Ist ein Arbeitnehmer fortdauernd arbeitsunfähig erkrankt, verfällt sein Anspruch auf den Mindesturlaub entgegen § 7 Abs. 3 BUrlG aufgrund europarechtlicher Vorgaben nicht schon am 31.03. des Folgejahres. Wie lange ein darüber hinaus gehender tariflicher Urlaubs- oder Urlaubsabgeltungsanspruch fortbesteht, hängt jedoch vom Tarifvertrag ab.

Welcher Sachverhalt lag dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts zu Grunde?


Mit seiner Klage hat der 1950 geborene und seit 1974 bei der beklagten Stadt als Angestellter beschäftigte Kläger für die Jahre 2007 und 2008 jeweils 10 Tage Mehrurlaub als Ersatzurlaub verlangt. Der Kläger konnte diesen Mehrurlaub weder in diesen Jahren noch bis zum 31. Mai des jeweiligen Folgejahres antreten, weil er vom 23. Juni 2007 bis zum 7. Oktober 2009 arbeitsunfähig war.

Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Gemäß § 26 Abs. 1 Satz 2 des auf das Arbeitsverhältnis der Parteien anwendbaren Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD) beträgt der Urlaubsanspruch des Klägers 30 Arbeitstage. § 26 Abs. 2 Buchstabe a TVöD bestimmt abweichend von der Regelung in § 7 Abs. 3 BUrlG, dass der Erholungsurlaub im Falle seiner Übertragung bis zum 31. Mai des Folgejahres angetreten werden muss, wenn er wegen Arbeitsunfähigkeit nicht bis zum 31. März des Folgejahres angetreten werden konnte.

Wie hat das Bundesarbeitsgericht entschieden?


Die Revision des Klägers hatte vor dem Neunten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg.

Ist ein Arbeitnehmer fortdauernd arbeitsunfähig erkrankt, verfällt sein Mindesturlaubsanspruch entgegen § 7 Abs. 3 BUrlG aufgrund europarechtlicher Vorgaben nicht schon am 31. März des Folgejahres. Der von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG gewährleistete Anspruch auf Mindestjahresurlaub von vier Wochen darf nach der neueren Rechtsprechung des EuGH nicht vor Ablauf eines den Bezugszeitraum deutlich übersteigenden Zeitraums verfallen, wenn der Arbeitnehmer wegen Arbeitsunfähigkeit seinen Urlaub nicht nehmen konnte.

Die Tarifvertragsparteien können hiervon abweichend Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüche, die den von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG gewährleisteten und von den §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG begründeten Anspruch auf Mindestjahresurlaub von vier Wochen übersteigen (Mehrurlaub), frei regeln. Ob sie von dieser Regelungsmacht Gebrauch gemacht haben, ist durch Auslegung der maßgeblichen Tarifbestimmungen festzustellen.

Die Tarifvertragsparteien des TVöD haben zwar nicht ausdrücklich zwischen dem gesetzlichen, unionsrechtlich verbürgten Mindesturlaub von vier Wochen und dem tariflichen Mehrurlaub differenziert. Sie haben sich jedoch mit der Regelung in § 26 Abs. 2 TVöD hinreichend deutlich vom gesetzlichen Fristenregime in § 7 Abs. 3 BUrlG gelöst, indem sie die Übertragung und den Verfall des Urlaubsanspruchs eigenständig geregelt haben. Dies hindert die Annahme eines "Gleichlaufs" des gesetzlichen Mindesturlaubs und des tariflichen Mehrurlaubs und bewirkt, dass der Mehrurlaub aus dem Jahr 2007 am 31. Mai 2008 und der Mehrurlaub aus dem Jahr 2008 am 31. Mai 2009 gemäß § 26 Abs. 2 Buchst. a TVöD verfallen sind.

Auswirkungen der Entscheidung auf die Praxis:


Urlaubsansprüche verfallen am Ende des Urlaubsjahres bzw. spätestens mit Ablauf des 31. März des Folgejahres nach dem BUrlG. Aufgrund europarechtlicher Vorgaben gelten diese Grundsätze nicht, wenn Arbeitnehmer den Urlaub aufgrund einer langandauernden Erkrankung nicht nehmen konnten. Seit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Sache Schultz-Hoff darf der vierwöchige Mindesturlaub nicht zum 31. Dezember oder zum 31. März des Folgejahres verfallen, wenn der Arbeitnehmer ihn infolge einer längeren Krankheit nicht nehmen konnte. Dieser Ausschluss des Verfalls von Urlaubsansprüchen gilt zunächst nur für den gesetzlichen Mindesturlaub und den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen. Tarifliche Urlaubsansprüche können trotz einer langandauernden Erkrankung von Arbeitnehmern verfallen, wenn die Tarifvertragsparteien sich auf Urlaubsregelungen verständigt haben, die von den Bestimmungen des Bundesurlaubsgesetzes abweichen.
Gibt es in dem Tarifvertrag solche eigenständigen Übertragungsregelungen, kann sich aus ihnen ergeben, dass der wegen Krankheit nicht genommene Mehrurlaub zu einem bestimmten Zeitpunkt verfällt. Enthält der Tarifvertrag dagegen keine eigenständigen Übertragungsregelungen, gilt für den tariflichen Mehrurlaub das BUrlG und die zum BUrlG ergangene Rechtsprechung, die den Arbeitnehmer davor sichert, seinen Urlaubsanspruch durch eine längere Erkrankung zu verlieren ("Gleichlauf mit dem BUrlG").

Das BAG hat nunmehr deutlich Aussagen dazu getroffen, dass bei Anwendung des TVöD der über den gesetzlichen Urlaubsanspruch hinausgehende Mehrurlaub am 31.05. des darauffolgenden Jahres bei durchgängiger Arbeitsunfähigkeit verfällt. Dies betrifft natürlich nicht den gesetzlichen Mindesturlaub und Schwerbehindertenurlaub, der erhalten bleibt. Die Entscheidung ist eine weitere Entscheidung im Rahmen des Urlaubsrechts und dem TvÖD. Das BAG hatte mit Urteil vom 20.03.2012 schon entschieden, dass die altersabhängige Staffelung der Urlaubsdauer in § 26 Abs. 1 Satz 2 TVöD gegen das Diskriminierungsverbot wegen des Alters verstößt. Deshalb stellt das Gericht fest, dass das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters nur beseitigt werden kann, indem die Dauer des Urlaubs für alle 30 Arbeitstage beträgt.  Mit einem weiteren Urteil vom 22.5.2012 hatte das BAG der Revision eines Arbeitnehmers teilweise stattgegeben, der den ihm nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder - TV-L - zustehenden Mehrurlaub aufgrund der Beendigung des Arbeitsverhältnisses abgegolten haben wollte. Er hatte entschieden, dass die Urlaubsregelung im TV-L den Anspruch des Beschäftigten auf Abgeltung des tariflichen Mehrurlaubs nicht daran knüpft, dass der Beschäftigte zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses arbeitsfähig ist oder seine Arbeitsfähigkeit während des tariflichen Übertragungszeitraums wieder erlangt.

Die Rechtsprechung zum Urlaubsrecht ist in den letzten Jahren mehrfach geändert und an europäische Vorschriften angepasst worden, so dass es sich lohnt bei Streitigkeiten rechtlich beraten zu lassen.

Pressemitteilung des BAG zum Urteil vom 22.05.2012, Az: 9 AZR 575/10