Die Zeugenaussage der behandelnden Ärztin ergab keinen Anlass zu Bedenken. © Adobe Stock: LIGHTFIELD STUDIOS
Die Zeugenaussage der behandelnden Ärztin ergab keinen Anlass zu Bedenken. © Adobe Stock: LIGHTFIELD STUDIOS

Arbeitgeber sind zweifelsohne nicht erfreut über Lohnfortzahlungskosten. Die Gesetze regeln jedoch eindeutig und klar, dass für die ersten sechs Wochen einer Arbeitsunfähigkeit das Entgelt fortzuzahlen ist – ob der Arbeitgeber das nun möchte oder nicht. Eine besondere Spitzfindigkeit ist es, wenn der Arbeitgeber einfach mal behauptet, der Arzt habe die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aus bloßer Gefälligkeit ausgestellt. Arbeitnehmer*innen fühlen sich damit in Beweisnot.

 

So einfach ist es nicht

 

Der im Gleisbau beschäftigte Arbeitnehmer war viele Wochen lang krankgeschrieben. Die Krankenkasse hatte auch bereits mehrere Monate beanstandungsfrei Krankengeld gezahlt. Dennoch weigerte sich der Arbeitgeber, die Entgeltfortzahlung für die Zeit davor zu übernehmen.

 

Julia Wright, Rechtsschutzsekretärin aus dem DGB Rechtsschutzbüro Neuruppin, zog das Arbeitsgericht mit ihren Argumenten auf die Seite des Klägers und brachte das Verfahren zu einem erfolgreichen Abschluss. Ihr fällt allerdings auf, dass sich seit zwei Entscheidungen des BAG zum Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeit die Verfahren häufen, in welchen Arbeitgeber eine Lohnkürzung vornehmen, weil sie die Erkrankung anzweifeln. Umso erfreulicher ist es aus ihrer Sicht, wenn nun deutlich wird, dass die Krankschreibung eben doch zählt.

 

Der Arbeitgeber hatte sich auf Urteile des Bundesarbeitsgerichts berufen

 

Auch in Neuruppin berief sich der Arbeitgeber auf aktuelle höchstrichterliche Urteile. 2019 hatte das Bundesarbeitsgericht zum Beweiswert einer AU-Bescheinigung entschieden. Im Verfahren ging es darum, dass ein Arzt unmittelbar nach dem Ablauf des sechswöchigen Entgeltfortzahlungszeitraums erneut Arbeitsunfähigkeit wegen einer anderen Krankheit im Rahmen einer Erstbescheinigung festgestellt hatte. Hier könne der Beweiswert erschüttert sein, wenn sich die Krankheiten, die zur Arbeitsunfähigkeit führten, nachweislich überschnitten. Der*die Arbeitnehmer*in müsse dann beweisen, dass die frühere Arbeitsunfähigkeit mit Beginn der neuen Arbeitsunfähigkeit beendet sei.

 

In einem weiteren Urteil aus 2021 befasste sich das Bundesarbeitsgericht ebenfalls mit dem Beweiswert einer AU-Bescheinigung. Werden Arbeitnehmer*innen, die ihr Arbeitsverhältnis kündigen, am Tag der Kündigung arbeitsunfähig krankgeschrieben, könne dies den Beweiswert der AU-Bescheinigung insbesondere dann erschüttern, wenn die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfasst, heißt es im Urteil.

 

Lesen Sie dazu auch:

 

Passgenaue Krankschreibung bei Kündigung kann ernste Zweifel begründen.

 

Der Sachverhalt im Fall des hiesigen Klägers war demgegenüber völlig anders.

 

Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hat einen hohen Beweiswert

 

Die AU-Bescheinigung sei eine Privaturkunde, so das Arbeitsgericht. Was genau darunter zu verstehen ist, ergibt sich aus § 416 ZPO. Darin heißt es:

 

„Privaturkunden begründen, sofern sie von den Ausstellern unterschrieben oder mittels notariell beglaubigten Handzeichens unterzeichnet sind, vollen Beweis dafür, dass die in ihnen enthaltenen Erklärungen von den Ausstellern abgegeben sind.“

 

Aus ihr lasse sich entnehmen, wie lange eine Arbeitsunfähigkeit bestehe und wie lange sie voraussichtlich andauere. Die Bescheinigung sei rechtlich betrachtet von großer Bedeutung.

 

Materiell-rechtlich träfen die Arbeitnehmer*innen im Fall der Arbeitsunfähigkeit verschiedene Pflichten. Unter Anderem müsse im Falle einer länger als drei Tage andauernden Arbeitsunfähigkeit eine AU-Bescheinigung vorgelegt werden. Prozessual stelle die Bescheinigung jedoch eine Beweislasterleichterung dar.

Die AU-Bescheinigung erleichtert den Beweis

 

Allerdings setze die Befreiung von der Arbeitsflicht sowie die Entgeltfortzahlung voraus, dass auch tatsächlich Arbeitsunfähigkeit vorliege. Dafür seien Arbeitnehmer*innen voll beweispflichtig. Die AU-Bescheinigung erzeuge einen sogenannten Anscheinsbeweis. Das führe zu einer Beweiserleichterung.

 

Diese Beweiserleichterung sage aber nichts anderes aus, als dass aus der Hilfstatsache der Bescheinigung auf die Haupttatsache der Arbeitsunfähigkeit geschlossen werden könne. Deshalb genüge es in aller Regel, wenn Betroffene die Hilfstatsache darlegten und bewiesen. Der Anscheinsbeweis sei eine der wichtigsten Beweiserleichterungen im Zivilprozessrecht und gelte auch im arbeitsgerichtlichen Verfahren.

 

Ein typischer Zusammenhang muss bestehen

 

Der Anscheinsbeweis sei geführt, wenn die zu beweisende Tatsache innerhalb eines typischen Lebenssachverhaltes nach der allgemeinen Lebenserfahrung unterstellt werden könne, und dieser Lebenssachverhalt im konkreten Einzelfall gegeben sei. Dabei müsse der Zusammenhang zwischen der sicher feststehenden und der zu beweisenden Tatsache so typisch sein, dass sich der daraus abzuleitende Schluss gleichsam aufdränge und von dem Vorliegen der zu beweisenden Tatsache deshalb grundsätzlich ausgegangen werden könne.

 

Dieser Schluss setze voraus, dass es sich um einen typischen Geschehensablauf handele. Dieser müsse so häufig vorkommen, dass die Wahrscheinlichkeit eines solchen Falles sehr groß sei.

 

Einen Anscheinsbeweis nehme die ständigen Rechtsprechung regelmäßig bei einer AU-Bescheinigung im Rahmen des Entgeltfortzahlungsgesetzes oder des Krankenversicherungsrechts an. Wolle der Arbeitgeber diesen Anscheinsbeweis (Beweiswert) einer AU-Bescheinigung erschüttern und gelinge ihm dies im Einzelfall, so habe dies eine besondere Wirkung auf die prozessuale Situation und könne vielfältige rechtliche Folgen haben, insbesondere für die Frage der Entgeltfortzahlung.

 

Der Kläger war ordnungsgemäß krankgeschrieben

 

Arbeitnehmer*innen hätten für die ersten sechs Wochen einer Arbeitsunfähigkeit Anspruch auf Entgeltfortzahlung. Der Kläger habe die gesetzlichen Voraussetzungen für die geltend gemachte Zahlung erfüllt. Seine behandelnde Ärztin habe ihn ordnungsgemäß krankgeschrieben. Die durchgeführten Untersuchungen und die erhobenen Befunde seien nicht zu beanstanden. Die Ärztin habe im Rahmen einer gerichtlichen Zeugenbefragung ausführlich und ohne Widersprüche dazu ausgesagt.

 

An Hand dieser Entscheidungen lasse sich kein anderes Ergebnis finden, so das Arbeitsgericht Neuruppin. Der Kläger habe nämlich, nachdem die Beklagte seinen Vortrag substantiiert bestritten habe, entsprechend substantiiert zu seinen Erkrankungen vorgetragen sowie darüber hinaus die ihn seinerzeit behandelnde Ärztin von der Schweigepflicht entbunden. Auch aus den von der Beklagten zitierten Urteilen des Bundesarbeitsgerichts ergebe sich nichts anderes.

 

Für das Gericht bestehe keinerlei Anlass dazu, an den Angaben der Ärztin zu zweifeln. Insbesondere die Mutmaßungen der Beklagten, dass es sich bei der Ausstellung der AU-Bescheinigung um sogenannte "Gefälligkeitsbescheinigungen" gehandelt haben solle, seien nicht feststellbar.

 

Das Ergebnis stand damit fest. Die Entgeltfortzahlung war nachzuzahlen.