Für die Einleitung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements gibt § 84 Abs. 3 Satz 1 SGB IX den Begriff der Arbeitsunfähigkeit zwingend vor. Dieser ist einer Ausgestaltung durch die Betriebsparteien nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG nicht zugänglich, auch nicht innerhalb der Einigungsstelle.

Welcher Sachverhalt lag dem Beschluss des Bundesarbeitsgerichts zu Grunde?


Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit eines Einigungsstellenspruchs zum betrieblichen Eingliederungsmanagement (bEM).

Die Arbeitgeberin führt bundesweit Geld- und Werttransporte durch. Antragsteller ist der im B Betrieb gebildete Betriebsrat. Nachdem sich die Betriebsparteien nicht über eine Betriebsvereinbarung zum Regelungsgegenstand "Betriebliches Eingliederungsmanagement" einigen konnten, fasste die Einigungsstelle einen Spruch, in dem Folgendes bestimmt ist:
"...
§ 2 Ziele und Abgrenzung des betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM)
(1) Mit dem betrieblichen Eingliederungsmanagement
wird das Ziel verfolgt, dass
• chronische Krankheiten und Behinderungen bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern möglichst vermieden werden;
• Arbeitsunfähigkeit, auch gemäß § 2 Abs. 1 Satz 3 der Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und die Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung (Arbeitsunfähigkeits-Richtlinien) nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB V, überwunden bzw. erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt wird;
• der Arbeitsplatz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die von gesundheitlichen Beeinträchtigungen betroffen sind, möglichst erhalten bleibt und verhindert wird, dass sie aus dem Erwerbsleben ausscheiden.

§ 3 Information der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
(1) Ist eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer innerhalb eines Zeitraums von 12 Monaten länger als 6 Wochen arbeitsunfähig, so erhält diese Person zeitnah durch den Arbeitgeber zunächst eine erste Information über das BEM sowie über Art und Umfang der erhobenen Daten. Dabei ist das in der Anlage 1 zu dieser Betriebsvereinbarung geregelte Schreiben zu verwenden und eine Kopie dieser Betriebsvereinbarung beizufügen.

(2) Dazu wertet der Arbeitgeber jeweils zum ersten 15. eines Vierteljahres routinemäßig die ihm bekannten Daten zu den Arbeitsunfähigkeitszeiten pro Mitarbeiter aus.
…"

Der Betriebsrat hatte in der Einigungsstelle vorgeschlagen, ein Verfahren zur Analyse der Arbeitsfähigkeit durch ein "Arbeitsfähigkeits-Coaching" zu regeln. Dieser fand in der Einigungsstelle aber keine Mehrheit. Der Einigungsstellenvorsitzende übersandte den von ihm unterzeichneten Spruch nebst Begründung dem Betriebsrat als pdf-Datei in eine E-Mail.

Der Betriebsrat hat u.a. geltend gemacht, die Einigungsstelle habe ihr Ermessen fehlerhaft ausgeübt, weil sie es versäumt habe, den Begriff der Arbeitsunfähigkeit zu konkretisieren.

Die Vorinstanzen haben den Antrag abgewiesen.

Wie hat das Bundesarbeitsgericht entschieden?


Das BAG hat nun festgestellt, dass der Spruch der Einigungsstelle unwirksam ist. Allerdings resultiert dies nicht bereits daraus, dass die Einigungsstelle davon abgesehen hat, den Begriff der Arbeitsunfähigkeit näher zu bestimmen.  Diese hat zu Recht den in § 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX enthaltenen Begriff der Arbeitsunfähigkeit nicht nach dem sog. Work-Ability-Index konkretisiert.

Denn der in § 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX enthaltene Begriff der Arbeitsunfähigkeit ist entgegen der Auffassung des Betriebsrats einer Ausgestaltung durch die Betriebsparteien nicht zugänglich, sondern zwingend gesetzlich vorgegeben. Nach § 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX führt der Arbeitgeber zusammen mit den zuständigen Interessenvertretungen und mit Zustimmung und Beteiligung des Arbeitnehmers ein bEM durch, wenn "Beschäftigte innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig sind".

Zweck der Regelung ist nach der Gesetzesbegründung, durch die gemeinsame Anstrengung aller in § 84 Abs. 2 SGB IX genannten Beteiligten mit dem bEM ein Verfahren zu schaffen, das durch geeignete Gesundheitsprävention das Arbeitsverhältnis möglichst dauerhaft sichert, weil viele Abgänge in die Arbeitslosigkeit aus Krankheitsgründen erfolgen und arbeitsplatzsichernde Hilfen der Integrationsämter vor der Beantragung einer Zustimmung zur Kündigung kaum in Anspruch genommen werden.

Die in § 84 Abs. 2 SGB IX genannten Maßnahmen dienen damit neben der Gesundheitsprävention auch der Vermeidung einer Kündigung erkrankter und kranker Menschen. Da im Falle einer negativen Gesundheitsprognose eine krankheitsbedingte Kündigung bei zu erwartenden Entgeltfortzahlungskosten für einen Zeitraum von mehr als sechs Wochen im Jahr vorbehaltlich einer einzelfallbezogenen Interessenabwägung in Betracht kommt, wird deutlich, dass der Gesetzgeber mit der Verwendung des Begriffs "arbeitsunfähig" in § 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX auf die zu § 3 Abs. 1 EFZG ergangene Begriffsbestimmung Bezug genommen hat und keinen vom Entgeltfortzahlungsgesetz abweichenden eigenen Begriff mit anderen Merkmalen schaffen wollte. Für die Bemessung des Sechswochenzeitraums des § 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX sind deshalb die dem Arbeitgeber vom Arbeitnehmer nach § 5 Abs. 1 EFZG angezeigten Arbeitsunfähigkeitszeiten maßgeblich. Ein der Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG zugänglicher Spielraum bei der Konkretisierung des Begriffs der Arbeitsunfähigkeit besteht daher nicht.

Der Einigungsstellenspruch ist jedoch dennoch unwirksam, weil er nicht den formalen Anforderungen des § 76 Abs. 3 Satz 4 BetrVG entspricht. Er ist dem Betriebsrat nicht mit einer Originalunterschrift des Einigungsstellenvorsitzenden zugeleitet worden. Die Zuleitung eines Einigungsstellenspruchs als bloße Textdatei genügt nicht.

Beschluss des BAG vom 13.03.2012 1 ABR 78/10