Ein Schnelltest trägt dazu bei, die Pandemie einzudämmen. © Adobe Stock - Von jarun011
Ein Schnelltest trägt dazu bei, die Pandemie einzudämmen. © Adobe Stock - Von jarun011

Es geht um einen Fahrer, der bei einem sogenannten „Ride-Sharing Dienstleister“ angestellt ist. Solche Unternehmen bieten kommerziell Mitfahrgelegenheit an. Es gibt einige Varianten dieser Dienste. Neben Mitfahrzentralen sind das in Deutschland vor allem Anbieter von „Ridehailing“; einer Art Taxidienst, bei dem Fahrzeuge mit Fahrer über eine App gebucht werden können. Die bekanntesten Unternehmen in Deutschland sind insoweit Uber und Lyft.

Der Dienstleister, um den es hier geht, hat seinen Sitz in Hamburg und stellt seinen Fahrern PKW zur Verfügung, mit denen sie bis zu sechs Fahrgäste gleichzeitig transportieren können. Im Durchschnitt dauert eine Fahrt am Standort in Hamburg 21,1 Minuten. 

 

Der Fahrer war bis Ende Mai in „Kurzarbeit Null“

Der Fahrer ist bei dem Dienstleiter seit Juni 2019 auf Grundlage eines Arbeitsvertrages vom März 2019 mit einem regelmäßigen Bruttomonatsgehalt von zuletzt rund 2.000 € beschäftigt. Während der Corona-Pandemie hatte das Unternehmen zeitweise seinen regulären Fahrbetrieb eingestellt. Unser Fahrer befand sich bis Ende Mai 2021 in Kurzarbeit Null, war also nicht aktiv für den Ride-Sharing Dienstleister beschäftigt.

Im April 2021 übernahm das Unternehmen in Hamburg Nachtfahrten des öffentlichen Personennahverkehrs und gab per Pressemitteilung u.a. bekannt, dass neben anderen Infektionsschutzmaßnahmen die Fahrer regelmäßig auf Corona-Infektionen getestet würden.

Im Unternehmen gibt es ein „Fahrer-Handbuch“, das für alle Fahrer gemäß ihren Arbeitsverträgen verbindlich und strengstens zu befolgen ist. Im April 2021 teilte das Unternehmen seinen Beschäftigten mit, dass es das Handbuch ergänzt habe. Schon vor Erweiterung der gesetzlichen Vorgaben werde man unverzüglich damit beginnen, die Testfrequenz auf zwei Mal in der Woche zu erhöhen. Auch mit Tests sei es aber weiterhin erforderlich, dass die anderen Schutzmaßnahmen wie Abstand, Hygiene, Maske und Lüften beachtet würden.

 

Die Fahrer sollten im Juni ihre Tätigkeit wieder aufnehmen und Selbsttests durchführen

Anfang Mai 2021 informierte das Unternehmen ihre Fahrer zudem darüber, dass ab dem 1. Juni 2021 der reguläre Fahrtbetrieb wieder aufgenommen werde und die Fahrer, die sich in Kurzarbeit befänden, wieder ihrer Tätigkeit nachgehen könnten. In diesem Schreiben teilte es ferner mit, dass es ab Juni Corona-Selbsttest „für dich zu Hause“ anbiete. Der Arbeitgeber teilte seinen Fahrer*innen zudem mit, dass er Selbsttests zur Verfügung stellen würde und bot seinen Beschäftigten hierzu eine Online-Schulung an.

Sodann wies das Unternehmen die Fahrer*innen ausdrücklich noch einmal auf das Handbuch hin. In diesem bestimmte sie, dass der erste Test vor Schichtbeginn „vor Ort“ unter Aufsicht durchgeführt werde. Wenn dieser Probelauf problemfrei und korrekt absolviert werde, bekäme der Fahrer einen Satz neue Tests mit nach Hause. Negative Tests müsse er in seiner „Operations App“ im Rahmen der Abfahrtkontrolle eingeben. Wer vollständig geimpft sei, müsse keine Corona Schnelltests machen.

 

Ein Fahrer lehnte die Selbsttests ab, weil sie zu sehr in seine Persönlichkeitsrechte eingreifen

Am ersten Arbeitstag nach der Kurzarbeit, lehnte unser Fahrer es ab, vor Fahrtbeginn den bereitgestellten Corona-Schnelltest vor Ort durchzuführen. Darüber hinaus verweigerte er auch die Mitnahme von Testkits, um sich regelmäßig zu Hause selbst zu testen.

Die „Driver Managerin“ im Unternehmen hat den Fahrer wiederholt mündlich auf die Verpflichtung zur Durchführung der Tests hingewiesen. Nachdem dieser das weiter ablehnte, wurde er für den Tag (1. Juni 2021) unbezahlt freigestellt.

Auch an den folgenden beiden Arbeitstagen wiederholte sich die Prozedur. Der Fahrer blieb hartnäckig lehnte es jedes Mal ab, den Test durchzuführen und weitere Tests mit nach Hause zu nehmen. Das Unternehmen stellte ihn für den jeweiligen Tag von der Arbeit unbezahlt frei.

 

Schließlich bekam der Fahrer eine fristgemäße Kündigung und wurde für die Restdauer des Arbeitsverhältnisses freigestellt. Hiergegen hat der Fahrer Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht Hamburg erhoben. Nach seiner Auffassung konnte der Arbeitgeber im Rahmen seines Direktionsrechts die Tests nicht anordnen. Insbesondere sein Recht auf körperliche Unversehrtheit und sein allgemeines Persönlichkeitsrecht würden durch eine Pflicht zum Testen übermäßig verletzt.

 

Der Fahrer ist der Auffassung, dass eine regelmäßige Testung sei nicht im Sinne des Infektionsschutzes erforderlich gewesen sei

Die vom Unternehmen bereitgestellten Tests würden u.a. zu einer Reizung der Nasenschleimhaut führen und eine erhebliche Verletzungsgefahr mit sich bringen. Der Arbeitgeber habe daher, wenn überhaupt, nur ein Testverfahren mit weniger invasiven Tests etablieren dürfen. Insoweit hätte er vorab auch eine Gefährdungsbeurteilung durchführen müssen. Eine regelmäßige Testung sei nicht im Sinne des Infektionsschutzes erforderlich gewesen, da die Fahrerkabine der Fahrzeuge mit einer Trennwand von der Fahrgastkabine getrennt sei und so schon kein direkter oder indirekter Kontakt mit etwaigen Fahrgästen bestünde. Ferner sei ein etwaiges Infektionsrisiko schon dadurch gesenkt, dass für die Fahrgäste während der Fahrt auch die Pflicht bestünde, eine Mund-Nasen-Schutzmaske zu tragen, und die Belüftung im Fahrzeug von oben nach unten gerichtet sei.

Zudem habe er seinen Vorgesetzten bereits am 1. Juni 2021 unmittelbar nachdem er freigestellt wurde, gefragt, ob es einen weniger invasiven Test gäbe, zu dem er bereit gewesen wäre. Das habe dieser verneint. Am Abend habe der Kläger dann einen Anruf bekommen, wonach er am Folgetag wieder anfangen solle. An den beiden weiteren Arbeitstagen sei noch über die Tests gesprochen worden. Man habe ihn aber nicht abgemahnt.

 

Der Fahrer habe gezeigt, dass er die Corona-Maßnahmen nicht ernst nehme, meint der Arbeitgeber

Das Unternehmen trug indessen vor, dass der Fahrer am 1. und 2. Juni 2021 einschlägig abgemahnt worden sei. Weil er sich mehrfach geweigert habe, den Corona-Tests durchzuführen, sei das Vertrauensverhältnis der Arbeitsvertragsparteien nachhaltig erheblich gestört worden. Der Fahrer habe gezeigt, dass er den Corona-Schutzmaßnahmen nicht mit der erforderlichen Ernsthaftigkeit gegenüberstehe.

Da das Unternehmen sogar damit werbe, dass ihre Fahrer getestet seien, könne es in keinem Fall hinnehmen, wenn Fahrer grundlos und wiederholt den Test verweigerten. Man habe mit einem fortgesetzten Fehlverhalten des Fahrers rechnen müssen, nachdem sich dieser an drei Tagen in Folge grundlos geweigert habe.

 

Die verhaltensbedingte Kündigung ist in zwei Stufen zu prüfen

Es handelt sich hier um eine verhaltensbedingte Kündigung. Das Gericht musste - entsprechend der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) - diese in zwei Stufen prüfen:

  • Zunächst ist festzustellen, ob ein Verstoß gegen arbeitsvertragliche Pflichten vorliegt, der grundsätzlich geeignet ist, einen verhaltensbedingten Kündigungsgrund darzustellen.
  • Alsdann ist zu prüfen, ob das auch im konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen so ist.  

Im Sinne der ersten Stufe ist eine Kündigung sozial gerechtfertigt, wenn die/der Arbeitnehmer*in ihre/seine vertraglichen Haupt- oder Nebenpflichten erheblich und in der Regel schuldhaft verletzt hat und eine dauerhaft störungsfreie Vertragserfüllung in Zukunft nicht mehr zu erwarten steht. Auch eine erhebliche Verletzung der Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen des Arbeitgebers kann eine Kündigung rechtfertigen.

 

Die meisten verhaltensbedingten Kündigungen setzen eine vorherige einschlägige Abmahnung voraus

Eine Kündigung scheidet gemäß der zweiten Prüfungsstufe indessen aus, wenn der Arbeitgeber mildere Mittel zur Pflichtenmahnung hat. Er kann es etwa zunächst mit einer Abmahnung versuchen, den Arbeitnehmer zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten. Auf eine Abmahnung kann er nur verzichten, 

  • wenn er von vorneherein erkennen kann, dass eine Verhaltensänderung auch nach Ausspruch einer Abmahnung nicht zu erwarten ist oder
  • die Pflichtverletzung so schwerwiegend ist, dass selbst deren erstmalige Hinnahme durch den Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und offensichtlich und auch für den Arbeitnehmer erkennbar ausgeschlossen ist.

Gemäß diesen Grundsätzen ist das Arbeitsgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass die Kündigung unwirksam ist. Zwar sei die Anordnung des Unternehmens gegenüber ihren Fahrern rechtmäßig gewesen, die von ihr bereitgestellten Corona-Schnelltests (auch erstmalig vor Ort auf dem Betriebsgelände der Beklagten) durchzuführen, befand das Gericht. Der Fahrer habe dementsprechend schuldhaft gegen seine arbeitsvertraglichen Pflichten verstoßen.

 

Der Arbeitgeber greift in das Recht auf körperliche Unversehrtheit nur geringfügig ein

Nach Auffassung des Gerichts wäre allerdings vor Ausspruch einer Kündigung der Ausspruch einer Abmahnung als milderes Mittel geeignet und ausreichend gewesen, beim Kläger künftige Vertragstreue zu bewirken. Der Arbeitgeber hätte nicht beweisen können, dass er den Fahrer vor Ausspruch der Kündigung abgemahnt habe.

Näher ging das Gericht auf die Auffassung des Fahrers ein, die Anordnung des Arbeitgebers würde gegen sein Recht auf körperliche Unversehrtheit und seine allgemeinen Persönlichkeitsrechte verstoßen. Die Intensität des Eingriffs in die körperliche Integrität des Testanwenders vom Arbeitgeber gewählten Verfahren sei äußerst gering. Es handele sich um Schnelltests, die vom Anwender selbst durchgeführt werden könnten und nur einen Abstrich im vorderen Nasenbereich erforderten. Diese seien hinsichtlich ihrer Eingriffsintensität streng, insbesondere von Tests zu unterscheiden, die einen Abstrich im hinteren Nasen- und/oder Rachenbereich erforderten.

 

Das Recht auf informelle Selbstbestimmung ist nur mäßig verletzt

Sofern der Anwender nicht eine besondere Empfindlichkeit aufweise, seien die Tests im vorderen Nasenbereich im Regelfall lediglich mit einem leicht unangenehmen Gefühl verbunden. Dies gelte umso mehr, wenn der Test ein Selbsttest sei. Denn der Anwender könne hier selbst so vorgehen, dass das Prozedere komplett schmerzfrei abliefe. Die Forderung des Fahrers nach einem weniger invasiven Test gehe insofern fehl, als dass der vom Arbeitgeber gewählte Test bereits auf der Stufe der am wenigsten invasiven Tests stehe.

Auch in das allgemeine Persönlichkeitsrecht und das sich hieraus ergebene Recht auf informationelle Selbstbestimmung werde durch die Anordnung der Beklagten nicht übermäßig eingegriffen. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schütze grundsätzlich vor der Erhebung und Weitergabe von Befunden über den Gesundheitszustand, die seelische Verfassung und den Charakter des Arbeitnehmers. Der Schutz sei umso intensiver, je näher die Daten der Intimsphäre des Betroffenen stünden, erklärte das Gericht mit Hinweis auf die höchstrichterliche Rechtsprechung. Es sei insoweit im vorliegenden Fall unbedenklich, weil der Fahrer zu Hause einen Selbsttest durchführe. Er habe zu jeder Zeit des Testablaufs allein Zugriff auf alle entstehenden Daten und Proben und hätte die Entsorgung im Privaten derart organisieren können, dass niemand Zugriff auf seine gebrauchten Tests und die Ergebnisse bekäme.

 

Die erhobene Datenmenge ist überschaubar

Die Abfrage des Ergebnisses in der „Operations App“ stelle ebenfalls keinen starken Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar. Sie erfolge allein auf Vertrauensbasis. Der Arbeitgeber habe bei dem Verfahren zu keinem Zeitpunkt tatsächlich kontrollieren können, ob die Tests durchgeführt worden seien und was ihr Ergebnis gewesen sei. Die geplante Abfrage per App war mithin weniger Datenabfrage als eher eine Erinnerung verbunden mit der Hoffnung, dass der Fahrer die Tests tatsächlich durchgeführt habe und das wahre Ergebnis mitteile.

Aber auch der vor Ort bei der Beklagten durchzuführende Test vermöge keine durchgreifenden, grundsätzlichen Zweifel an der Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Klägers zu begründen, so das Arbeitsgericht Hamburg. Zum einen handele es sich hierbei um ein einmaliges Vorkommnis. Zum anderen sei die Datenmenge überschaubar. Der Arbeitgeber käme so namentlich zuordenbar an das Ergebnis eines überwiegend verlässlichen Tests, der eine kurze Momentaufnahme wiedergebe. Für den Fall eines positiven Ergebnisses könne er zwar aus den ihm zur Verfügung stehenden Daten unmittelbar annehmen, dass der Testanwender sich mit dem Corona-Virus infiziert habe, jedoch nichts darüber hinaus. Möglicherweise intimere Hintergründe wie etwa die Frage, ob sich der Testanwender habe impfen lassen, wo er sich angesteckt habe und ob ein später durchzuführender präziserer PCR-Test ebenfalls positiv ausfalle, erfahre sie hierdurch nicht. Gleiches gelte für ein negatives Ergebnis. Auch hier erlange der Arbeitgeber lediglich die Information, dass der Test in einem bestimmten Moment negativ ausgefallen sei.

 

Der geringen Eingriffe in die Rechte des Fahrers haben schwerwiegende Interessen des Arbeitgebers gegenübergestanden

Die Eingriffe in die Rechte des Fahrers wären nach Auffassung des Arbeitsgerichts also nur sehr gering gewesen. Dem hätten schwerwiegende Interessen des Arbeitgebers gegenübergestanden, insbesondere der Schutz der Kunden und der Mitarbeiter vor dem Infektionsrisiko mit ggf. schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen. Das Primärziel einer Testpflicht - nämlich Personen, die potenziell ansteckend seien, zu identifizieren und rechtzeitig daran zu hindern, dass diese unbemerkt andere ansteckten - habe eine hohe Relevanz, führte das Gericht weiter aus. Denn das Corona-Virus führe bei einigen Menschen zu einer erheblichen Gesundheitsschädigung, teilweise verbunden mit tödlichem Ausgang oder mit besonders unangenehmen Spät- und Langzeitfolgen. Diese Folgen einer Infektion seien selbst in milderen Fällen um ein Vielfaches unangenehmer und insbesondere abstrakt gefährlicher als ein Selbsttest mit einem Wattestäbchen im vorderen Nasenbereich. Der Arbeitgeber habe also ein berechtigtes, die regelmäßige Durchführung von Corona-Schnelltests gegenüber ihren Fahrern anzuweisen. Das Interesse sei deutlich höher zu bewerten, als dass Interesse des Fahrers, keinen Corona-Test durchführen zu wolle.

 

Das Gericht hat also sehr deutlich gemacht, dass das Verhalten des Fahrers eine Kündigung grundsätzlich möglich gemacht hätte. Der Fahrer hätte sein Verfahren verloren, wenn dem Arbeitgeber der Nachweis gelungen wäre, dass er tatsächlich wirksam abgemahnt worden ist. Insbesondere dadurch, dass die vorgesetzte „Driver Managerin“ ihm deutlich gemacht hätte, dass er ernsthaft mit einer Kündigung rechnen muss, wenn er noch einmal einen Test ablehnt.

 

Hier geht es zur Entscheidung des Arbeitsgerichts Hamburg.

Das sagen wir dazu:

Wir freuen uns als Gewerkschafter selbstverständlich grundsätzlich, wenn ein/e Arbeitnehmer*in ein Kündigungsschutzverfahren gewinnt und damit den Arbeitsplatz nicht verliert. Ein Arbeitsplatz ist in unserer Gesellschaft für die allermeisten Menschen Voraussetzung für eine selbstbestimmte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft.

Wir sind auch der Überzeugung, dass die allgemeinen Persönlichkeitsrechte im Allgemeinen und das Recht auf körperliche Unversehrtheit im Besonderen sehr hohe Rechtsgüter darstellen. Jeder Mensch kann entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) verlangen, dass auch Gerichtsurteile das berücksichtigen und Gesetze sowie andere Rechtsvorschriften im Sinne der demokratischen Grundordnung auslegen.

Bereits 1953 hat das BVerfG in seinem „Lüth-Urteil“ betont, dass sich in den Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes eine objektive Wertordnung verkörpert, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt. Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von dieser Wertordnung Richtlinien und Impulse. So beeinflusse sie selbstverständlich auch das Arbeitsrecht. Keine Vorschrift darf in Widerspruch dazu stehen, jede muss in ihrem Geiste ausgelegt werden.

 

Es besteht keine staatliche Schutzpflicht gegen den Willen desjenigen, um dessen Schutz es geht

Jede medizinische Behandlung einer Person gegen ihren natürlichen Willen greift in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit ein, so urteilt das BVerfG in regelmäßiger Rechtsprechung. Sofern Betroffene mit freiem Willen über medizinische Maßnahmen zur Erhaltung oder Besserung der eigenen Gesundheit entscheiden können, besteht keine Schutz- und Hilfsbedürftigkeit, die Voraussetzung für eine staatliche Schutzpflicht ist. Der Einzelne ist grundsätzlich frei, über Eingriffe in seine körperliche Integrität und den Umgang mit seiner Gesundheit nach eigenem Ermessen zu entscheiden. Diese Freiheit ist Ausdruck der persönlichen Autonomie. Das Bundesverfassungsgericht folgert aus der Menschenwürde und den allgemeinen Persönlichkeits- und Freiheitsrechten sogar ein Recht auf „Freiheit zur Krankheit“.

 

Insoweit hat unser Fahrer zunächst einmal Recht. Es geht hier zwar nicht um einen größeren Eingriff, aber eben doch um einen Eingriff in den Körper. Was er aber übersehen hat: andere Menschen haben auch Grundrechte. Seine Arbeitskolleg*innen und auch die Kund*innen des Unternehmens etwa haben wie er auch ein Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Artikel 2 Absatz 2 Grundgesetz in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz (Menschenwürde).

 

Niemand kann über die Grundrechte anderer disponieren

Die autonome Willensentscheidung des Einzelnen kann nämlich nur so weit reichen, wie seine eigenen Rechte betroffen sind. Über Rechte anderer Personen kann er nicht disponieren. Genau darauf weist auch das BVerfG immer wieder hin. Die Fachgerichte haben bei der Auslegung und Anwendung von Vorschriften Bedeutung und Tragweite der Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG für alle Menschen Rechnung zu tragen.

 

Im vorliegenden Fall musste das Gericht beurteilen, ob § 1 Absatz 1 Kündigungsschutzgesetz im Lichte des soeben Gesagten so auszulegen ist, dass die Testverweigerung als Kündigungsgrund trägt. Und daran kann es nach unserer Auffassung keinem Zweifel geben. Angesichts der eheblichen Gefahren, die eine Infektion mit dem SarsCov2-Virus für die Grundrechte von Arbeitskolleg*innen und Kund*innen mit sich bringt, muss das Recht des Fahrers, nicht in der Nase gekitzelt zu werden wollen, deutlich zurücktreten. Zumal seinerzeit bereits die Deltavariante des Virus unterwegs war, was erheblich höhere Ansteckungsgefahren mit sich brachte als bei den vorherigen Varianten. Gleichwohl ist die Entscheidung richtig, denn der Verstoß gegen die arbeitsrechtlichen Pflichten ist nicht so stark, dass er objektiv betrachtet einen endgültigen Vertrauensverlust bedeutet. Der Arbeitgeber bzw. die „Driver Managerin“ hätte gleich am ersten Tag nach der Kurzarbeit deutlich darauf hinweisen können, dass die Weigerung aus Sicht des Arbeitgebers einen Verstoß gegen vertragliche Pflichten darstellt und der Fahrer mit einer Kündigung rechnen muss, wenn er insoweit hartnäckig bleibt.

Etwas entsprechendes hat die Arbeitgeberin zwar behauptet. Das war im Verfahren jedoch streitig. Da im arbeitsgerichtlichen Urteilsverfahren grundsätzlich derjenige das beweisen muss, auf das er sich beruft, war der Arbeitgeber in der Pflicht. Da er dazu nicht in der Lage war und die Vorträge beider Parteien gegensätzlich waren, zieht ein Grundsatz, der sich aus dem römischen Recht herübergerettet hat: non liquet – die Angelegenheit ist nicht klar. Und dann unterliegt halt derjenige, der die Darlegungs- und Beweislast trägt.