Vom Arbeitsgericht Verden (Aller) zum Europäischen Gerichtshof
Vom Arbeitsgericht Verden (Aller) zum Europäischen Gerichtshof

Der Kläger war seit April 2011 für die Beklagte als Techniker tätig. Zwischen den Parteien war unstreitig, dass mit ihm mindestens 19 Arbeitnehmer*innen beschäftigt wurden. Da die Beklagte mit ihrem Betrieb in Verlust geraten war, kündigte sie am 15.02.2013 sämtlichen Arbeitnehmer*innen aus dringenden betrieblichen Gründen und stellte den Betrieb ein.

 

Massenentlassungsanzeige erforderlich ?

Gegen die Kündigung erhob der Kläger Klage beim Arbeitsgericht (ArbGer) Verden und begründete diese damit, dass die Beklagte vor Ausspruch der Kündigungen keine Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit gestellt habe.


Nach § 17 KSchG ist der Arbeitgeber verpflichtet, der Agentur für Arbeit Anzeige zu erstatten, bevor er in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern mehr als fünf Arbeitnehmer innerhalb von 30 Kalendertagen entlässt. Unterbleibt diese Anzeige oder wurde der Betriebsrat nicht ordnungsgemäß beteiligt, ist die Kündigung schon aus diesem Grunde unwirksam.


Der Schwellenwert von 20 Arbeitnehmern gemäß § 17 Abs. 1 Nr:1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) sei überschritten, da der Geschäftsführer der Beklagten und eine Praktikantin bei der Berechnung der Anzahl der Arbeitnehmer mit zu berücksichtigen sein.

 

Arbeitsgericht legt Verfahren dem EuGH vor

Der Geschäftsführer der Beklagten, Herr L., hielt keine Geschäftsanteile an der Gesellschaft und war zu deren Vertretung nur gemeinschaftlich mit einem anderen Geschäftsführer berechtigt. Die Praktikantin, Frau S., durchlief bei der Beklagten eine vom Jobcenter geförderte Umschulungsmaßnahme zur Bürokauffrau. Die Förderung, deren Höhe sich auf die gesamte an die Praktikantin zu leistende Ausbildungsvergütung belief, wurde dieser unmittelbar von der Bundesagentur für Arbeit gezahlt.


Der Argumentation des Klägers überzeugte die 1. Kammer des ArbGer Verden: Sie setzte das Verfahren mit Beschluss vom 06.05.2014 (1 Ca 35/13) aus und legte dem EuGH die Fragen zur Vorabentscheidung vor, ob Geschäftsführer wie L. und Praktikanten wie S. Arbeitnehmer im Sinn der Richtlinie 98/59/EG (Massenentlassungsrichtlinie) sind.


In der vorliegenden Entscheidung bejahte der EuGH dies. Sowohl der Geschäftsführer, als auch die Praktikantin seien Arbeitnehmer, der Schwellenwert ist damit überschritten.

 

Eigener Arbeitnehmerbegriff des EuGH

Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist der Begriff des "Arbeitnehmers" anhand objektiver Kriterien zu definieren, die das Arbeitsverhältnis im Hinblick auf die Rechte und Pflichten der Betroffenen kennzeichnen. Maßgeblich ist insoweit, ob eine Person während einer bestimmten Zeit für eine andere nach deren Weisung Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält.


Unter Zugrundelegung dieser Definition, so der EuGH, seien Fremdgeschäftsführer Arbeitnehmer. Allein der Umstand, dass der Geschäftsführer L. Mitglied des Leitungsorgans einer Kapitalgesellschaft war, schließt ein Unterordnungsverhältnis gegenüber der Gesellschaft nicht aus.


Es müsse auch berücksichtigt werden, dass L. jederzeit gegen seinen Willen abberufen werden konnte und er bei Ausübung seiner Tätigkeit der Weisung und Aufsicht des Organs sowie weiteren Vorgaben und Beschränkungen unterlag. Seine Stellung sei zudem dadurch geschwächt gewesen, dass er keine Anteile an der Gesellschaft besaß.


Im Hinblick auf die Praktikantin S. führte der EuGH aus, dass es Ziel der Massenentlassungsrichtlinie sei, den Schutz der Arbeitnehmer bei Massenentlassungen zu verstärken und die Richtlinie daher nicht eng auszulegen sein. Eben diese Erwägung führe dazu, dass Praktikanten wie Frau S. als Arbeitnehmer im Sinne der Massenentlassungsrichtlinie anzusehen seien.

 

Anmerkung:

Dank des Vorlagenbeschlusses des ArbGer Verden und der hieraufhin ergangenen Entscheidung des EuGH vom 09.07.2015, besteht nun Klarheit, dass der unionsrechtliche Begriff des Arbeitnehmers auch für die Massenentlassungsrichtlinie gilt.


Bereits mit der Urteil vom 11. November 2010 – C-232/09 („Danosa″-Entscheidung) stellte der EuGH klar, dass Geschäftsführer dann als „Arbeitnehmer″ einzuordnen sind, sofern diese gegen Entgelt tätig werden, in die Gesellschaft eingegliedert sind und ihre Tätigkeit weisungsabhängig oder zumindest unter gewisser Aufsicht eines anderen Organs der Gesellschaft erbringen.


Diese Sichtweise hat der EuGH in seiner Entscheidung vom 9. Juli 2015 – C-229/14 auf ein praxisrelevantes Thema übertragen: Auch der Massenentlassungsrichtlinie (RL 98/59/EG) ist der unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff zugrunde zu legen.


Erfreulich ist auch, dass nicht nur „Fremdgeschäftsführer“ Arbeitnehmer im Sinne der Massenentlassungsrichtlinie sind, sondern auch Personen, die im Rahmen einer Maßnahme zur Berufsbildung und beruflichen Wiedereingliederung tätig sind, die eine öffentliche Ausbildungsbeihilfe, aber keine Vergütung von Seiten des Arbeitgebers erhalten.

Nachdem die von dem ArbGer Verden an den EuGH gestellten Fragen in dem wohl erhofften Sinne beantwortet wurden, dürfte dies die Entscheidungsfindung der 1. Kammer des ArbGer sicherlich erleichtern. Es ist davon auszugehen, dass sich die dem Kläger ausgesprochene Kündigung als unwirksam erweisen wird, da dessen Arbeitgeberin versäumte die Massenentlassung bei der Agentur für Arbeit anzuzeigen.

 

Hier finden Sie die vollständige Entscheidung des EuGH vom 09.07.2015, Az: C-229/14

Hier finden Sie den Beschluss des Arbeitsgerichts Verden vom 06.05.2014, Az: 1Ca 35/13

Link zu § 17 Kündigungsschutzgesetz:

Link zur Massenentlassungsrichtlinie (RL 98/59/EG):