Eine*n trifft’s bei der Sozialauswahl (fast) immer © Adobe Stock: pathdoc
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Der 60-jährige Kläger arbeitete bereits seit 1988 als Facharbeiter Montage im Bereich des Prototypenbaus seines Arbeitgebers, als dieser entschied, den Produktionsstandort nach Rumänien zu verlagern. Aus einem mit dem Betriebsrat abgeschlossenen Interessenausgleich ergab sich, dass im Bereich des Prototypenbaus fünf Arbeitsplätze für Facharbeitermontage/Zerspanung abgebaut werden sollten. Für die Sozialauswahl legten die Betriebsparteien die gesetzlichen Kriterien mit einem festgelegten Punkteschema zugrunde.

 

Der verheiratete Kläger erhielt insbesondere aufgrund der Dauer seiner Betriebszugehörigkeit und seines Alters 109,5 Punkte. Der Kläger arbeitete unter anderem im Bereich der hydraulischen Anlagen, für deren Wartung und Überprüfung er teilweise zuständig war.

 

Die Herausnahme aus der Sozialwahl

 

Die Beklagte nahm drei Beschäftigte aus der Sozialauswahl heraus, die Elternzeit beantragt hatten und aufgrund dessen besonderen Kündigungsschutz genossen. Mit zwei weiteren Arbeitnehmern schloss die Beklagte Aufhebungsverträge.

 

Auch die Mitarbeiter Schmidt und Müller (Namen von der Redaktion geändert), die aus Sicht des Arbeitgebers als betrieblich unverzichtbare Leistungsträger galten, wurden aus der Sozialauswahl herausgenommen. Die Beklagte verwies darauf, beide besäßen die Qualifikation als Industriemeister. Beide verfügten jedoch über weniger Sozialpunkte als der Kläger. Der Mitarbeiter Schmidt hatte 47,5 Punkte, der Mitarbeiter Müller 90 Punkte erhalten.

 

Der Arbeitgeber verwies darauf, der Mitarbeiter Schmidt sei unter anderem Arbeitssicherheitsbeauftragter für die Abteilung. Er sei im Übrigen über die letzten Jahre an die Aufgaben des Leiters des Mechanikerteams im Bereich Prüflabor, der Ende 2021 ausscheiden sollte, herangeführt worden.

 

Herr Müller sei „befähigte Person nach der Betriebssicherheitsverordnung“ zur Prüfung von Druckbehältern und Rohrleitungen. Das Prüflabor betreibe eine besondere Hydraulikanlage, für die eine Überwachungspflicht bestehe. Diese sei daher dem TÜV und dem Gewerbeaufsichtsamt gemeldet. Für Betrieb und Instandhaltung seien Herr Schmidt und Herr Müller verantwortlich.

 

Kündigung und Schutzbedürftigkeit des Klägers

 

Der Kläger erhielt eine betriebsbedingte Kündigung. Im arbeitsgerichtlichen Verfahren wiesen die Rechtsschutzsekretär*innen vom Büro Hannover darauf hin, der Kläger könne als Korrosionstester für Module, als Befunder für Luftfedersysteme oder Maschineneinrichter weiter beschäftigt werden. Die Beklagte hätte vorrangig den Mitarbeitern Schmidt und Müller kündigen müssen.

 

Das Arbeitsgericht Hannover gab der Klage wegen Verstoßes gegen die Sozialauswahl statt. Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen wies die Berufung der Beklagten zurück.

 

Die Beklagte habe insgesamt zehn Beschäftigte in die Vergleichsgruppe einbezogen. Fünf Arbeitsplätze müssten abgebaut werden, sodass insgesamt fünf Arbeitsverhältnisse zu beenden waren. Die Beklagte habe im Verfahren darauf hingewiesen, dass bereits zwei Arbeitsverhältnisse durch Aufhebungsverträge endeten. Mithin habe ein Abbau weiterer drei Arbeitsplätze bevorgestanden.

 

Der Kläger weise von den verbliebenen acht Beschäftigten mit 109,5 Sozialpunkten die höchste soziale Schutzbedürftigkeit auf. Hätte die Beklagte den Mitarbeiter Schmidt mit 47,5 Punkten aus der Sozialauswahl nicht herausgenommen, so hätte sie dessen Arbeitsverhältnis kündigen müssen; denn drei weiteren Beschäftigten stünden Sonderkündigungsschutz wegen beantragter Elternzeit zu.

 

Berechtigtes betriebliches Interesse

 

Die vom Arbeitgeber mit der Herausnahme von Beschäftigten aus der Sozialauswahl verfolgten Interessen müssten im Kontext der Sozialauswahl berechtigt sein. Das Interesse des sozial schwächeren Arbeitnehmers sei im Rahmen des Kündigungsschutzgesetzes gegen das betriebliche Interesse des Arbeitgebers an der Herausnahme des Leistungsträgers abzuwägen.

 

Das Gesetz lasse ein betriebliches Interesse nicht ausreichen. Es fordere dieses müsse "berechtigt" sein. Daraus folge, dass ein betriebliches Interesse auch "unberechtigt" sein könne. Dem Gesetz nach seien demzufolge dem betrieblichen Interesse entgegengesetzte Interessen denkbar, die eine Herausnahme von sogenannten Leistungsträgern aus der Sozialauswahl entgegenstehen könnten.

 

Bei den gegenläufigen Interessen könne es sich angesichts des Umstandes, dass das Gesetz auch eine Ausnahme in der Sozialauswahl zulasse, nur um die Belange sozial schwächerer Arbeitnehmer*innen handeln. Je schwerer deren soziales Interesse wiege, umso gewichtiger müssten die Gründe für die Ausklammerung des Leistungsträgers sein.

 

Der Arbeitgeber müsse dazu einen konkreten Vergleich vornehmen. Es gehöre zum schlüssigen Sachvortrag des Arbeitgebers, im Einzelnen darzulegen, welche konkreten Nachteile sich ergeben würden, wenn er die zu kündigenden Beschäftigten allein nach dem Maßstab des Kündigungsschutzgesetzes auswählen würde.

 

Der konkrete Vergleich

 

Ein berechtigtes betriebliches Interesse an der Herausnahme des Mitarbeiters Schmidt unter Berücksichtigung des sozialen Interesses des Klägers vermochte das Landesarbeitsgericht nicht zu erkennen. Der Kläger weise 109,5 Sozialpunkte auf, sei 60 Jahre alt und gehöre dem Betrieb schon über 30 Jahre an. Das wiege besonders schwer.

 

Der 35-jährige Mitarbeiter Schmidt arbeite erst seit ca. zehn Jahren bei der Beklagten. Er verfüge nur über weniger als die Hälfte der Sozialpunkte des Klägers. Die Beklagte bedürfe daher gewichtiger Gründe, um diesen aus der Sozialauswahl herauszunehmen.

 

Die besondere Qualifikation

 

Die Beklagte habe dazu vorgetragen, Herr Schmidt werde bereits seit mehreren Jahren auf die Übernahme der Leitung des Mechanikerteams vorbereitet. Besondere Qualifikationen und Kenntnisse habe er dadurch jedoch nicht erlangt, die nicht auch von anderen Beschäftigten in einem zumutbaren Zeitraum erworben werden könnten. Ein von diesem wahrgenommenes Seminar habe nur sieben Stunden in Anspruch genommen.

 

Sofern der Mitarbeiter Schmidt Leitungsfunktionen innehabe, erschließe sich nicht, weshalb dessen Vertreter, der Mitarbeiter Müller, diese Leitungsfunktion nicht übernehmen könnte. Auch die Kenntnisse des Mitarbeiters Schmidt als Arbeitssicherheitsbeauftragter ergäben kein berechtigtes betriebliches Interesse an dessen Weiterbeschäftigung, stelle man die besondere soziale Schutzbedürftigkeit des Klägers dem gegenüber. Es möge zwar sein, dass der Kläger die Spezialaufgaben des Herrn Schmidt in diesem Bereich nicht übernehmen könne, die Beklagte habe jedoch nicht vorgetragen, dass auch kein anderer Beschäftigter dazu in der Lage wäre.

 

Die fehlerhafte Sozialauswahl

 

Das LAG hielt angesichts dessen die Kündigung für rechtsunwirksam. Auch einen Weiterbeschäftigungsanspruch als Monteur sprach es dem Kläger zu.

 

Man sieht, es kann sich lohnen, mit dem Arbeitgeber über die Herausnahme von Arbeitnehmern bei der Sozialauswahl zu streiten. Ganz klar wird im Urteil, dass es besondere, nämlich berechtigte betriebliche Gründe für eine Herausnahme geben muss und dass der Arbeitgeber dazu nicht nur Behauptungen aufstellen, sondern explizit und detailliert vortragen muss.

 

Hier geht's zum Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen