Eine Lehrerin begehrt die volle Berücksichtigung ihrer in Frankreich erworbenen Berufserfahrung. Copyright by lefebvre_jonathan/fotolia.
Eine Lehrerin begehrt die volle Berücksichtigung ihrer in Frankreich erworbenen Berufserfahrung. Copyright by lefebvre_jonathan/fotolia.

Geklagt hat eine 1969 geborene Frau, die nach dem deutschen Abitur in Frankreich Germanistik, Französisch und Philosophie auf Lehramt studierte. Von 1997 bis Juni 2014 war sie als Lehrerin in Frankreich tätig.
 
Im September 2014 trat die Klägerin als Lehrkraft in den niedersächsischen Schuldienst ein. Das Land gruppierte die Klägerin in die Entgeltgruppe 11 ein und ordnete sie der Entgeltstufe 3 zu.
 

Die Stufenzuordnung nach § 16 TV-L

Bei der Einstellung im öffentlichen Dienst sind Beschäftigte nicht nur in eine Entgeltgruppe einzugruppieren, sondern auch einer Stufe zuzuordnen. Für das Einstufen ist die einschlägige Berufserfahrung maßgeblich.
 
Bei der Einstellung werden die Beschäftigten der Stufe 1 zugeordnet. § 16 Absatz 2 Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) lautet weiter: Verfügen Beschäftigte über eine einschlägige Berufserfahrung von mindestens einem Jahr aus einem vorherigen befristeten oder unbefristeten Arbeitsverhältnis zum selben Arbeitgeber, erfolgt die Stufenzuordnung unter Anrechnung der Zeiten der einschlägigen Berufserfahrung aus diesem vorherigen Arbeitsverhältnis.
 
Wenn eine einschlägige Berufserfahrung bei einem anderen Arbeitgeber nachweisbar ist, erfolgt die Einstellung in der Stufe 2 beziehungsweise bei einer einschlägigen Berufserfahrung von mindestens drei Jahren in Stufe 3.
 

Die einschlägige Berufserfahrung beim selben Arbeitgeber ist privilegiert

Damit stellt § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L eine Privilegierung der Berufserfahrung innerhalb des öffentlichen Dienstes gegenüber Berufserfahrung bei anderen Arbeitgebern dar.
 
Die Einstufung der Klägerin erfolgte entsprechend einer einschlägigen Berufserfahrung bei einem anderen Arbeitgeber von mindestens drei Jahren. Und das obwohl die Klägerin schon 17 Jahre als Lehrerin tätig war.
 

Gehaltsdifferenz Stufe 3 zu Stufe 5 von über 900 Euro

Bei einer Einstufung entsprechend einer einschlägigen Berufserfahrung aus einem vorherigen Arbeitsverhältnis zum selben Arbeitgeber hätte sich die Stufe 5 der Entgeltgruppe 11 ergeben. In Zahlen reden wir hier von einem Unterschied von über 900 Euro.
 
Die Klägerin hält die Privilegierung einschlägiger Berufserfahrung beim selben Arbeitgeber für unzulässig. Sie erhob Klage beim Arbeitsgericht Lüneburg und bekam dort Recht. Allerdings war sodann die Berufung des Landes Niedersachen beim Landesarbeitsgericht erfolgreich. Die Richter dort sahen weder einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz noch gegen die unionsrechtliche Freizügigkeit von Arbeitnehmer*innen.
 

BAG: Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit

Als drittes musste das Bundesarbeitsgericht (BAG) ran. Dieses sieht die Arbeitnehmerfreizügigkeit durch § 16 Absatz 2 TV-L als beeinträchtigt an.
 
Die Freizügigkeit von Arbeitnehmer*innen gibt Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten das Recht, ihren Arbeitsplatz innerhalb der EU frei zu wählen. Sie verbietet die Diskriminierung von EU-Arbeitnehmer*innen aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit (Artikel 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union  - AEUV - und Artikel 7 der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeitsverordnung 492/2011).
 

Privilegierung der beim selben Arbeitgeber erworbenen einschlägigen Berufserfahrung trotz Auslandsbezugs zulässig?

Die Frage sei aber, so das BAG, ob diese Beeinträchtigung gerechtfertigt sei. Mit der Privilegierung der bei demselben Arbeitgeber erworbenen einschlägigen Berufserfahrungszeiten werde der Schutz befristet beschäftigter Arbeitnehmer*innen bezweckt. Deshalb könnte die Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit gerechtfertigt sein. Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) müsse deshalb klären, wie die unterschiedlichen Schutzzwecke zu gewichten sind.
 
Der EuGH soll nun beantworten, ob die Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU der Stufenzuordnung nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder entgegensteht.
 
Das BAG hat das Revisionsverfahren bis zur Antwort des EuGH ausgesetzt. Auf die endgültige Antwort, ob ihr seit September 2014 das Entgelt aus Stufe 5 der Entgeltgruppe 11 TV-L zusteht, muss die Lehrerin also weiterhin warten.


Die Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts zur Entscheidung ist hier nachzulesen.

Rechtliche Grundlagen

Vorlagebeschluss des Bundesarbeitsgerichts

Der Vorlagebeschluss des Bundesarbeitsgerichts lautet:
Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) um die Beantwortung der folgenden Frage ersucht:
Sind Art. 45 Abs. 2 AEUV und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union dahingehend auszulegen, dass sie einer Regelung wie der in § 16 Abs. 2 TV-L getroffenen entgegenstehen, wonach die bei dem bisherigen Arbeitgeber erworbene einschlägige Berufserfahrung bei der Zuordnung zu den Stufen eines tariflichen Entgeltsystems nach der Wiedereinstellung privilegiert wird, indem diese Berufserfahrung gemäß § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L uneingeschränkt anerkannt wird, während die bei anderen Arbeitgebern erworbene einschlägige Berufserfahrung gemäß § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L nur mit höchstens drei Jahren berücksichtigt wird, wenn diese Privilegierung durch Paragraph 4 Nr. 4 der am 18. März 1999 geschlossenen Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge, die im Anhang der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge enthalten ist, unionsrechtlich geboten ist?