Der Kläger, Betriebsratsmitglied in einem Unternehmen des öffentlichen Dienstes, erlitt eine schwere Ohrenentzündung. Weil im Betrieb das Personal knapp war, arbeitete er dennoch weiter. Der Hausarzt hatte ihm Antibiotika verschrieben. Er empfahl ihm aber, sich bei einem HNO-Arzt vorzustellen, wenn diese Therapie keinen Erfolg zeige.
Behandlungstermin erst zwei Wochen später
Seine Beschwerden besserten sich nicht. Er fragte daher bei seiner HNO-Ärztin nach einem Behandlungstermin. Darauf hätte er aber noch zwei Wochen warten müssen. Das dauerte dem Kläger zu lang. Weil er die Behandlung jedoch dringend für notwendig erachtete, suchte er seine Ärztin gleich auf. Die Behandlung erfolgte während der Arbeitszeit. Der Kläger befand sich dafür 1,5 Stunden außer Haus.
Der Arbeitgeber wollte für diese Zeit die Vergütung nicht bezahlen. Gemeinsam mit seinem Prozessbevollmächtigten aus dem DGB Rechtsschutzbüro Heilbronn, Klaus Baier, berief sich der Kläger auf den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD). Dieser findet im Arbeitsverhältnis des Klägers Anwendung.
TVöD verpflichtet Arbeitgeber zur Freistellung für Arztbesuch
Der TVöD verpflichtet den Arbeitgeber, eine*n Beschäftigte*n von der Arbeit freizustellen und die Vergütung für Abwesenheitszeiten nachzuzahlen, wenn eine ärztliche Behandlung während der Arbeitszeit erfolgen muss. Auch der Weg zur Praxis und zurück wird dann vergütet. Die Abwesenheitszeit muss der*die Betroffene nachweisen. Der Arztbesuch muss auch erforderlich gewesen sein.
Der Arbeitgeber nahm die Sache jedoch nicht so ernst. Zum ersten Gerichtstermin erschien er nicht, so dass das Gericht ihn in einem Versäumnisurteil zur Zahlung verpflichtete. Damit wollte sich der Arbeitgeber allerdings nicht abfinden. Er erhob Einspruch.
Der Arbeitgeber hatte obskure Vorstellungen von der Rechtslage
Klaus Baier meint dazu, der Arbeitgeber habe im Prozess die obskure Auffassung vertreten, dass eine Befreiung von der Arbeit nur in extremen Notfällen vorgesehen sei. Ohne ärztliche Bescheinigung könne er den Antrag immer ablehnen.
Da sich die behandelnde Ärztin des Klägers jedoch generell weigerte, das dafür bestimmte Formular des Arbeitgebers auszufüllen, musste sich das Arbeitsgericht damit näher befassen.
Die Ärztin muss das Formblatt des Arbeitgebers nicht vollständig ausfüllen
Daran, dass der Kläger seine Ärztin aufgesucht hatte, zweifelte der Arbeitgeber nicht. Er wies aber darauf hin, die Ärztin habe auf dem von ihm gefertigten Formblatt die Formulierung „diese Behandlung war zwingend während der Arbeitszeit der/des Beschäftigten geboten“ durchgestrichen.
Das sei jedoch nicht maßgebend, entschied das Arbeitsgericht. Es gebe keine Pflicht, zu dieser Frage Stellung zu nehmen. Die Ärztin des Klägers kenne weder die Arbeitszeiten ihres Patienten noch eventuelle tarifvertragliche Regelungen oder sonstige Vereinbarungen.
Mit dem Durchstreichen der entsprechenden Formulierung habe sie nur zum Ausdruck bringen wollen, dass sie für Absprachen ihres Patienten mit seinem Arbeitgeber bezüglich eines Arzttermins nicht zuständig sei.
Die Ärztin wollte keine weitergehende Aussage treffen
Das Durchstreichen bedeute nicht, dass keine Notwendigkeit für die Behandlung wegen der Arbeitszeit bestanden habe. Es gebe lediglich wieder, dass die Ärztin hierzu keine Aussage treffen wolle.
Weder der Kläger noch seine Ärztin hätten darüber hinaus eine Pflicht, das Formular des Arbeitgebers zu nutzen. Eine entsprechende Vorgabe existiere nicht. Der Kläger habe das Formular zwar mitgenommen, aus der Formulierung des Tarifvertrages ergebe sich jedoch nicht, dass sich die durchgestrichene Passage auf tarifliche Ansprüche auswirken könne.
Ohrentzündung könnte zu Komplikationen führen
Der Hausarzt des Klägers habe bestätigt, dass ein Facharzttermin in zwei Wochen zu spät gewesen wäre. Die Ohrentzündung des Klägers hätte zu schwerwiegenden Komplikationen führen können. Das Arbeitsgericht schloss sich deshalb der Auffassung des Hausarztes an, wonach die frühzeitige Behandlung des Klägers zwingend notwendig und richtig gewesen sei.
Zwar habe die HNO-Ärztin keinen medizinischen Notfall angenommen, so das Gericht. Diese Äußerung sei jedoch in Verbindung mit einer etwaigen Krankschreibung des Klägers erfolgt. Einer fehlenden Krankschreibung könne das Gericht aber nicht entnehmen, dass der Arzttermin unnötig gewesen sei.
Ein Zuwarten war dem Kläger nicht zumutbar
Der Kläger habe sich während der Arbeitszeit behandeln lassen müssen. Ein Zuwarten auf einen späteren Sprechstundentermin sei ihm nicht zumutbar und im Hinblick auf etwaige Komplikationen auch nicht verantwortbar gewesen. Der Kläger habe richtig gehandelt. Auf das Ausfüllen des Formulars komme es nicht an.
Die gewünschte Gutschrift von 1,5 Stunden Arbeitszeit sei auch korrekt berechnet. Der Arbeitgeber müsse diese Zeit bezahlen.
Das sagen wir dazu:
Grundsätzlich sind Arbeitnehmer*innen dazu verpflichtet, ihre ärztliche Behandlungen außerhalb der Arbeitszeit zu legen. Dies gilt insbesondere, wenn sie nicht akut erkrankt sind. Auch in Ausnahmesituationen, in welchen eine sofortige Behandlung notwendig wird, gibt es für Arbeitgeber keine generelle Pflicht, die entfalle Arbeitszeit zu vergüten.
Allerdings können Tarifverträge etwas anderes regeln. Im TVöD ist das geschehen.
Zu den einzelnen Voraussetzungen des TVöD hatten wir bereits im Zusammenhang mit einem Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen berichtet.
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Arztbesuch während der Arbeitszeit
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