Böse Überraschung für die damals 27-jährige Bianca Brandes, die als Krankenpflegerin im Maßregelvollzug beim Land Niedersachsen angestellt ist: Nach der Geburt ihrer Tochter im Dezember 2010 hatte sie wieder angefangen zu arbeiten. Ihre Arbeitszeit musste sie wegen der Kinderbetreuung reduzieren. Statt der bisherigen Vollzeitbeschäftigung arbeitete sie jetzt nur noch an drei Tagen in der Woche. 29 Resturlaubstage hatte sie noch aus der Zeit vor der Geburt ihrer Tochter übrig, die sie damals wegen eines Beschäftigungsverbotes nicht nehmen konnte.

Nach der Arbeitszeitreduzierung: Arbeitgeber kürzt Urlaub

Doch von 29 Urlaubstagen wollte der Arbeitgeber nichts wissen. 17 Tage sollten es nur noch sein. Die Begründung: Das ver.di-Mitglied Brandes arbeitete nach der Arbeitszeitreduzierung ja nur noch an 3 statt zuvor 5 Tagen in der Woche, und 3/5 von 29 seien nun einmal nur noch 17 Tage.

Die frisch in den Personalrat gewählte junge Frau empfand diese Mitteilung als ungerecht: „Ich habe ja schließlich den Urlaubsanspruch durch volle Arbeitsleistung erarbeitet. Eine solche Kürzung ist diskriminierend in Bezug auf alle Schwangeren und Mütter in vergleichbarer Situation.“

Verstoß gegen Europäisches Recht

Bianca setzte sich an ihren PC, recherchierte im Internet und fand den als „Tirol-Entscheidung“ bekannten Beschluss des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). „Urlaubskürzung unzulässig“ war ihre Schlussfolgerung. Sie begab sich zu ihrer Gewerkschaft ver.di und erhielt eine Rechtsschutzzusage, um gegen die Ungerechtigkeit vorzugehen.

Die DGB Rechtsschutz GmbH in Nienburg/Weser übernahm den Fall. Die vor dem dortigen Arbeitsgericht erhobene Klage endete für die junge Krankenpflegerin mit einer Überraschung: Das Arbeitsgericht hatte die europäische Tragweite des Falles erkannt, sah Unterschiede zur „Tirol-Entscheidung“ und legte die Rechtsfrage dem EuGH in Luxemburg vor. Dieses sollte nun entscheiden, ob die Urlaubskürzung des Landes Niedersachsen rechtens war.

Mit der DGB Rechtsschutz GmbH zum Europäischen Gerichtshof

Der Europarechtsexperte der DGB Rechtsschutz GmbH Rudolf Buschmann vertrat nun die Gewerkschafterin vor dem EuGH in Luxemburg, der zweiten Station des Rechtsstreites. „Ich habe lange vom Stand der Sache nichts erfahren. Aber ich habe auch nicht nachgefragt. Ich wusste ja, dass ich in guten Händen war“, so Bianca Brandes später.

Im Sommer 2013 erfuhr sie vom positiven Ausgang des Vorlagebeschlusses beim EuGH. Auch mehrere Personalratskollegen sprachen sie auf diese Entscheidung an. „Die kannten alle meinen Namen im Zusammenhang mit dieser Entscheidung“. Denn: Der EuGH veröffentlicht seine Entscheidungen mit Namensnennung der klagenden Parteien, so dass die Entscheidung der Luxemburger Richter als „Beschluss Brandes“ in der Fachöffentlichkeit diskutiert wurde.

Brandes – Entscheidung vom Europäischen Gerichtshof

Überraschend für die Personalrätin war allerdings, dass ihr Arbeitgeber den vollen Urlaubsanspruch auch nach dem Beschluss des EuGH immer noch nicht anerkannte. „Ich dachte, nach der Luxemburger Entscheidung ist alles klar.“

Weit gefehlt.

Der Rechtsstreit musste vor dem Arbeitsgericht Nienburg fortgeführt werden, wo jetzt Rechtsschutzsekretär Thomas Schlingmann von der DGB Rechtsschutz GmbH die Prozessführung übernahm.

Erwartungsgemäß entschieden die Nienburger Richter im Dezember 2013 zugunsten der Personalrätin.

Landesarbeitsgericht in Hannover als dritte Station

Doch damit nicht genug: das Land Niedersachsen als Arbeitgeber legte Berufung ein. Im Juni 2014 kam es in Hannover zu einem Berufungstermin. Erst jetzt wurde dem ver.di-Mitglied klar, warum ihr Arbeitgeber jedes Rechtsmittel ausschöpfte. Die Rechtsfrage, um die es ging, nämlich die Frage der Urlaubskürzung bei Reduzierung der Arbeitszeit, war von grundlegender Bedeutung für eine Vielzahl vergleichbarer Fälle. „Ich habe da etwas ins Rollen gebracht, was das Land wieder aufhalten will, weil es weittragende Bedeutung insbesondere für viele junge Mütter hat, die ihre Arbeitszeit reduzieren“, erkannte Bianca Brandes.

Erwartungsgemäß entschieden die Hannoveraner Richter ebenfalls zugunsten der Krankenpflegerin und wiesen die Berufung des Landes Niedersachsen ab.

Letzte Station: Bundesarbeitsgericht in Erfurt

Das letzte Kapitel dieser unendlichen Geschichte ist immer noch nicht geschrieben. Bianca Brandes hat ihren Urlaub, den sie sich im Jahr 2010 erarbeitet hatte, immer noch nicht genießen können. Der Arbeitgeber schöpft nun auch das allerletzte Rechtsmittel aus und hat Revision beim Bundesarbeitsgericht (BAG) eingelegt. Nach Nienburg, Luxemburg und Hannover ist nun Erfurt, Sitz des BAG, die nächste und auch letzte Station, auf der die DGB Rechtsschutz GmbH das ver.di- Mitglied begleitet. Vertreten wird die Gewerkschafterin nun vom Gewerkschaftlichen Centrum für Revision und Europäisches Recht in Kassel.

Ein Termin wurde auf den 11. August 2015 anberaumt. Dann hat Bianca Brandes endlich Gewissheit. Und sicherlich auch ihren vollen Urlaubsanspruch. Am positiven Ausgang des Rechtsstreites auch vor der letzten Instanz bestehen keine Zweifel. „Wenn wir das Revisionsverfahren vor dem BAG nicht gewinnen, springe ich in die Weser“, verspricht Rechtsschutzsekretär Thomas Schlingmann.

Weitreichende Bedeutung des Falles Brandes

Warum das Land Niedersachsen als Arbeitgeber den Instanzenweg ausschöpft, obwohl die Rechtsfrage nach der Entscheidung des EuGH geklärt ist, lässt sich nur erahnen: Der Rechtsstreit des ver.di-Mitglieds Bianca Brandes hat Mustercharakter und gilt für eine Vielzahl von Beschäftigten in vergleichbarer Situation. Es geht um viel Geld. „Der öffentliche Dienst setzt auf die Unkenntnis und mangelnde Klagebereitschaft von Betroffenen, denen ebenfalls nach einer Arbeitszeitreduzierung der erworbene Urlaub gekürzt wurde“, so Rudolf Buschmann vom Gewerkschaftlichen Centrum für Revision und Europäisches Recht. Dem ist entgegen zu steuern. Betroffene sollten ihre Ansprüche umgehend geltend machen, bevor ihre Rechte durch mögliche Ausschlussfristen vereitelt werden.

 

Das Urteil des LAG Niedersachsen vom 11.6.2014 finden Sie hier:

Zum Beschluss des Europäischen Gerichtshofs vom 13.6.2013 geht es hier:


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