Die Tätigkeit von Sicherheitsfachleuten in einem Einkaufszentrum ist mit erhöhten Anforderungen verbunden. Copyright by AboutLife/fotolia.
Die Tätigkeit von Sicherheitsfachleuten in einem Einkaufszentrum ist mit erhöhten Anforderungen verbunden. Copyright by AboutLife/fotolia.

Beide Kläger sind beschäftigt bei einem Unternehmen, das Sicherheitsdienstleistungen erbringt.  Eingesetzt sind sie in einem Gebäudekomplex in Berlin, dem PLAZA an der Frankfurter Allee. Hierbei handelt es sich um einen mehrstöckigen Komplex, der Wohnungen, Büros und im Erdgeschoss  19 Einkaufsläden und drei gastronomische Betriebe enthält. Die Fläche der Läden macht etwa 10% der Gesamtfläche aus.
 
Das Arbeitsverhältnis der beiden Kläger ist tarifgebunden, weil sie Mitglieder der Gewerkschaft Ver.di sind. Anzuwenden ist der Entgelttarifvertrag für Sicherheitsdienstleistungen in Berlin und Brandenburg vom 31.01.2017. Dieser enthält mehrere Entgeltgruppen (EG). In der EG 1 sind u.a. Sicherheitsfachleute im Objektschutz oder im Veranstaltungsdienst eingruppiert, in der höheren EG 2 Sicherheitsfachleute in Einkaufszentren. Im Übrigen enthält der Tarifvertrag noch das Merkmal, dass in der EG 2 Tätigkeiten mit Erschwernissen und erhöhten Anforderungen verrichtet werden.

Arbeitgeberin: das PLAZA ist kein Einkaufszentrum!

Die Arbeitgeberin zahlt den Klägern lediglich ein Entgelt nach der EG 1. Sie ist der Auffassung, dass es sich beim PLAZA nicht um ein Einkaufszentrum handeln würde. Es sei zu berücksichtigen, dass lediglich 10 % der Gesamtfläche auf die Ladenfläche entfalle. Ein Einkaufszentrum oder Vergleichbares könne zudem nur dann vorliegen, wenn es ein „gebündeltes Auftreten der Ladenbetreiber gegenüber dem Kundenkreis“ gebe. Dies sei hier nicht der Fall. Es gäbe insbesondere auch kein wirkliches Centermanagement.
 
Die Kläger würden daher lediglich eine normale Objektschutztätigkeit verrichten, wie sie der Entgeltgruppe 1 zugeordnet werde.
 

Nicht jeder Schlossbesitzer ist reich

Es gibt Begriffe in der deutschen Sprache, die mehrere Bedeutungen haben. Andere Begriffe werden je nach Empfänger unterschiedlich interpretiert. Der eine denkt bei „Arme“ an  Körperteile, der andere an wenig betuchte Menschen. Was gemeint ist, erschließt sich aber zumeist aus dem Zusammenhang. Bittet man einen Handwerker, ein Schloss zu reparieren, wird dieser selten auf den Gedanken kommen, er sei damit beauftragt, ein großes, prachtvolles Gebäude zu sanieren.

In Rechtsnormen wie Gesetze und Tarifverträge gibt es häufig Begriffe, deren Bedeutung nicht eindeutig bestimmt ist. Jurist*innen sprechen dann von „unbestimmten Rechtsbegriffen“, die im Zweifel von einem Gericht ausgelegt werden müssen. Im Arbeitsrecht entscheidet das Ergebnis der Auslegung nicht selten darüber, ob einer Arbeitnehmerin oder einem Arbeitnehmer Anspruch auf tarifvertragliche Leistungen hat.

Genauso verhält es sich im vorliegenden Fall. Es gibt keine allgemeingültige Auffassung, was unter einem Einkaufszentrum zu verstehen ist. Für den ist bereits eine kleine Ladenpassage ein Einkaufszentrum, während andere erst bei einer großen Einkaufs-Mall mit mindestens 50 Geschäften von einem Einkaufszentrum sprechen. Hier kommt es darauf an, was der Tarifvertrag unter einem Einkaufszentrum versteht.

Das Gericht muss im Zweifel die Regeln des Tarifvertrages auslegen

Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) ist der normative Teil eines Tarifvertrages nach denselben Regeln auszulegen wie ein Gesetz. Die Rechtswissenschaft hat insoweit mehrere Auslegungsregeln und  -theorien entwickelt, auf die hier nicht weiter eingegangen werden muss.
 
Gemäß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) kommt es bei der Auslegung einer Vorschrift auf den „objektivierten Willen des Gesetzgebers“ an, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den die Vorschrift hineingestellt ist. Mit anderen Worten: es ist nicht einmal entscheidend, was die einzelnen Mitglieder eines Parlamentes bei der Abstimmung über das Gesetz sich vorgestellt haben. Entscheidend ist vielmehr, was insgesamt geregelt werden sollte.
 
Das LAG Berlin hatte also die Aufgabe herauszufinden, was die Tarifvertragsparteien eigentlich regeln wollten. Entsprechend der Rechtsprechung des BVerfG und des BAG hat sich das Gericht zunächst mit dem Wortlaut auseinandergesetzt und dann geschaut, inwieweit sich die so ermittelte Bedeutung systematisch in den Tarifvertrag einordnen lässt.
 

Auslegen nach dem Wortlaut

Wenn es um die Auslegung nach dem Wortlaut geht, ziehen die Arbeitsgerichte oft ein Wörterbuch der Deutschen Sprache zur Rate, den sogenannten „Wahring“. Dieser beschreibt ein Einkaufszentrum als einen großer Komplex aus einem oder mehreren Kaufhäusern und Einzelhandelsgeschäften. Das LAG stellte insoweit fest, dass nach dieser Beschreibung das PLAZA ein Einkaufszentrum sei. Es handele  sich um einen einheitlichen Gebäudekomplex mit verschiedenen Läden im Erdgeschoss, die unterschiedlichen Bedürfnisse des Alltags abdeckten.
 
Auch werde das PLAZA in der Öffentlichkeit als Einkaufszentrum wahrgenommen. Von einer Einkaufspassage oder Ladenzeile unterscheide es sich durch die Anordnungen der Läden, die nicht links und rechts eines Durchgangs liegen würden, sondern über das Erdgeschoss mit seinem verschiedenen Zu- und Abgängen verteilt seien. Auf die Größe des Zentrums käme es nicht an.

Auslegen nach der Systematik des Tarifvertrages

Auch dem systematischen Zusammenhang nach ließe sich das PLAZA als Einkaufszentrum im Sinne des Tarifvertrages einordnen.
 
Die Entgeltgruppen 1 und 2 unterschieden sich in Bezug auf die hier im Streit stehenden Tätigkeiten ausschließlich darin, dass die Tätigkeit in EG 2 mit Erschwernissen oder erhöhten Anforderungen verbunden sein müsse. Hinsichtlich der Qualifikation würden sich Sicherheitsfachleute in Einkaufszentren nicht von Sicherheitsfachleuten im Objektschutz  oder im Veranstaltungsdienst unterscheiden.
 
Die erhöhten Anforderungen. mit denen eine Tätigkeit in einem Einkaufszentrum verbunden sei, würden darin liegen, dass ein Sicherheitsmitarbeiter dort unterschiedliche Kontroll- und Überwachungsaufgaben habe. Ein Einkaufszentrum solle möglichst viele Kunden zum Shoppen, Bummeln und Essen anziehen. Aufgrund der unterschiedlichen Ladenstruktur, der unterschiedlichen Anordnung der Läden, der Vielzahl der Personen, die regelmäßig anonym seien, stellten sich solche erhöhten Anforderungen. Diese werden nicht nur in Bezug auf ein etwaiges Konfliktmanagement, sondern auch in Bezug auf die Überwachung als solches, die auch den Schutz dieser Kunden betreffen kann, realisiert.
 
Die Anforderungen an die Überwachungstätigkeit seien beim PLAZA gleich groß wie in einem erheblich größeren Einkaufszentrum. Es käme auch nicht darauf an, ob das Einkaufszentrum über ein Centermanagement verfüge. Denn ein solches Centermanagement habe keinerlei Bezug zu den mit der hier streitigen Entgeltgruppe abzugeltenden Erschwernissen. Es käme allein auf die konkrete Tätigkeit des Sicherheitsmitarbeiters an, die von einem Centermanagement nicht direkt abhängen würden.
 

Keine allgemeingültige Aussage

Das LAG ist zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass im Sinne des Entgelttarifvertrages für Sicherheitsdienstleistungen in Berlin und Brandenburg das PLAZA ein Einkaufszentrum ist. Dabei hat es gut herausgestellt, aus welchem Grund der Tarifvertrag für Sicherheitsfachleute in Einkaufzentren einen höheren Lohn vorsieht. Es kommt nämlich im Wesentlichen auf die Art der Tätigkeit und den Anforderungen an die zu erbringende Leistung der Sicherheitsfachkraft an. Insoweit ist es unerheblich, ob das Zentrum groß oder klein ist. Auch auf ein „gebündeltes Auftreten der Ladenbetreiber gegenüber dem Kundenkreis“ etwa im Sinne eines Centermanagements kann es nach der Systematik des Tarifvertrages nicht ankommen.
 
Das LAG hat aber keineswegs endgültig beantwortet, was ein Einkaufszentrum ist. In anderen Tarifverträgen und anderen Vorschriften kann der Begriff durchaus eine andere Bedeutung haben. Die Entscheidungen zeigen aber sehr schön, wie Prozessvertreter mit einer guten juristischen Argumentation entscheidend im Sinne ihrer Mandant*innen auf den positiven Ausgang eines Prozesses  hinwirken können.
 
Hier geht es zu den Entscheidungen des LAG Berlin:
LAG Berlin vom 17.07.2018 - 7 Sa 245/18.
LAG Berlin vom 17.07,2018 - 7 Sa 243/18.