Jobcenter kürzt Regelsatz für nicht in Anspruch genommenes Essen
Jobcenter kürzt Regelsatz für nicht in Anspruch genommenes Essen

Geklagt hatte eine Frau, die zusammen mit ihrem Sohn Leistungen nach dem zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) - Arbeitslosengeld II - bezog. Sie arbeitete bei einem größeren Produzenten und Vertreiber von Wurst- und Fleischwaren. Hier wird den Mitarbeiter*innen für die Pausen gratis Verpflegung zur Verfügung gestellt. Diese besteht hauptsächlich aus den eigenen Produkten.


Jobcenter kürzte Leistungen, obwohl die Verpflegung nicht in Anspruch genommen wurde


Das für das Arbeitslosengeld II zuständige Jobcenter rechnete das vom Arbeitgeber bereitgestellte Essen anteilsmäßig als Einkommen an. Es kürzte dementsprechend den Regelsatz der laufenden Leistungen der Frau. Diese wehrte sich zunächst mit einem Widerspruch und sodann mit einer Klage vor dem Sozialgericht Berlin. Denn: Die bereitgestellte Verpflegung hat sie gar nicht in Anspruch genommen, da sie eine weniger fett- und kohlenhydrathaltige Nahrung bevorzugt. Sie begehrte deshalb Leistungen ohne Berücksichtigung der zur Verfügung gestellten Verpflegung als Einkommen.


Das Sozialgericht gab der Klage statt und verurteilte das Jobcenter zu höheren Leistungen nach dem SGB II. Darauf habe die Klägerin einen Anspruch, da die vorgenommene pauschale Anrechnung der vom Arbeitgeber bereit gestellten Verpflegung als Einkommen rechtswidrig sei.
Die Vorschrift des § 2 Abs. 5 AlG II-V sei bereits wegen eines Verstoßes gegen höherrangigen Recht unanwendbar.


Leistungssystem des SGB II sieht individuelle Bedarfsermittlung nicht vor


Das Berliner Gericht beruft sich in seiner Entscheidung auf ein Urteil des Bundessozialgerichts aus dem Jahr 2008. Das BSG hatte sich hier (Urteil vom 18.06.2008, B 14 AS 22/07 R) mit der freien Verpflegung während eines Krankenhausaufenthaltes und der Anrechnung als Einkommen beim Arbeitslosengeld II auseinandergesetzt. Es sah keine Rechtsgrundlage für eine solche Anrechnung, wobei es auf die Zeit vor der Neuregelung des § 2 Abs. 5 AlG II-V ankam.


Das BSG ließ offen, ob die ab Januar 2008 geltende Neuregelung von einer gesetzlichen Grundlage gedeckt ist. Es äußerte aber grundsätzliche Bedenken, losgelöst vom konkreten Fall. Denn: Nach dem Leistungssystem des SGB II ist eine individuelle Bedarfsermittlung bzw. abweichende Bestimmung der Höhe der Regelleistung gesetzlich nicht vorgesehen. Und dies gelte sowohl zu Gunsten wie auch zu Lasten des Leistungsempfängers!


Zum gesetzlichen Hintergrund:

Bei der Gewährung von Essen handelt es sich um einen Grundbedarf, der von der Regelleistung des § 20 Abs. 1 SGB II gedeckt werden soll. Nach § 20 Abs. 1 SGB II umfasst die Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts insbesondere Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat und Bedarfe des täglichen Lebens. Das Regelungskonzept des SGB II geht dabei davon aus, dass die Bedarfe mittels der Regelleistung abschließend und pauschaliert gedeckt werden können. Der Bedarf wird nicht individuell ermittelt.


Sozialgericht Berlin leitet aus BSG-Entscheidung Verstoß gegen höherrangiges Recht ab


Das Sozialgericht Berlin teilt die Bedenken des BAG nicht nur, sondern hält sie für derart durchgreifend, dass § 2 Abs. 5 AlG II-V wegen eines Verstoßes gegen höherrangiges Recht unanwendbar sei.


Dies gelte auch, obwohl das SGB II seit der genannten Entscheidung des BSG wiederholt geändert worden ist. Denn an der zentralen Problematik, welche das BSG in Hinblick auf § 2 Abs. 5 AlG II-V herausgestellt hat, habe sich nichts geändert. Noch immer gilt der Regelbedarf pauschal und ohne die Möglichkeit einer individuellen Bedarfsbestimmung.


Anmerkung der Redaktion:


Das bemerkenswerte an diesem Fall ist weniger die „Idee“ des Jobcenters, die zur Verfügung gestellten Mahlzeiten als Einkommen anzurechnen. Denn so kurios dies erscheint, so wird dieses Vorgehen doch durch die AlG II-Verordnung vorgegeben.

Dem Sozialgericht kam es auch gar nicht darauf an, ob die betroffene Frau die Mahlzeiten des Arbeitgebers tatsächlich in Anspruch genommen hat. Das erhebliche in dieser Entscheidung liegt darin, dass es nicht um den speziellen Einzelfall geht, sondern das Gericht die pauschale Anrechnung der Verpflegung als Einkommen an sich für rechtswidrig und die Vorschrift des § 2 Abs. 5 AlG II-V für unanwendbar hält.


Dieser Ansicht kann nur zugestimmt werden. Wenn es keinen Spielraum gibt, den Regelsatz nach oben anzupassen, sollte es auch keine Möglichkeit geben, diesen nach unten anzupassen.


In Fällen, in denen es um die Anrechnung von zur Verfügung gestellte Verpflegung als Einkommen geht, lohnt sich der Verweis auf das Urteil des Sozialgerichts Berlin ganz sicher.

Auch wenn es sich nur um eine erstinstanzliche Entscheidung handelt und diese auch rechtskräftig ist. Eine höher- oder höchstinstanzliche Meinung wird es dazu also nicht geben. Dabei kann nur darüber spekuliert werden, weshalb die Sache nicht weiter ging. Ganz sicher wird seitens der Jobcenter wenig Interesse daran bestehen, dass das BSG seine schon 2008 begonnen Bedenken gegen § 2 Abs. 5 AlG II-V zu Ende denkt.  

Lesen hier das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23.03.2015 (S 175 AS 15482/14) im Volltext.

Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 18.06.2008, B 14 AS 22/07 R kann hier nachgelesen werden.

Rechtliche Grundlagen

Rechtstipp:

§ 2 Abs. 5 AlG II-V:
Bei der Berechnung des Einkommens ist der Wert der vom Arbeitgeber bereitgestellten Vollverpflegung mit täglich 1 Prozent des nach § 20 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch maßgebenden monatlichen Regelbedarfs anzusetzen. Wird Teilverpflegung bereitgestellt, entfallen auf das Frühstück ein Anteil von 20 Prozent und auf das Mittag- und Abendessen Anteile von je 40 Prozent des sich nach Satz 1 ergebenden Betrages.

§ 20 SGB II (Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhaltes):
Der Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts umfasst insbesondere Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie ohne die auf die Heizung und Erzeugung von Warmwasser entfallenden Anteile sowie persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens. Zu den persönlichen Bedürfnissen des täglichen Lebens gehört in vertretbarem Umfang eine Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft. Der Regelbedarf wird als monatlicher Pauschalbetrag berücksichtigt. Über die Verwendung der zur Deckung des Regelbedarfs erbrachten Leistungen entscheiden die Leistungsberechtigten eigenverantwortlich; dabei haben sie das Eintreten unregelmäßig anfallender Bedarfe zu berücksichtigen.