ein Freizügigkeitsrecht noch  besteht. Der Gesetzgeber sei dann gefragt, Lösungen für die Personen zu finden, die nicht mehr freizügigkeitsberechtigt sind.

Gerechtigkeitsfrage im politischen Raum zu lösen

Prof. Langenfeld nannte die Rechtslage überaus verworren. Eine rechtssichere Antwort, wer „Hartz IV“  bekommt, könnten nicht mal Experten geben.

Ihre Prognose für die anstehende Entscheidung des EuGH ist, dass dieser eine Einzelentscheidung fordern wird statt einem pauschalen Ausschluss zuzustimmen. Das allerdings würde einen enormen Aufwand für die Behörden bedeuten.

Prof. Langenfeld wies auch darauf hin, dass die Gruppe der Unionsbürger aus Bulgarien und Rumänien, die einwandern und nicht arbeiten, in der Öffentlichkeit maßlos überschätzt wird.

Sie selbst hält den Ausschluss nur für die Personen gerechtfertigt, die ausschließlich zur Arbeitssuche herkommen und noch gar nicht hier gearbeitet haben. Wenn das anders geregelt wird, sieht sie ein Gerechtigkeitsproblem. Diese Frage sei allerdings im politischen Raum zu lösen. Die hohe Akzeptanz für die Freizügigkeit dürfe nicht verspielt werden.

Argumente zur Belastbarkeit der Sozialsysteme nach EuGH heranzuziehen

Frau Oppermann stellt hier als Bundesrichterin die berechtigte Frage, wie bei der Prüfung die Belastung des gesamten Sozialsystems mit einfließen kann. Das SGB II dient der Integration in den Arbeitsmarkt. Sie hält es deswegen für unionswidrig, wenn man sich die Frage der Belastung stellen muss.

Ihr Fazit: Die Solidarität der Wohnstaaten, die auch für Deutsche in anderen Ländern gilt, sei ein Beitrag zur Integration in eine offene Gesellschaft.

Kritische Stimmen aus dem Publikum 

Zu diesem Thema wurden abschließend besonders kritisch Meinungen geäußert. 

Europa sei ja schön und gut, aber vollkommen intransparent, so eine Professorin. Soziale Probleme würden provoziert, da diese Art von Solidarität und Einwanderung in die Fürsorgesysteme nicht offen kommuniziert worden sei.

Auf die Leistungsfähigkeit der Kommunen wies eine Sozialdezernentin einer ostdeutschen Stadt hin. Das System kollabiere, wenn keine Entlastungssysteme geschaffen werden.

Silke Clasvorbeck - Bielefeld

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