Bundesverfassungsgericht „zerpflückt“ Bundesarbeitsgerichts - Personen in Elternzeit ist der Schutz der Regeln zur Massenentlassung zu gewähren!
Bundesverfassungsgericht „zerpflückt“ Bundesarbeitsgerichts - Personen in Elternzeit ist der Schutz der Regeln zur Massenentlassung zu gewähren!

Die Klägerin, ehemalige Arbeitnehmerin einer Fluggesellschaft, klagte gegen eine ihr ausgesprochen Kündigung. Die beklagte Fluggesellschaft hatte Ende 2009 sämtliche Tätigkeiten in Deutschland eingestellt und allen Arbeitnehmern gekündigt.

Klägerin in drei Instanzen erfolglos

Sämtliche Kündigungen erwiesen sich im Nachhinein als unwirksam. Seinerzeit befand sich die Arbeitnehmerin in Elternzeit.

Nachdem die für den Arbeitsschutz zuständige oberste Landesbehörde die Kündigung während der Elternzeit nach § 18 Abs.1 S 2 u. 3 Bundeselterngeldgesetz (BEEG) alter Fassung für zulässig erklärt hatte, kündigte die Beklagte im März 2010 auch ihr Arbeitsverhältnis.

Die hiergegen erhobene Kündigungsschutzklage wies das Arbeitsgericht ab; die Berufung vor dem Landesarbeitsgericht blieb erfolglos. Die von der Klägerin eingelegte Revision wies das Bundesarbeitsgericht mit der Begründung zurück, die Kündigung sei nicht anzeigepflichtig gewesen, da keine Massenentlassung vorgelegen habe. Denn die Kündigung der Klägerin sei nicht im Zusammenhang mit den anderen Kündigungen erfolgt sei und falle deshalb nicht in die 30-Tage-Frist des 17 Abs.1 S.1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG).

Klägerin dringt beim Bundesverfassungsgericht mit Verfassungsbeschwerde durch

Gegen die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts legte die Klägerin Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. Sie rügte unter anderem eine Verletzung der Artikel 3 und 6 Grundgesetz (GG), da sie durch das Urteil des Bundesarbeitsgerichts aufgrund ihrer Elternzeit diskriminiert worden sei.

Denn, so Beschwerdeführerin: Wenn ihre Kündigung nicht der Zulässigerklärung bedurft hätte, wäre ihr gleichzeitig mit den anderen Beschäftigten im Zusammenhang mit der Massenentlassung gekündigt worden und ihre Kündigung nach § 17 Abs. 2 KSchG unwirksam gewesen. Der Verstoß gegen Artikel 3 Absatz 2 GG ergebe sich daraus, dass Elternzeit überwiegend von Frauen in Anspruch genommen werden. Mithin sei von einer faktischen Benachteiligung im Sinne Artikel 3 Absatz 2 GG auszugehen.

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts kam in seiner Entscheidung vom 08. Juni 2016 zu dem Ergebnis, dass es gegen Art. 3 Abs.1 GG verstößt, die Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Elternzeit, die unmittelbar an die verfassungsrechtlich in Art. 6 Abs.1 GG geschützte Elternschaft anknüpft, vom Anwendungsbereich des Massenentlassungsschutzes auszuschließen.

Bundesverfassungsgericht „zerpflückt“ Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts

Der Ausschluss beruhe auf der Auffassung des Bundesarbeitsgerichts, den Massenentlassungsschutz auch für Personen in Elternzeit anhand des Zeitpunkts des Kündigungszugangs zu bestimmen. In bestimmten Fällen folge daraus ein geringeres Schutzniveau für Personen, die besonderen Kündigungsschutz genießen.

Insbesondere im Fall einer Betriebsstilllegung erkläre die zuständige Landesbehörde die Kündigung trotz Elternzeit regelmäßig für zulässig. Das Warten auf die Erklärung führe aber dazu, dass die Kündigung erst außerhalb des für eine Massenentlassung i.S.v. § 17 Abs.1 S.1 KSchG relevanten Zeitraums (30-Tage-Frist) erklärt werden kann.

Aus dieser Auffassung des Bundesarbeitsgerichts könne jedoch eine Rechtfertigung der Benachteiligung von Personen in Elternzeit, an die wegen des Zusammenhangs mit Art. 6 GG erhöhte Anforderungen zu stellen sind, nicht hergeleitet werden.

Späterer Kündigungstermin kompensiert Nachteil nicht

Die in § 17 KSchG statuierte Anzeigepflicht, die Gestaltungsoptionen des Betriebsrates und die frühzeitige Einschaltung der Agentur für Arbeit vor Ausspruch der Kündigung werden denjenigen genommen, die aufgrund besonderer Schutznormen aus dem Verfahren der Massenentlassung herausfallen. Dieser Nachteil werde nicht dadurch kompensiert, dass es aufgrund des Verwaltungsverfahrens, mit dem das Kündigungsverbot aufgehoben werden soll, regelmäßig zu einem späteren Kündigungstermin kommt.

Überdies verstoße die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts auch gegen den speziellen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs.3 S.1 GG. Hiernach dürfe das Geschlecht, auch im Hinblick des Gleichberechtigungsgebots in Art. 3 Abs.2 GG, grundsätzlich nicht als Anknüpfungspunkt für rechtlich oder faktisch nachteilige Ungleichbehandlungen herangezogen werden. Die Auffassung des Bundesarbeitsgerichts führe zu einer faktischen Benachteiligung wegen des Geschlechts. Zwar knüpfe die Schlechterstellung an die Elternschaft an, doch treffe sie Frauen erheblich stärker als Männer, weil Elternzeit bislang in evident höherem Maß von Frauen in Anspruch genommen werde.

Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde für begründet erachtet, das Revisionsurteil aufgehoben und die Sache an das Bundesarbeitsgericht zurückverwiesen.


Anmerkung:

Was bedeutet Massenentlassung? - Rechtsprechung zum Thema Massenentlassung.

Unter Massenentlassung ist die gleichzeitige Kündigung vieler Arbeitnehmer*innen durch einen Arbeitgeber zu verstehen. Ein Arbeitgeber unter den Voraussetzungen des § 17 Kündigungsschutzgesetz (KSchG), bei Überschreitung gewisser im Gesetz genannter Schwellenwerte, verpflichtet sein, die Entlassung mehrerer Arbeitnehmer innerhalb eines bestimmten Zeitraums vor deren tatsächlichem Ausscheiden aus dem Betrieb der Agentur für Arbeit mitzuteilen.

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist davon auszugehen, dass diese Massenentlassungsanzeige vor Ausspruch der Kündigungen erfolgen muss und nicht mehr erst vor dem tatsächlichen Auslaufen der Kündigungsfrist.

Massenentlassungen in Betrieben, in denen ein Betriebsrat besteht, lösen Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats gemäß § 111 Betriebsverfassungsgesetz(BetrVG) aus. Diese bestehen z. B. aus Informationsansprüchen, einen Verhandlungsanspruch über einen Interessenausgleich und in der Regel einen (erzwingbaren) Anspruch auf Abschluss eines Sozialplans.

Hier finden Sie umfassende Infos der IG Metall zum Thema „Massenentlassung“ und einen Überblick über die Rechtsprechung bei Massenentlassungen

Hier direkt zum Volltext der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 08.06.2016

Rechtliche Grundlagen

§ 18 Abs. 1 (BEEG) Kündigungsschutz, § 17 (KSchG), Artikel 3+6 Grundgesetz (GG), § 111 BetrVG)

§ 18 Abs. 1 Gesetz zum Elterngeld und zur Elternzeit (BEEG) alte Fassung, gültig bis 31.12.2014
Kündigungsschutz

(1) Der Arbeitgeber darf das Arbeitsverhältnis ab dem Zeitpunkt, von dem an Elternzeit verlangt worden ist, höchstens jedoch acht Wochen vor Beginn der Elternzeit, und während der Elternzeit nicht kündigen. In besonderen Fällen kann ausnahmsweise eine Kündigung für zulässig erklärt werden. Die Zulässigkeitserklärung erfolgt durch die für den Arbeitsschutz zuständige oberste Landesbehörde oder die von ihr bestimmte Stelle. Die Bundesregierung kann mit Zustimmung des Bundesrates allgemeine Verwaltungsvorschriften zur Durchführung des Satzes 2 erlassen.
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§ 17 Kündigungsschutzgesetz (KSchG)
Anzeigepflicht
(1) Der Arbeitgeber ist verpflichtet, der Agentur für Arbeit Anzeige zu erstatten, bevor er
1.
in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern mehr als 5 Arbeitnehmer,
2.
in Betrieben mit in der Regel mindestens 60 und weniger als 500 Arbeitnehmern 10 vom Hundert der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer oder aber mehr als 25 Arbeitnehmer,
3.
in Betrieben mit in der Regel mindestens 500 Arbeitnehmern mindestens 30 Arbeitnehmer
innerhalb von 30 Kalendertagen entläßt. Den Entlassungen stehen andere Beendigungen des Arbeitsverhältnisses gleich, die vom Arbeitgeber veranlaßt werden.
(2) Beabsichtigt der Arbeitgeber, nach Absatz 1 anzeigepflichtige Entlassungen vorzunehmen, hat er dem Betriebsrat rechtzeitig die zweckdienlichen Auskünfte zu erteilen und ihn schriftlich insbesondere zu unterrichten über
1. die Gründe für die geplanten Entlassungen,
2. die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden Arbeitnehmer,
3. die Zahl und die Berufsgruppen der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer,
4. den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen,
5. die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer,
6. die für die Berechnung etwaiger Abfindungen vorgesehenen Kriterien.
Arbeitgeber und Betriebsrat haben insbesondere die Möglichkeiten zu beraten, Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und ihre Folgen zu mildern.

(3) Der Arbeitgeber hat gleichzeitig der Agentur für Arbeit eine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat zuzuleiten; sie muß zumindest die in Absatz 2 Satz 1 Nr. 1 bis 5 vorgeschriebenen Angaben enthalten. Die Anzeige nach Absatz 1 ist schriftlich unter Beifügung der Stellungnahme des Betriebsrats zu den Entlassungen zu erstatten. Liegt eine Stellungnahme des Betriebsrats nicht vor, so ist die Anzeige wirksam, wenn der Arbeitgeber glaubhaft macht, daß er den Betriebsrat mindestens zwei Wochen vor Erstattung der Anzeige nach Absatz 2 Satz 1 unterrichtet hat, und er den Stand der Beratungen darlegt. Die Anzeige muß Angaben über den Namen des Arbeitgebers, den Sitz und die Art des Betriebes enthalten, ferner die Gründe für die geplanten Entlassungen, die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden und der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer, den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen und die vorgesehenen Kriteren für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer. In der Anzeige sollen ferner im Einvernehmen mit dem Betriebsrat für die Arbeitsvermittlung Angaben über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer gemacht werden. Der Arbeitgeber hat dem Betriebsrat eine Abschrift der Anzeige zuzuleiten. Der Betriebsrat kann gegenüber der Agentur für Arbeit weitere Stellungnahmen abgeben. Er hat dem Arbeitgeber eine Abschrift der Stellungnahme zuzuleiten.

(3a) Die Auskunfts-, Beratungs- und Anzeigepflichten nach den Absätzen 1 bis 3 gelten auch dann, wenn die Entscheidung über die Entlassungen von einem den Arbeitgeber beherrschenden Unternehmen getroffen wurde. Der Arbeitgeber kann sich nicht darauf berufen, daß das für die Entlassungen verantwortliche Unternehmen die notwendigen Auskünfte nicht übermittelt hat.

(4) Das Recht zur fristlosen Entlassung bleibt unberührt. Fristlose Entlassungen werden bei Berechnung der Mindestzahl der Entlassungen nach Absatz 1 nicht mitgerechnet.

(5) Als Arbeitnehmer im Sinne dieser Vorschrift gelten nicht
1. in Betrieben einer juristischen Person die Mitglieder des Organs, das zur gesetzlichen Vertretung der juristischen Person berufen ist,
2. in Betrieben einer Personengesamtheit die durch Gesetz, Satzung oder Gesellschaftsvertrag zur Vertretung der Personengesamtheit berufenen Personen,
3. Geschäftsführer, Betriebsleiter und ähnliche leitende Personen, soweit diese zur selbständigen Einstellung oder Entlassung von Arbeitnehmern berechtigt sind.
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Artikel 3 Grundgesetz (GG)

(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.

(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
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Artikel 6 Grundgesetz (GG)

(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.

(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.

(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.

(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.
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§ 111 Betriebsverfassungsgesetz BetrVG)
Betriebsänderungen
In Unternehmen mit in der Regel mehr als zwanzig wahlberechtigten Arbeitnehmern hat der Unternehmer den Betriebsrat über geplante Betriebsänderungen, die wesentliche Nachteile für die Belegschaft oder erhebliche Teile der Belegschaft zur Folge haben können, rechtzeitig und umfassend zu unterrichten und die geplanten Betriebsänderungen mit dem Betriebsrat zu beraten. Der Betriebsrat kann in Unternehmen mit mehr als 300 Arbeitnehmern zu seiner Unterstützung einen Berater hinzuziehen; § 80 Abs. 4 gilt entsprechend; im Übrigen bleibt § 80 Abs. 3 unberührt. Als Betriebsänderungen im Sinne des Satzes 1 gelten
1. Einschränkung und Stilllegung des ganzen Betriebs oder von wesentlichen Betriebsteilen,
2. Verlegung des ganzen Betriebs oder von wesentlichen Betriebsteilen,
3. Zusammenschluss mit anderen Betrieben oder die Spaltung von Betrieben,
4. grundlegende Änderungen der Betriebsorganisation, des Betriebszwecks oder der Betriebsanlagen,
5. Einführung grundlegend neuer Arbeitsmethoden und Fertigungsverfahren.