20. Februar: UN-Welttag der sozialen Gerechtigkeit
Vor über 100 Jahren haben die Siegermächte des ersten Weltkrieges erkannt, dass eine friedliche Weltordnung nur mit weltweiten ausreichenden Sozialstandards und Arbeitsbedingungen möglich ist. Den Teilnehmer*innen der Pariser Friedenskonferenz war klar, dass an eine friedliche und gerechte Weltordnung ohne angemessene Berücksichtigung von Arbeitnehmerinteressen nicht zu denken war. Insbesondere der britische Premierminister David Lloyd George drängte stark auf die Gründung einer internationalen Arbeitsorganisation zur Durchsetzung jedenfalls elementarer Arbeitnehmerrechte in den künftigen Mitgliedstaaten des Völkerbundes.
Die ILO wird die erste Sonderorganisation der Vereinten Nationen nach dem zweiten Weltkrieg
Ein „Ausschuss für internationale Gesetzgebung“ erarbeitete auf der Konferenz die Verfassung einer internationalen Arbeitsorganisation (IAO- englisch: International Labour Organization -ILO). Diese Verfassung wurde als Abschnitt VIII Bestandteil des Versailler Vertrages. Am 11. April 1919 nahm die ILO offiziell ihre Arbeit auf. Die ILO hatte dabei für eine internationale Organisation eine etwas ungewöhnliche Struktur: sie bestand nicht nur aus Regierungsvertretern, sondern zur Hälfte aus Vertretern der Gewerkschaften und Arbeitgebern.
Nach dem zweiten Weltkrieg wurde die ILO am 14. Dezember 1946 zur ersten Sonderorganisation der Vereinten Nationen (UNO) mit Sitz in Genf. Erklärtes Ziel der ILO ist bis heute internationale Arbeits- und Sozialnormen zu formulieren und durchzusetzen und dazu beizutragen, die Globalisierung fair und sozial zu gestalten und menschenwürdiger Arbeit zu schaffen.
Immer noch ist in großen Teilen der Welt soziale Gerechtigkeit ein Fremdwort
Auch in mehr als 100 Jahren konnte die ILO nicht erreichen, dass eine friedliche Weltordnung entsteht, in der alle Menschen unter würdigen Bedingungen leben. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) litten 2017 mehr als 820 Millionen Menschen an Hunger, insbesondere in Südasien und Afrika. Die Zahl der chronisch Unterernährten ist sogar noch weit höher. Etwa 10 Prozent der Menschen auf der Erde müssen mit weniger als 1,60 € pro Tag auskommen.
Auch menschliche Arbeitsbedingungen haben sich längst nicht überall durchgesetzt. Kinderarbeit und Sklavenarbeit sind immer noch stark verbreitet. In großen Teilen der Welt sind Arbeitsschutzmaßnahmen fremd. In Asien und Afrika werden unter menschenunwürdigen Umständen unsere Computer und Smartphones zusammengeschraubt und unsere Kleidung genäht. Und das alles häufig zu Hungerlöhnen, die nicht einmal für das tägliche Brot oder die tägliche Schüssel Reis ausreichen.
Die UN starten 1995 ein Aktionsprogramm für soziale Entwicklung
Im März 1995 fand der „Weltgipfel für soziale Entwicklung“ in Kopenhagen statt, auf der die UN eine Erklärung zur sozialen Entwicklung und ein Aktionsprogramm verabschiedete.
Auf der 24. Sondertagung der Generalversammlung im Juni 2000 beschlossen die Mitgliedsstaaten weitere Initiativen hinsichtlich der „soziale Entwicklung für alle in einer zunehmend globalen Welt“.
Während der 57. Plenarsitzung im November 2007 verabschiedeten die Mitgliedsstaaten dann die Resolution 62/10. Sie bekräftigten, dass die Kopenhagener Erklärung und das Aktionsprogramm sowie die von der Generalversammlung auf ihrer 24. Sondertagung verabschiedeten weiteren Initiativen den grundlegenden Rahmen für die Förderung der sozialen Entwicklung für alle auf einzelstaatlicher und internationaler Ebene bilden.
Grundsätze der Sozialpolitik
Zugleich legten die Mitgliedsstaaten die Grundsätze der Sozialpolitik fest: Gerechtigkeit, Fairness, Demokratie, Partizipation, Transparenz, Rechenschaftspflicht und Einbeziehung aller. Die Versammlung beschloss zudem, dass der 20. Februar ab der 63.Tagung der Generalversammlung jedes Jahr als „Welttag der sozialen Gerechtigkeit“ begangen wird.
Die Resolution verpflichtet die Mitgliedsstaaten der UN dazu,
- Armut zu bekämpfen
- Jede Form der Ausgrenzung von Menschen und Menschengruppen zu beseitigen,
- Für die Gleichstellung der Geschlechter zu sorgen,
- Arbeitslosigkeit zu bekämpfen,
- Die Menschenrechte und den sozialen Schutz aller Menschen durchzusetzen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat sich damit nicht nur verpflichtet, ihre Politik am Grundsatz einer gerechten Weltwirtschaftsordnung auszurichten. Sie hat vielmehr versprochen, auch in Deutschland selbst für soziale Gerechtigkeit zu sorgen.
Wie sieht es aber mit sozialer Gerechtigkeit in Deutschland aus?
Soziale Gerechtigkeit ist ein Grundprinzip unseres Staates. Nach Artikel 20 des Grundgesetzes (GG) ist die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Diese verfassungsrechtliche Grundsatzentscheidung war den Müttern und Vätern des Grundgesetzes so wichtig, dass sie sie mit der „Ewigkeitsgarantie“ versehen haben. Artikel 79 Absatz 3 GG bestimmt unter anderem, dass es unzulässig ist, die in Artikel 20 GG niedergelegten Grundsätze zu „berühren“.
Die Bundesrepublik Deutschland ist also auf ewig ein Sozialstaat. Das kann kein Bundestag ändern, nicht einmal einstimmig. Allerdings beschreibt Artikel 20 GG kein einklagbares Grundrecht. Es ist, so ist es herrschende Meinung in der Rechtswissenschaft, lediglich ein Postulat. Also ein normativer Auftrag an den Gesetzgeber, unser Land so zu gestalten, dass es allen ein menschenwürdiges Existenzminimum sichert. Das ist jedenfalls die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts in ständiger Rechtsprechung.
Die Würde des Menschen ist unantastbar
Eng verwandt mit dem Sozialstaatspostulat ist die von Artikel 1 GG garantierte Würde des Menschen, die unantastbar ist. Auch Artikel 1 GG unterliegt der „Ewigkeitsgarantie“. Dieser Artikel ist zwar in erster Linie eine objektive Verfassungsnorm, die Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht bindet. Die Würde des Menschen ist aber auch ein eigenständiges Grundrecht, auf das sich der Einzelne berufen kann. Es stellt zudem ein oberes Prinzip dar, aus dem sich im Grunde alle weiteren Grundrechte gleichsam ableiten.
Das Sozialstaatspostulat steht dabei in einem gewissen Spannungsverhältnis zu einem in Artikel 2 GG garantierten Grundrecht: der Freiheit der Persönlichkeit. Insoweit aber zugleich auch das Grundrecht auf Menschenwürde betroffen ist, muss das allgemeine Persönlichkeitsrecht zurücktreten.
Wenn Grundrechte miteinander konkurrieren, muss man sie in der Regel gegeneinander abwägen. Die Rechtswissenschaft hat hier das Prinzip der sogenannten „praktischen Konkordanz“ entwickelt, das nicht ganz unkompliziert ist. Stehen zwei Grundrechte im Widerstreit, müssten beide nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „mit dem Ziel der Optimierung“ zu einem angemessenen Ausgleich gebracht werden. Dabei käme dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besondere Bedeutung zu. Wichtig dabei sei auch, dass die Grundrechte in ihrer Substanz nicht angetastet würden.
In der Bundesrepublik Deutschland ist soziale Gerechtigkeit Staatsziel
Die Würde des Menschen steht aber nicht in „praktischer Konkordanz“ zu anderen Grundrechten. Sie zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt und sie ist unantastbar, geht also jedem anderen Grundrecht vor. Niemandem, auch der staatlichen Gewalt, ist es nach unserer Rechtsordnung also erlaubt, die Würde eines anderen Menschen auch nur anzutasten.
Damit scheint das Wesentliche klar: die Bundesrepublik Deutschland ist ein Land, in dem soziale Gerechtigkeit Staatsziel ist. Soziale Ungerechtigkeit verletzt die Würde des Menschen. Der Gesetzgeber hat den Auftrag, jedem in unserem Land ein menschenwürdiges Dasein zu garantieren.
Was ist eigentlich ein „menschenwürdiges Dasein“
In Wirklichkeit ist aber fast nichts klar insoweit. Es ist nämlich sehr umstritten, was unter ein „menschenwürdiges Dasein“ zu verstehen ist. Für das Bundesverfassungsgericht geht es nicht nur um die rein physische Existenz. Es erkennt vielmehr, dass der Mensch als Person notwendig in sozialen Bezügen existiert. Der Staat muss demgemäß folgendes sichern:
- die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit,
- Möglichkeiten zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und
- ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben
Das geht indessen Wirtschaftsliberalen bereits erheblich zu weit. Für die FDP riecht ein solches Staatsziel nach Schwefel. Deren Parteivorsitzender Lindner erklärte etwa im September 2020 bereits in Hinblick auf die Bundestagswahl ein Jahr später, ein Gebot sozialer Gerechtigkeit sei eine neue Wirtschaftswunderpolitik. Man müsse für mehr Wachstum sorgen und sozial Schwachen mit einem Aufstiegsversprechen trösten.
Ist Wachstumspolitik eine Politik für mehr soziale Gerechtigkeit?
Dem pflichtete sein Parteifreund Lambsdorff per Twitter unverzüglich bei und fügte hinzu: „Wir brauchen eine Politik, die das Land nicht bremst, sondern entfesselt.“ Wobei klar wird, was beide Spitzenpolitiker der Liberalen meinen. Bloß keine Sozialgesetzgebung, wenn dadurch der wirtschaftliche Turbo ausgebremst wird. Nach dem Motto: wirtschaftliche Freiheit geht vor Sozialstaat, Freiheit vor Menschenwürde. Für letztere muss jeder eben selbst sorgen, indem er wohlhabend wird.
Eine Gegenposition nimmt etwa die Partei Die Linke ein. Für sie gehen die Grundsätze des Bundesverfassungsgerichts nicht weit genug. Eine Gesellschaft, in der sich eine Minderheit zu Lasten der Mehrheit bereichere, sei ungerecht, heißt es in ihrem Parteiprogramm. Wachsende Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit seien unvereinbar. Die Partei strebe eine Gesellschaft an, die nicht von Profitinteressen einiger Konzerne getrieben werde, sondern vom demokratisch ermittelten Willen der Bürgerinnen und Bürger.
Es gibt keinen objektiven Maßstab für soziale Gerechtigkeit
Was soziale Gerechtigkeit ist, wird also nicht von jedem gleich beurteilt. Einen objektiven Maßstab gibt es insoweit nicht. Gerecht ist, was wir selbst für gerecht halten. Und da hat jeder seine eigene Sichtweise. Zum Problem wird Ungerechtigkeit dann, wenn die Unterschiede zu groß sind und die Menschen sie nicht mehr akzeptieren.
Die Auffassung, was gerecht ist und was nicht, ist auch abhängig von der Entwicklung der Gesellschaft. Heute nehmen zu Recht die meisten Menschen in unserem Land es nicht mehr hin, dass Frauen weniger verdienen als Männer. Der sogenannte „Gender Gap“, die Einkommenslücke zwischen den Gehältern von Frauen und Männern, wird von den meisten Menschen als schreiend ungerecht empfunden.
Vor nicht allzu langer Zeit war gesellschaftlich allgemein akzeptiert, dass Löhne und Gehälter der Männer erheblich höher waren als die der Frauen. Und das galt auch für die Gewerkschaften. Zwar hatten sie von Anfang an die Gleichberechtigung der Frauen auf ihre Fahnen geschrieben. In der Praxis haben aber auch sie die Interessen der männlichen (Fach-)Arbeiter mit viel größerem Elan vertreten.
Die Gewerkschaften nahmen lange hin, dass Frauen aus dem Arbeitsmarkt verdrängt werden, wenn Krisen Arbeitsplätze rarmachten. In der Tarifpolitik gaben sie sich mit niedrigen Löhnen für die Frauen zufrieden. Als Argument diente dann, Männer seien in der Regel besser qualifiziert und hätten „eine Familie zu ernähren“ während Frauen zumeist nur „dazuverdienen“. Erst seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts setzte sich ein Umdenken ein. Trotzdem beträgt 2021 der „Gender Gap“ in Deutschland immer noch 19 Prozent. Damit nimmt unser Land eine beklemmende „Spitzenposition“ in der EU ein.
Jede*r zehnte Deutsche gilt als arm
Sozial ungerecht ist auf jeden Fall, wenn Menschen aufgrund ihrer Armut nicht mehr am sozialen Leben teilhaben können. Wenn also die Grundsätze der Sozialpolitik der UN, Gerechtigkeit, Fairness, Teilhabe und Einbeziehung aller, nicht einmal in Ansätzen umgesetzt sind. Und insoweit sind die Kennziffern bei uns ernüchternd.
Die Bundesregierung gibt alle fünf Jahre einen „Armuts- und Reichtumsbericht“ (ARB) heraus. Der fünfte Bericht von 2017 ist der letzte. Der sechste Bericht wird in diesem Jahr erscheinen und dann auch berücksichtigen, was Corona angerichtet hat.
Nach dem fünften ARB waren die Unterschiede zwischen den zehn Prozent höchsten Einkommen und den 40 Prozent niedrigsten Einkommen auf einem Rekordniveau.
Etwa 7 bis 8 Millionen Menschen bezogen am Jahresende 2015 in Deutschland Leistungen zur Grundsicherung, davon allein 6 Millionen Arbeitslosengeld II (Hartz IV). Dazu gehören auch diejenigen, die ergänzend zum eigenen Erwerbseinkommen Leistungen des SGB II in Anspruch nehmen mussten (sogenannte Aufstockerinnen und Aufstocker).
Für eine gute bürgerliche Bildung reichen ein Euro im Monat?
Jede*r Zehnte in Deutschland verfügte also - legt man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum „menschenwürdigen Dasein“ zugrunde - lediglich über ein Einkommen, das nur die „physische Existenz“ und ein „Mindestmaß an Teilhabe“ sichert. Diese Menschen sind in einer sozialen Lage, die weit entfernt ist von dem, was die Mitgliedsstaaten der UN in der Resolution 62/10 als sozial gerecht angesehen hatten.
Zehn Prozent der Bevölkerung eines der reichsten Länder der Welt ist also sozial weitestgehend ausgegrenzt, kann sich allenfalls ein „Mindestmaß an Teilhabe“ leisten. Was das heißt, zeigt der sogenannte „Regelbedarf“ für Erwachsene in Einpersonenhaushalte nach dem Sozialgesetzbuch II, wenn man ihn aufschlüsselt: Für Freizeit, Unterhaltung, Kultur sind 2021 gerade einmal 37,88 € im Monat vorgesehen, für Beherbergungs- und Gaststättenleistungen (inklusive Urlaubsreisen) 9,82 € und für Bildung etwa 1,00 €.
Noch dramatischer wird das Bild, wenn man sich die Struktur der Gruppe der Armen anschaut. Unter ihnen sind nämlich überproportional viele Kinder. Mehr als jedes fünfte Kind wächst in Deutschland in Armut auf. Das sind 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Und es steht zu befürchten, dass Corona die Lage noch verschlimmert hat.
Wie kann unser Land soziale Gerechtigkeit herstellen und garantieren?
In Hinblick auf das doch gehörige Maß an Armut, das es in Deutschland gibt, erscheint auf jeden Fall die liberale Auffassung von Sozialpolitik schon zynisch. Die Lindners und Lambsdorffs dieser Welt bekommen offensichtlich nicht mit, dass sich die Armutsquote nicht parallel zum Wirtschaftswachstum wesentlich verändert. Selbst in Phasen der Hochkonjunktur war der Anteil der Armen in der Gesellschaft kaum geringer.
Die Position derjenigen, die Profitinteressen durch den demokratisch ermittelten Willen der Bürgerinnen und Bürger ersetzen möchten, ist schon erheblich sympathischer. Realistisch ist sie freilich nicht. In einer globalen Welt, in der multinationale Konzerne das Sagen haben, gibt es für demokratische Entscheidungsprozesse kaum eine Basis. Wer sollte denn die dazu nötigen Gesetze erlassen? In dieser Welt, in der immer noch einzelne Staaten souverän über ihre Rechtsordnung entscheiden, werden sich demokratische Entscheidungsstrukturen in Konzernzentralen kaum durchsetzen lassen.
Andererseits sind die Entscheidungsprozesse in den Konzernzentralen ohnehin determiniert. Schon Marx und Engels beschrieben im „Kommunistischen Manifest“ den Kapitalisten als einen Getriebenen der Verhältnisse: "Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen." Der Kapitalist herrscht zwar über Kapital, kann darüber aber nicht nach freiem Willen verfügen. Weil er permanent zur Aufrechterhaltung seiner Herrschaft gezwungen ist, Innovation zu betreiben und neue Märkte zu erschließen.
Es ist mithin eine Illusion anzunehmen, man könnte unter kapitalistischen Bedingungen bei Unternehmensentscheidungen Profitinteressen außer Acht lassen, wenn die Entscheidungsprozesse demokratisch wären. So sympathisch die Vorstellungen der Linken auf dem ersten Blick auch sind, ein bisschen mehr Dialektik und ein bisschen weniger Metaphysik wären schon angebracht.
Armut ist kein Kollateralschaden der Globalisierung
Wer etwas gegen Armut und soziale Ungerechtigkeit unternehmen will, muss das Übel bei der Wurzel packen. Professor Christoph Butterwegge, Politikwissenschaftler und Armutsforscher an der Universität Köln, sieht neben der Ungerechtigkeit, die der Kapitalismus seinem Wesen nach mit sich bringt, insbesondere zwei Ursachen, die indessen auch unter den herrschenden ökonomischen Bedingungen von der Politik gesteuert werden könnten. Armut sei alles andere als ein Kollateralschaden der Globalisierung.
Da ist zum einen die Steuerpolitik, die gemäß Butterwege nach dem „Matthäus-Prinzip“ funktioniert. Das hat jetzt -obwohl naheliegend- nichts mit ehemaligen Bundesligaprofis zu tun, sondern nimmt vielmehr Bezug auf das Matthäus-Evangelium: „Wer hat, dem wird gegeben, und wer nicht viel hat, dem wird auch das Wenige noch genommen“. Das sei nach Auffassung von Butterwege das heimliche Regierungsprogramm unterschiedlicher Bundesregierungen. In der Tat beträgt der Steuersatz auf Kapitaleinkünfte lediglich 25 Prozent, wohingegen für Arbeitseinkommen bis zu 42 Prozent zu zahlen ist. Wer Millionen im Jahr mit Aktien verdient zahlt also anteilsmäßig erheblich weniger Steuern als der Normalverdiener.
Die Vermögenssteuer hat die damalige Bundesregierung unter Helmut Kohl 1997 gleich ganz abgeschafft, was ihr nicht besonders schwerfiel. Sie stand nämlich den Bundesländern zu.
Ein Problem ist die Abkehr vom klassischen Model des Sozialstaates
Ein weiteres Problem ist die Entsolidarisierung. Privatinitiative, Eigenverantwortung und Selbstvorsorge sollen Rezepte sein, in denen auch sozialdemokratisch geführte Regierungen das Heil sehen. Mit der Agenda 2010 und dem Prinzip „Fordern und Fördern“ unter der Regierung Schröder nahm auch die alte „Arbeiterpartei“ SPD Abstand von einem Sozialstaat mit Verteilungsgerechtigkeit als programmatischem Ziel.
Anlässlich der Wahl zum Europaparlament 1999 legten der damalige britische Premierminister Tony Blair und Bundeskanzler Gerhard Schröder ein Papier vor mit dem Titel „Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten“. Dahinter steckt eine Theorie, der namhafte Sozialdemokraten damals anhingen. Es ging um die sogenannte „Strukturationstheorie“, auch „Theorie des dritten Weges“ genannt. Entwickelt hatte sie insbesondere der britische Soziologe Anthony Giddens.
1984 erschien sein Buch „The Constitution of Society“, zu Deutsch etwa „der Zustand der Gesellschaft“. Hierin legte er dar, dass die Betonung des Individuums ebenso wie die Betonung „der Gesellschaft“ zu einseitig sei. Dem müsste man Modelle entgegensetzen, die an eine Verbindung dieser Pole zu denken versuchen. Die beiden damals einflussreichsten sozialdemokratischen Parteien Europas entwickelten auf Grundlage der Strukturationstheorie Giddens die Politik der „neuen Mitte“. Kein Mensch weiß zwar, wo denn genau diese Mitte liegt. Nach Auffassung von Schröder damals jedenfalls „weder rechts noch links.
„Dritter Weg“ und „neue Mitte“ werden zu Schlagwörtern sozialdemokratischer Politik
Einen sehr großen Einfluss auf die Politik der rot-grünen Regierung hatte Kanzleramtsminister Bodo Hombach, der damals formulierte: „Beispielsweise muss das Sozialsystem so konzipiert sein, dass es die Wiederaufnahme von Erwerbsarbeit und die Eigeninitiative optimal vorbereitet und unterstützt. Eine neue Balance von individuellen Rechten und Pflichten, die Forderung, der verwaltende, Recht setzende und Daseinsvorsorge betreibende Staat müsse seinen Bürgern wieder mehr zutrauen und zumuten“.
Das Ergebnis der Politik, mit der „der dritte Weg“ umgesetzt werden sollte, waren die Arbeitsmarktreformen und insbesondere Hartz IV, aber auch die „Deregulierung“ des Arbeitsmarktes unter anderem durch ein Aufweichen des Kündigungsschutzes, Erleichterungen für befristete Arbeitsverhältnisse und Ausweitung der Möglichkeiten für Zeitarbeit. Insgesamt also Maßnahmen, die den Eignern von Produktionsmitteln erhebliche Vorteile brachten. Denjenigen, die ohnehin schon wenig hatten, wurde noch mehr genommen.
Ob und inwieweit die Arbeitsmarktreformen der Schröder-Regierung dazu beigetragen haben, dass sich die wirtschaftliche Lage in den folgenden Jahren günstig entwickelte, wird kontrovers diskutiert. Sie haben aber auf keinen Fall zu mehr sozialer Gerechtigkeit beigetragen. Zwar ist die Arbeitslosenquote gesunken, jedoch ging das mit einem Anstieg atypischer, prekärer Beschäftigungsverhältnisse wie etwas Teilzeitarbeit oder befristete Beschäftigung einher.
Sozial gerecht ist das Model des „dritten Weges“ nicht
Mit Blick auf soziale Gerechtigkeit ist also das Konzept des „dritten Weges“ grandios gescheitert. Selbstverständlich ist die Ermöglichung von Teilhabe am Leben in der Gesellschaft grundsätzlich der Weg aus sozialer Prekarität. Die Politik der „neuen Mitte“ hat mit Teilhabe aber nur die Teilhabe am Arbeitsmarkt im Blick gehabt. Dabei geht es immer nur um „irgendeinen Job“. Persönliche Qualitäten und Bedürfnisse spielen dabei kaum eine Rolle. Arbeitslose Chirurgen oder Kunstmaler müssen im Zweifel auch Jobs in einer Reinigungskolonne annehmen, überzeugte Veganerinnen den in einem Fleischerfachgeschäft.
Hinzu kommt, dass gerade die Jobs, in denen Menschen aus dem Hartz-IV-Bezug zumeist hineingelangen, keine Einkommen bieten, die eine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen außer der am prekären Arbeitsmarkt. Es gelingt zumeist gerade so eben, die physische Existenz für sich und die Familie zu sichern. Kino-, Konzert- und Theaterbesuche sind zumeist nicht drin. Ganz zu schweigen von einem auch nur bescheidenen Urlaub über das Wochenende.
Geradezu fatal ist aber für Menschen ohne Arbeit oder in prekären Beschäftigungsverhältnissen die Situation, wenn es um Bildung geht. Für das Bundesverfassungsgericht reichen „armen Menschen“ 12,00 € im Jahr, um Bildungsangebote wahrzunehmen. Dafür gibt es indessen nicht einmal einen Kurs an der örtlichen Volkshochschule.
Wenn die Gesellschaft sozial gerechter werden soll, müssen wir umverteilen
Auch wenn es angeblich nicht „modern“ ist: soziale Gerechtigkeit kostet Geld. Und dieses Geld werden wir in Zukunft ausgeben müssen, wenn wir die Gesellschaft nicht weiter auseinanderdriften lassen wollen. Wenn wir keine Zustände wollen wie in den USA, aus denen wir lange Zeit nur Selfmade-Millionäre aus dem Silicon-Valley oder Phoenix, Arizona, wahrgenommen haben, aber nicht die verarmten Massen aus dem „Rust-Belt“, werden wir umverteilen müssen. Mit den Mitteln des Steuerrechts.
Die Menge an Geldvermögen ist in Deutschland so groß wie nie. Es war aber noch niemals derart ungleich verteilt. Nach einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) besitzt das oberste Promille der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland (etwa 40.000 Haushalte) mehr als 17 Prozent des Reichtums. 33 Prozent der Vermögen besitzen ein Prozent der Einwohner unseres Landes. Die ärmere Hälfte der Deutschen besitzt gerade einmal 2,5 Prozent der Vermögen.
Fordert man heute Umverteilung, wird einem häufig Neid entgegengehalten. Der Begriff „Neidgesellschaft“ wird allzu oft in Talkshows und in den Gazetten nachgeplappert und man kolportiert gerne, dass das typisch deutsch sei. In den USA etwa gebe es diese Kultur nicht, so sagen dies insbesondere diejenigen gerne, die ihre USA-Kenntnisse eher durch Kontakte mit Yuppies aus dem Silikon-Valley haben als durch Kontakte mit ehemaligen Stahlarbeitern aus dem „Rust-Belt“.
Mit Neid hat das indessen gar nichts zu tun. Es geht darum, allen Menschen in unserem Land die Möglichkeit zu verschaffen, am Leben in der Gesellschaft so weit teilzunehmen, wie es der Würde des Menschen entspricht. Neid ist etwas anderes. Neid ist Missgunst. Neidisch ist etwa ein Spitzenmanager aus der norddeutschen Automobilindustrie, der seinen „Hungerlohn“ von zehn Millionen Euro im Jahr beklagt, wohingegen er in den USA mindestens das dreifache bekommen würde.