Hohe Wahrscheinlichkeit einer Pflichtverletzung reicht für Verdachtskündigung nicht aus.
Hohe Wahrscheinlichkeit einer Pflichtverletzung reicht für Verdachtskündigung nicht aus.

Der Betreiber eines Pflegeheimes wollte gegenüber einer Mitarbeiterin eine Verdachtskündigung aussprechen. Da die Mitarbeiterin Mitglied des Betriebsrates war, benötigte er die Zustimmung des Gremiums. Der Betriebsrat verweigerte jedoch die Zustimmung, sodass am Ende das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm entscheiden musste.

Drohung per Trauerkarte

Eine andere Arbeitnehmerin des Heims hatte mit der Dienstpost eine Trauerkarte erhalten. Darauf stand handschriftlich: „Für dich (bist die nächste)“. Der Arbeitgeber verdächtigte die Betriebsrätin. Er ließ die Trauerkarte graphologisch – also auf den Urheber der Handschrift hin – begutachten.

Das Gutachten ergab mit dem dritthöchsten Wahrscheinlichkeitsgrad, dass die Betriebsrätin die Karte geschrieben hat. Dies nahm der Arbeitgeber zum Anlass, beim Betriebsrat die Zustimmung zur Kündigung zu beantragen.

Da der Arbeitgeber der Meinung war, dass das Gutachten für einen dringenden Tatverdacht ausreiche, hörte er die verdächtige Arbeitnehmerin nicht an.

Selbst »hohe Wahrscheinlichkeit« reicht nicht

Nach dem Willen des Arbeitgebers sollte das Landesarbeitsgericht Hamm nun die verweigerte Zustimmung des Betriebsrats zur Kündigung ersetzen. Das Landesarbeitsgericht Hamm wies den Antrag jedoch ab.

Für eine Verdachtskündigung würden strenge Voraussetzungen gelten. Der Arbeitgeber müsse alle ihm möglichen und zumutbaren Mittel ausschöpfen, um den Sachverhalt aufzuklären. Insbesondere hätte er die Verdächtige selbst zu den Vorwürfen anhören müssen.

Eine Anhörung der Arbeitnehmerin könne der Arbeitgeber auch nicht durch das Gutachten ersetzen. Dies gelte umso mehr als dies nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellte, dass die Trauerkarte von der Betriebsrätin stammt.

Praxistipp: Das Arbeitsgericht ermittelt selbst

Über die Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrats entscheiden die Arbeitsgerichte durch Beschluss. Das bedeutet, dass das Gericht den Sachverhalt selbst (also von Amts wegen) erforscht. Weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer müssen Beweise liefern.

Legt – wie hier – etwa der Arbeitgeber ein eigenes Gutachten vor, trägt er damit besonders stichhaltig seine Sichtweise der Dinge vor. Das Gericht muss sich damit (nur) auseinandersetzen, ist aber nicht daran gebunden.

Im Kündigungsschutzverfahren müsste ein Arbeitnehmer aber ebenfalls besonders stichhaltig erwidern, warum das Gutachten nicht stimmig ist. Hier hat es sich das Gericht aber einfach gemacht und geurteilt, dass die Verdachtskündigung schon an der fehlenden Anhörung scheitere. Das Gutachten ändere hieran nichts.

Gleiche Fragen wie bei Kündigung

Im Zustimmungsersetzungsverfahren geht es letztlich auch nur darum, ob die Voraussetzungen einer Kündigung vorliegen oder nicht. Liegen sie vor, ist die verweigerte Zustimmung des Betriebsrats zu ersetzen. Daher bindet die Entscheidung aus dem Zustimmungsersetzungsverfahren auch den Arbeitsrichter, der über eine anschließende Kündigungsschutzklage zu entscheiden hätte. Er kann dann nicht mehr zu dem Ergebnis kommen, dass kein Kündigungsgrund mehr vorliegt. Dennoch ist ein vorgeschaltetes Ersetzungsverfahren oft sinnvoll und hilfreich. In einem Kündigungsschutzverfahren hätte die Arbeitnehmerin kaum die Möglichkeit gehabt, das Ergebnis des graphologischen Gutachtens zu entkräften. Hier kommt dem Arbeitnehmer zu Gute, dass das Gericht den Sachverhalt ermittelt. (Dieser Artikel ist zuerst erschienen in: „AiB-Newsletter, Rechtsprechung für den Betriebsrat“ des Bund-Verlags, Ausgabe 26/2016 vom 21.09.2016.)

Hier die Pressemitteilung des Landesarbeitsgericht Hamm zum Urteil von 30.08.2016 - 7 TaBV 45/16

 

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Rechtliche Grundlagen

§ 103 BetrVG

§ 103 Außerordentliche Kündigung und Versetzung in besonderen Fällen

(1) Die außerordentliche Kündigung von Mitgliedern des Betriebsrats, der Jugend- und Auszubildendenvertretung, der Bordvertretung und des Seebetriebsrats, des Wahlvorstands sowie von Wahlbewerbern bedarf der Zustimmung des Betriebsrats.

(2) Verweigert der Betriebsrat seine Zustimmung, so kann das Arbeitsgericht sie auf Antrag des Arbeitgebers ersetzen, wenn die außerordentliche Kündigung unter Berücksichtigung aller Umstände gerechtfertigt ist. In dem Verfahren vor dem Arbeitsgericht ist der betroffene Arbeitnehmer Beteiligter.

(3) Die Versetzung der in Absatz 1 genannten Personen, die zu einem Verlust des Amtes oder der Wählbarkeit führen würde, bedarf der Zustimmung des Betriebsrats; dies gilt nicht, wenn der betroffene Arbeitnehmer mit der Versetzung einverstanden ist. Absatz 2 gilt entsprechend mit der Maßgabe, dass das Arbeitsgericht die Zustimmung zu der Versetzung ersetzen kann, wenn diese auch unter Berücksichtigung der betriebsverfassungsrechtlichen Stellung des betroffenen Arbeitnehmers aus dringenden betrieblichen Gründen notwendig ist.