Für Massenentlassungen gelten nun verschärfte Regeln © Adobe Stock Андрей Яланский
Für Massenentlassungen gelten nun verschärfte Regeln © Adobe Stock Андрей Яланский

An ihrem Standort in Hessen kündigte die Beklagte 17 von 21 Arbeitnehmer*innen. Zuvor fertigte sie die vom Kündigungsschutzgesetz vorgeschriebene Massenentlassungsanzeige an die Bundesagentur für Arbeit. Dieser fehlten notwendige Angaben, entschied das Landesarbeitsgericht Hessen. Die Unterscheidung des Kündigungsschutzgesetzes zwischen „Muss“- und „Soll“-Angaben kenne das Europäische Recht nicht.

 

Wozu dient eine Massenentlassungsanzeige?

 

Das Kündigungsschutzgesetz verpflichtet Arbeitgeber in Betrieben mit mehr als 20 Arbeitnehmer*innen, der Agentur für Arbeit anzuzeigen, wenn eine größere Zahl von Beschäftigten entlassen werden soll. Der Arbeitgeber muss das vor Ausspruch der Kündigungen erledigen.

 

Die Anzeige dient dazu, die Agentur für Arbeit rechtzeitig zu informieren und dadurch eine Vermittlung der zu entlassenden Arbeitnehmer*innen zu erleichtern. Das Bundesarbeitsgericht hatte dazu früher schon klargestellt, dass eine betriebsbedingten Kündigung nur dann wirksam ist, wenn der Arbeitgeber die gesetzlichen Vorgaben für die Massenentlassungsanzeige ordnungsgemäß erfüllt hat.

 

Was regelt das Kündigungsschutzgesetz zur Massenentlassungsanzeige?

 

Nach dem Kündigungsschutzgesetz muss die Massenentlassungsanzeige folgende Angaben enthalten:

  • den Namen des Arbeitgebers, 
  • den Sitz und die Art des Betriebes, 
  • die Gründe für die geplanten Entlassungen, 
  • die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden und in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer*innen,
  • den Zeitraum, in dem der Arbeitgeber die Entlassungen vornehmen möchte und 
  • die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer*innen.

 

Angaben über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit "soll" der Arbeitgeber demgegenüber nur machen. 

 

Die Formulierung im Gesetz deutet darauf hin, dass hierfür keine Pflicht besteht, sondern diese Angaben freiwillig sind.

 

Was sagt das EU-Recht dazu?

 

Von Bedeutung ist hier die Europäische Massenentlassungsrichtlinie (MERL). Diese kennt keine Unterscheidung zwischen Soll- und Muss- Angaben. Sie verlangt vom Arbeitgeber die Mitteilung aller zweckdienlichen Angaben. Das Landesarbeitsgericht stellt dazu fest, die MERL unterscheide nicht zwischen solchen Angaben, die auf jeden Fall erfolgen müssten und solchen, die zwar zweckdienlich, aber gleichwohl verzichtbar seien. Die Richtlinie sei insoweit klar formuliert.

 

Die im Kündigungsschutzgesetz genannten Angaben über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer*innen hielt das Landesarbeitsgericht für zweckdienlich. Durch die Anzeige solle die zuständige Behörde rechtzeitig über die bevorstehende Massenentlassung unterrichtet werden, um sich hinsichtlich der anstehenden Vermittlungsbemühungen darauf einstellen zu können.

 

Die Vorschriften des Kündigungsschutzgesetzes könnten nur daran orientiert Geltung haben.

 

Was bedeutet das für Massenentlassungsanzeigen?

 

Gerichte hätten die Pflicht, nationales Recht unionrechtskonform auszulegen und gewährleisteten damit die volle Wirksamkeit Europäischer Richtlinien. Das könne erfordern, das nationale Recht fortzubilden bis hin zu Grenzen innerstaatlicher Rechtstradition. 

 

Gerichte dürften sich dabei nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen, sondern müssten diese Grundentscheidung respektieren. Lege man die Bestimmungen des Kündigungsschutzgesetzes zur Massenentlassungsanzeige entsprechend der MERL aus, widerspreche das der gesetzgeberischen Intention nicht.

 

Wenn die Angaben nur erfolgen „sollen“ und nicht „müssen“, bedeute das nicht, dass es folgenlos bleibe, wenn der Arbeitgeber die Angaben unterlässt. Eine Sollvorschrift beinhalte zwar in der Regel schwächere Rechtsfolgen als eine Mussvorschrift, zwingend sei das jedoch nicht.

 

Welche Pflicht besteht für Arbeitgeber?

 

Die Formulierung „soll“ im deutschen Gesetzestext versteht das Landesarbeitsgericht Hessen dahingehend, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, entsprechende Angaben zu machen, wo ihnen das jeweils möglich ist. Falls sie über die entsprechenden Daten verfügten, müssten sie diese auch im Rahmen der Soll-Vorschrift uneingeschränkt angeben. 

 

Die Vorschrift ist also nicht so zu verstehen, dass der Arbeitgeber frei darüber entscheiden kann, ob er der Bundesagentur für Arbeit die entsprechenden Daten mitteilt.

 

Der Arbeitgeber des Verfahrens vor dem Landesarbeitsgericht hatte vor Ausspruch der Kündigung der Arbeitsagentur entsprechende Angaben nicht gemacht, obwohl er sie kannte. Aufgrund dessen hielt das Gericht die Kündigungen für rechtsunwirksam.

Hier geht es zum Urteil des Landesarbeitsgerichts Hessen im Volltext 

 

 

 

Das sagen wir dazu:

Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Hessen ist nicht rechtskräftig. Der Arbeitgeber ging in Revision zum Bundesarbeitsgericht. Damit bleibt es spannend. 

Bestätigt die Revisionsinstanz das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hessen, werden sich Arbeitgeber auf dauerhaft verschärfte Regeln gefasst machen müssen. Jede Massenentlassung will dann sorgfältig vorbereitet sein. Fehler bedeuten für betroffene Arbeitnehmer*innen zumindest einen Zeitgewinn.

Wir empfehlen betroffenen Arbeitnehmer*innen deshalb, etwaige Massenentlassungsanzeigen ihres Arbeitgebers fachkundig rechtlich prüfen zu lassen. Hat der Arbeitgeber hier einen Fehler gemacht, ist die Kündigung schon allein deshalb unwirksam. Eine fehlerhafte Anzeige ist damit letztlich bares Geld wert.

Rechtliche Grundlagen

§ 17 Kündigungsschutzgesetz

(1) Der Arbeitgeber ist verpflichtet, der Agentur für Arbeit Anzeige zu erstatten, bevor er
1. in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern mehr als 5 Arbeitnehmer,
2. in Betrieben mit in der Regel mindestens 60 und weniger als 500 Arbeitnehmern 10 vom Hundert der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer oder aber mehr als 25 Arbeitnehmer,
3. in Betrieben mit in der Regel mindestens 500 Arbeitnehmern mindestens 30 Arbeitnehmer
innerhalb von 30 Kalendertagen entlässt. Den Entlassungen stehen andere Beendigungen des Arbeitsverhältnisses gleich, die vom Arbeitgeber veranlasst werden.
(2) Beabsichtigt der Arbeitgeber, nach Absatz 1 anzeigepflichtige Entlassungen vorzunehmen, hat er dem Betriebsrat rechtzeitig die zweckdienlichen Auskünfte zu erteilen und ihn schriftlich insbesondere zu unterrichten über
1. die Gründe für die geplanten Entlassungen,
2. die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden Arbeitnehmer,
3. die Zahl und die Berufsgruppen der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer,
4. den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen,
5. die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer,
6. die für die Berechnung etwaiger Abfindungen vorgesehenen Kriterien.
Arbeitgeber und Betriebsrat haben insbesondere die Möglichkeiten zu beraten, Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und ihre Folgen zu mildern.

(3) Der Arbeitgeber hat gleichzeitig der Agentur für Arbeit eine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat zuzuleiten; sie muss zumindest die in Absatz 2 Satz 1 Nr. 1 bis 5 vorgeschriebenen Angaben enthalten. Die Anzeige nach Absatz 1 ist schriftlich unter Beifügung der Stellungnahme des Betriebsrats zu den Entlassungen zu erstatten. Liegt eine Stellungnahme des Betriebsrats nicht vor, so ist die Anzeige wirksam, wenn der Arbeitgeber glaubhaft macht, dass er den Betriebsrat mindestens zwei Wochen vor Erstattung der Anzeige nach Absatz 2 Satz 1 unterrichtet hat, und er den Stand der Beratungen darlegt. Die Anzeige muss Angaben über den Namen des Arbeitgebers, den Sitz und die Art des Betriebes enthalten, ferner die Gründe für die geplanten Entlassungen, die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden und der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer, den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen und die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer. In der Anzeige sollen ferner im Einvernehmen mit dem Betriebsrat für die Arbeitsvermittlung Angaben über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer gemacht werden. Der Arbeitgeber hat dem Betriebsrat eine Abschrift der Anzeige zuzuleiten. Der Betriebsrat kann gegenüber der Agentur für Arbeit weitere Stellungnahmen abgeben. Er hat dem Arbeitgeber eine Abschrift der Stellungnahme zuzuleiten.

(3a) Die Auskunfts-, Beratungs- und Anzeigepflichten nach den Absätzen 1 bis 3 gelten auch dann, wenn die Entscheidung über die Entlassungen von einem den Arbeitgeber beherrschenden Unternehmen getroffen wurde. Der Arbeitgeber kann sich nicht darauf berufen, dass das für die Entlassungen verantwortliche Unternehmen die notwendigen Auskünfte nicht übermittelt hat.

(4) Das Recht zur fristlosen Entlassung bleibt unberührt. Fristlose Entlassungen werden bei Berechnung der Mindestzahl der Entlassungen nach Absatz 1 nicht mitgerechnet.
(5) Als Arbeitnehmer im Sinne dieser Vorschrift gelten nicht
1. in Betrieben einer juristischen Person die Mitglieder des Organs, das zur gesetzlichen Vertretung der juristischen Person berufen ist,
2. in Betrieben einer Personengesamtheit die durch Gesetz, Satzung oder Gesellschaftsvertrag zur Vertretung der Personengesamtheit berufenen Personen,
3. Geschäftsführer, Betriebsleiter und ähnliche leitende Personen, soweit diese zur selbständigen Einstellung oder Entlassung von Arbeitnehmern berechtigt sind.