Nach einem aktuellen Urteil des Bundesarbeitsgerichts steht den nach Deutschland entsandten ausländischen Betreuungskräften, die in einem Privathaushalt arbeiten, ein Anspruch auf Mindestlohn zu. Das gilt für ihre gesamte Arbeitszeit, auch für den Bereitschaftsdienst. Der ist Arbeitszeit.
Wir haben dazu auf unserer Homepage berichtet "Mindestlohn auch für Pflegekräfte in Privathaushalten

24-Stunden-Bereitschaft ist die Regel

Der Bereitschaftsdienst kann darin bestehen, dass die Betreuungskraft im Haushalt der zu betreuenden Person wohnen muss und verpflichtet ist, rund um die Uhr bei Bedarf die Arbeit aufzunehmen.

Damit das alles finanzierbar ist, entschließen sich viele Familien, Verträge mit osteuropäischen Unternehmen abzuschließen, die ihre Mitarbeiter*innen nach Deutschland entsenden. Die Vergütung im Osten Europas liegt erheblich unter derjenigen in Deutschland.

Da die Frauen einen osteuropäischen Arbeitgeber haben, erhielten sie bislang auch nur den mit diesem vereinbarten Lohn. Das muss sich nun ändern. Die häusliche Pflege wird teurer, aber gerechter.

Häusliche Betreuung ist belastend

Zweifelsohne ist es begrüßenswert, wenn pflegebedürftige Familienmitglieder möglichst lange im eigenen Hausstand leben können. Wer selbst einer beruflichen Tätigkeit nachgeht, sieht sich dabei außerstande, selbst eine Betreuung rund um die Uhr zu übernehmen.

Wer kennt sie nicht, die Polinnen, Bulgarinnen oder Rumäninnen, die deutsche Familien bei der Pflege ihrer Angehörigen unterstützen? Deren Löhne sind niedrig. Dennoch, das eigene Gewissen ist beruhigt. Die Frauen zeigen Freude und Dankbarkeit über den Verdienst, der im Vergleich zu demjenigen im Heimatland gut ist. Dafür nehmen sie es in Kauf, über eine lange Zeit hinweg auf ihr Privatleben zu verzichten und rund um die Uhr für die zu betreuende Person zu sorgen.

Vermittler verdienen mit

Nicht ungewöhnlich ist dabei, dass dazu noch Vermittler kommen; deutsche Firmen, die die Pflegekräfte ins Land bringen. Auch diese Vermittler verdienen ihr Geld - ohne an der eigentlichen Pflege beteiligt zu sein. Von Empathie ist deren Handeln weit entfernt. Vermittlern geht es zumeist allein ums Geld.

Der Ausbeutung von ausländischen Pflegekräften und Familien, die für die Pflege ihrer Angehörigen nicht mehr Geld bezahlen können, ist damit Tür und Tor geöffnet. Deshalb war es gut und wichtig, dass der gewerkschaftliche Rechtsschutz gemeinsam mit der Organisation „Faire Mobilität“, die in Deutschland arbeitende Bulgarin unterstützte und den Mindestlohn einklagte.

An Recht und Gesetz darf der Weg nicht vorbei gehen

Diese vermeintliche Win-Win-Situation von Pflegekräften und Familienangehörigen untersteht Recht und Gesetz. Daher ist es zwingend geboten, Pflegekräfte für die Zeit zu bezahlen, für die ihnen eine Vergütung zusteht.

Das Bundesarbeitsgericht ist mit seiner aktuellen Entscheidung auf der Linie der jüngsten höchstrichterlichen Rechtsprechung geblieben.

Der Europäische Gerichtshof war bereits gefragt

Im März 2021 entschied der Europäische Gerichtshof zu Bereitschaftszeiten eines deutschen Feuerwehrmannes und eines slowenischen Fernmeldetechnikers. Er erklärte auch solche Zeiten für Arbeitszeit, in denen Arbeitnehmer*innen aufgrund der ihnen auferlegten Einschränkungen objektiv ganz erheblich darin beeinträchtigt sind, sich ihren eigenen Interessen zu widmen.
Lesen Sie dazu "EuGH: Bereitschaftszeit kann Arbeitszeit sein"

Bereitschaftszeiten waren auch für das Bundesarbeitsgericht nichts Neues

Zeitgleich befasste sich das Bundesarbeitsgericht mit der Frage, ob ärztlicher Hintergrunddienst Arbeitszeit sein kann. Auch diese Entscheidung stellt maßgeblich darauf ab, inwieweit der Arbeitgeber die Bewegungsfreiheit des*der Arbeitnehmer*in tatsächlich einschränkt.
Lesen Sie dazu "Ärztlicher Hintergrunddienst kann Arbeitszeit sein"

Das Bundesverwaltungsgericht entschied zu Bereitschaftszeiten von Polizist*innen

Darüber hinaus befasste sich das Bundesverwaltungsgericht mit der rechtlichen Einstufung von Bereitschaftsdienst. Dort ging es um die Anordnung von Mehrarbeit bei einem großen Polizeieinsatz anlässlich des G-7-Gipfels in Bayern. Polizeibeamt*innen mussten sich zum Teil rund um die Uhr für Einsätze bereithalten. Auch das Bundesverwaltungsgericht stellte wesentlich darauf ab, inwieweit die Betroffenen sich frei bewegen konnten.
Lesen Sie dazu "Großer Erfolg des DGB Rechtsschutz beim Bundesverwaltungsgericht"

Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zeichnete sich ab

Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts zum Mindestlohn für Pflegekräfte in Privathaushalten kam also nicht überraschend. Es wirft aber Fragen auf. Fragen insbesondere dazu, wer die häusliche Pflege nun finanziert. Die Familienangehörigen sind kaum in der Lage, Pflegekräften oder deren Arbeitgeber für 24 Stunden täglich an sieben Tagen in der Woche eine Vergütung zu zahlen.

Rund drei Millionen Bürgerinnen und Bürger werden daheim gepflegt. Etwa 300.000 Familien nutzen bundesweit Leistungen der osteuropäischen 24-Stunden-Betreuungskräfte, so die Saarbrücker Zeitung am 3. Juli 2021. Der Bundesverband der Betreuungsdienste (BBD) sagt dazu, dass diese Zahlen die Versorgungslücke in der Altenpflege spiegeln. Plätze in der stationären Pflege seien kaum zu bekommen. Das betreute Wohnen sei keine Alternative, da vielfach keine umfassende Betreuung und Pflege angeboten werde. Bei ambulanten Pflegediensten gebe es darüber hinaus längere Wartezeiten.

Schwarzarbeit droht

Der Prozentsatz der Schwarzarbeit in diesem Bereich wird allgemein als relativ hoch eingeschätzt. obwohl das strafrechtlich geahndet werden kann und auch gegen sozialversicherungsrechtliche Bestimmungen sowie das Arbeitszeitgesetz verstößt. Hohe Bußgelder sind zu erwarten.

All das schreckt Betroffene jedoch offensichtlich nicht zurück - ist doch das finanzielle Risiko bei einer ordnungsgemäßen Anmeldung der Pflegekraft im Vergleich zu der Gefahr einer Strafe ungleich höher.

Ein großer Erfolg für Thomas Heller vom Gewerkschaftlichen Centrum

Werden die bislang zu Hause betreuten Angehörigen nun ins Heim „abgeschoben“? Führt die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zu noch mehr Schwarzarbeit? Thomas Heller, Jurist im Gewerkschaftlichen Centrum für Revision und Europäisches Recht, hat das bahnbrechende Urteil zur Vergütung der Pflegekräfte im Bereich der häuslichen Pflege beim Bundesarbeitsgericht erstritten. Er hat sich dazu selbst auch viele Gedanken gemacht.


 „Der Rechtsstreit wirft ein besonderes Schlaglicht auf die Situation ausländischer Beschäftigter, die in deutschen Haushalten nicht nur arbeiten sondern auch wohnen (müssen). Es wäre viel erreicht, wenn durch das Urteil des Bundesarbeitsgerichts ein Bewusstsein in der Öffentlichkeit geschaffen wird, dass von diesen Beschäftigten keine 24-Stunden-Betreuung erwartet werden darf, auch wenn sie so „beworben“ werden und für sie insbesondere das Mindestlohngesetz und die Schutzvorschriften des Arbeitszeitgesetzes genauso gelten wie für andere Arbeitnehmer*innen auch."


Koll. Heller hat zu dem von ihm erstrittenen Urteil auch ein Interview im Deutschlandfunk gegeben. Die Sendung „Zur Diskussion“ fand am 30. Juni 2021 statt.

Anhören können Sie sich die Sendung hier:

Eine „spannende“ Premiere für Thomas Heller, wie er selbst dazu meint.

Woher soll das Geld kommen?

Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen. Das Dilemma, in dem Betroffene nun stecken ist damit aber nicht behoben. Pflegebedürftige brauchen die notwendige Pflege. Pflegepersonen steht das Geld für die Arbeit zu, die sie leisten. Angehörige brauchen das Geld, um all das zu finanzieren. Da fragt sich, wo die Pflegeversicherung bleibt, in die wir alle einzahlen.

Einen „Paukenschlag für die Beschäftigten" nennt Anja Piel, Mitglied im DGB-Bundesvorstand, das BAG Urteil zum Mindestlohn für ausländische Pflegekräfte. Sie verweist darauf, dass das Urteil die Chance für ausbeuterische Geschäftsmodelle einschränkt, mit dem sich Vermittler bisher zulasten der Beschäftigten eine goldene Nase verdienen konnten.

Für alle gelte nun der deutsche Mindestlohn unabhängig von ihrer Herkunft. Bereitschaftszeiten seien Arbeitszeit und damit zu vergüten. Anja Piel freut sich über den mit gewerkschaftlicher Unterstützung erzielten Erfolg, der auch die Bedeutung muttersprachlicher Beratungsstrukturen wie Faire Mobilität als Anlaufstelle für ausländische Beschäftigte zeige.

Es gibt noch viel zu tun

Recht hat sie! Der DGB sieht nun den Gesundheitsminister in der Pflicht. Die Pflegepolitik müsse neu ausgerichtet und die Pflegeversicherung zu einer Bürgerversicherung umgebaut werden, um sämtliche Pflegeleistungen abdecken zu können.

Bis dahin ist es aber ein weiter Weg. Wir wissen, die Mühlen der Gesetzgebung mahlen langsam. Es gibt Alternativvorschläge, wonach eine umfassenden Planung jeder konkreten Betreuungssituation helfen könnte. Darin wäre die Aufteilung der Betreuungszeit zwischen professionellen Pflegediensten, von Familienmitgliedern und Betreuern zu regeln. Aber auch das erfordert einen rechtlichen Rahmen.

Ein Sargnagel für die derzeitig praktizierte Pflege in Privathaushalten ist das Urteil allemal.

Pflege muss bezahlbar sein

Die Geschäftsführerin der Arbeitskammer des Saarlandes sagte, auch hier müsse sich der Gesetzgeber auf den Weg machen. Ziel müsse es sein, die Situation für die Betreuungskräfte spürbar zu verbessern und gleichzeitig die häusliche Pflege für Pflegebedürftige weiterhin bezahlbar zu gestalten. Die Leistungen der Pflegeversicherung müssten auch für die häuslichen Pflege abrufbar sein.

Mit einem bisschen guten Willen, sollte zumindest Letzteres schnell umgesetzt werden können. Aber nun stehen wir kurz vor der Bundestagswahl. Es bleibt zu befürchten, dass wir für die nächsten Monate erst einmal nur politisch motivierte Statements zu hören bekommen und durchgreifende Entscheidungen erst nach der Konstituierung und Einarbeitung des neuen Deutschen Bundestages zu erwarten sein werden.

Bis dahin hängt die häusliche Pflege am Tropf. Wohl dem, der finanziell reich gesegnet ist.

Pressemitteilung des Bundesarbeitsgericht zum Urteil vom 24. Juni 2021 – 5 AZR 505/20 – hier

Rechtliche Grundlagen

§ 20 MiLoG, § 1 MiLoG, § 286 ZPO

Gesetz zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns
Mindestlohngesetz
§ 20 Pflichten des Arbeitgebers zur Zahlung des Mindestlohns
Arbeitgeber mit Sitz im In- oder Ausland sind verpflichtet, ihren im Inland beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein Arbeitsentgelt mindestens in Höhe des Mindestlohns nach § 1 Absatz 2 spätestens zu dem in § 2 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 genannten Zeitpunkt zu zahlen.

Gesetz zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns
Mindestlohngesetz
§ 1 Mindestlohn
(1) Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat Anspruch auf Zahlung eines Arbeitsentgelts mindestens in Höhe des Mindestlohns durch den Arbeitgeber.
(2) 1Die Höhe des Mindestlohns beträgt ab dem 1. Januar 2015 brutto 8,50 Euro je Zeitstunde. 2Die Höhe des Mindestlohns kann auf Vorschlag einer ständigen Kommission der Tarifpartner (Mindestlohnkommission) durch Rechtsverordnung der Bundesregierung geändert werden.
(3) Die Regelungen des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und der auf ihrer Grundlage erlassenen Rechtsverordnungen gehen den Regelungen dieses Gesetzes vor, soweit die Höhe der auf ihrer Grundlage festgesetzten Branchenmindestlöhne die Höhe des Mindestlohns nicht unterschreitet.

Zivilprozessordnung
§ 286 Freie Beweiswürdigung
(1) 1Das Gericht hat unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei. 2In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.
(2) An gesetzliche Beweisregeln ist das Gericht nur in den durch dieses Gesetz bezeichneten Fällen gebunden.