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Veranstaltungen

Veranstaltung des DGB Rechtsschutzes

Campus Arbeitsrecht zum Thema Arbeitszeit – zwischen Schutz, Souveränität und Entgrenzung

Ca. 450 Teilnehmer*innen aus Wissenschaft und Praxis kamen am 25.02.2016 zum 2. Kongress Campus Arbeitsrecht an der Frankfurter Goethe-Universität veranstaltet von den Initiatoren des Frankfurter Clusters (DGB Rechtsschutz GmbH, Hugo-Sinzheimer Institut, Europäische Akademie der Arbeit, Bund-Verlag und AuR).

Hohe Teilnehmerzahl und lebhafte Diskussionen zeigten, dass die Veranstalter mit dem Thema Arbeitszeit – zwischen Schutz, Souveränität und Entgrenzung ein aktuelles und gesellschaftlich wichtiges Thema aufgegriffen haben. Digitalisierung, Einsatz von Tablets und Smartphones, Arbeitsverdichtung und Zunahme stressbedingter Erkrankungen machen deutlich, dass Arbeitszeit im Interesse und zum Schutz der Beschäftigten neu gestaltet werden muss. Darin waren sich Referent*innen und Teilnehmer*innen einig.

Intensivierung der Arbeit, Überstunden, Schichtarbeit

Annelie Buntenbach, DGB Bundesvorstand, stellte in ihrem Vortrag Schlaglichter in der Entwicklung der Arbeitszeit aus Sicht des DGB zunächst überlange und gesundheitsschädliche Arbeitszeiten dar, die für viele Beschäftigte Alltag sind. So liegt die durchschnittliche Arbeitszeit bei 41,5 Std./Woche, 59% der Beschäftigten leisten mehr als die vertragliche Arbeitszeit und für 1/3 der Arbeitnehmer*innen ist sogar eine Arbeitszeit von 45 Std./Woche die Regel. Jeder 6. Beschäftigte leistet Schichtarbeit und ¼ der Arbeitnehmer*innen erklärt in Befragungen, dass sie auch in der Freizeit erreichbar sind und sich dadurch gehetzt fühlen. 14% arbeiten ohne vertraglich festgelegte Arbeitszeiten und müssen nur Zielvorgaben erfüllen, was zur Intensivierung der Arbeit und Stress führt. Die Folge ist eine Zunahme psychischer Erkrankungen. So ist der Anteil der Erwerbsminderungsrenten, die auf psychischen Ursachen beruhen, von 15% im Jahr 1993 auf 43% im Jahr 2015 angestiegen.

Nicht eine Lösung für alle, sondern Lösungen für alle Beschäftigten

Annelie Buntenbach betont, dass Arbeitnehmer*innen Arbeitszeitsouveränität zurückgewinnen, selbst Lage und Dauer der Arbeitszeit gestalten und wieder über größere Frei- und Schutzräume verfügen müssen. Flexibilisierung der Arbeitszeit muss sich am Interesse der Beschäftigten orientieren; Arbeit und Arbeitszeit an die jeweiligen Lebenslagen anpassen. Deshalb gibt es nicht nur eine Lösung für alle sondern unterschiedliche Lösungen abhängig von den jeweiligen Arbeitszeitwünschen der Beschäftigten. Die Umsetzung dieser Wünsche ist nur mit Hilfe einer starken Mitbestimmung der Betriebsräte und Personalräte erreichbar.

Rückkehrrecht auf einen Vollzeitarbeitsplatz

Wenn Arbeitszeitgestaltung sich an den jeweiligen Lebenslagen der Beschäftigten orientieren soll, müssen Arbeitnehmer*innen z. B. das Recht erhalten, nach einer Teilzeittätigkeit zur Vollzeit zurückkehren zu können. Mobiles Arbeiten - z. B. im Home-Office - erfüllt Beschäftigteninteressen nur, wenn Arbeitnehmer*innen sich freiwillig dafür entscheiden können, und ein Rückkehrrecht auf ihren betrieblichen Arbeitsplatz haben. Außerdem müssen auch bei mobiler Arbeit Datenschutz und Unfallschutz gewährleistet sein.

Regelung zur Abrufarbeit streichen

Annelie Buntenbach erteilte dem Vorstoß von Arbeitgebern und Arbeitgeberverbänden eine Absage, den 8-Std.-Tag im Arbeitszeitgesetz zu Gunsten einer wöchentlichen Höchstarbeitszeit zu streichen. Sie verteidigte den notwendigen Mindestschutz im Arbeitszeitgesetz, der dennoch einen weiten und flexiblen Rahmen zulässt. Unter großem Beifall verlangte sie die Streichung der Regelung zur Abrufarbeit in § 12 Teilzeit- und Befristungsgesetz - TzBfG . Laut Studien des WIRTSCHAFTS- UND SOZIALWISSENSCHAFTLICHEN INSTITUT'S (WSI) nutzen 8% der Betriebe Abrufarbeit. Abrufarbeit ist das Negativbeispiel für Flexibilisierung von Arbeitszeit allein im Unternehmerinteresse und zum Nachteil der Beschäftigten. Denn es wird nur der tatsächliche Einsatz bezahlt und damit das unternehmerische Risiko vollständig auf die Arbeitnehmerseite verlagert.

Hohe Dynamik in der Arbeitszeitentwicklung

Prof. Dr. Gerhard Bosch, Universität Duisburg, zeigte in seinem Impulsvortrag Arbeitszeit – sozialkritisch beleuchtet Trends der Arbeitszeitentwicklung seit 1990. Diese ist durch eine hohe Dynamik gekennzeichnet. Neben zunehmender Flexibilisierung, etwa durch Arbeitszeitkonten fällt auf, dass das Arbeitszeitspektrum sich immer stärker auseinanderentwickelt. Auf der einen Seite der Skala liegen die kurzen Arbeitszeiten der Mini-Jobs, auf der anderen Seite überlange Arbeitszeiten im Rahmen der sog. Vertrauensarbeitszeit. Es überrascht deshalb auch nicht, dass nach Beschäftigten-Befragungen Vollzeitbeschäftigte weniger und Mini-Jobber länger arbeiten wollen. 

Überraschend war dagegen die von Prof. Bosch aufgezeigte Entwicklung der Arbeitszeiten seit den 1960/70ziger Jahren. Anders als allgemein vermutet, ist nicht nur die vereinbarte, sondern auch die tatsächliche Arbeitszeit im Laufe der Jahrzehnte zurückgegangen. So lag die vereinbarte und bezahlte Arbeitszeit 1960 noch bei 44,6 Std./Woche und im Jahr 2014 nur noch bei 38,1 Std und die bezahlten Überstunden lagen 1970 noch bei durchschnittlich 157 Std./Jahr und 2014 bei nur noch durchschnittlich 46 Std. Andererseits nahmen aber auch unbezahlte Überstunden statistisch zu. 

Interessant war auch die von Prof. Bosch aufgezeigte Entwicklung der Arbeitszeit in Bezug auf die Qualifikation der Beschäftigten. Während früher die unqualifizierten Arbeitnehmer besonders viel arbeiteten, sind es heute gerade die hoch qualifizierten Mitarbeiter. Als Trend in der Arbeitszeitentwicklung ist schließlich die Zunahme mobiler Arbeitsformen festzustellen, wie Montagetätigkeiten oder Arbeit im Home-Office.

Leitbild eines Arbeitszeitmodells im Beschäftigteninteresse

Prof. Bosch bestätigt den Ansatz von Annelie Buntenbach, dass es in Bezug auf die Arbeitszeitgestaltung nicht eine Lösung geben kann, da die Interessenlagen der Beschäftigten unterschiedlich sind. Arbeitsbedingungen im Sinne Guter Arbeit müssen diese unterschiedlichen Interessen aufnehmen und berücksichtigen. Dazu gehört vor allem, dass Arbeitszeitmodelle sich an den Lebensphasen der Beschäftigten orientieren und - anders als die heutige Teilzeit - neue flexible Arbeitsverhältnisse auch sozial abgesichert sind. Die Reduzierung von Arbeitszeiten darf nicht mehr zu Nachteilen beim Steuerabzug oder dauerhaft negativen Folgen bei der Rentenhöhe führen (sog. Narbeneffekte). Nachteile, die durch gesellschaftlich anerkannte Freistellungen wegen Kinderbetreuung, Pflege oder Weiterbildung entstehen, sind durch Lohnersatzleistungen auszugleichen. 

Arbeitnehmer*innen, die sich phasenweise für ein Teilzeitarbeitsverhältnis entscheiden, müssen das Rückkehrrecht in die Vollzeitbeschäftigung erhalten.

Tarifbindung und betriebliche Interessenvertretung

Neben Teilzeitwünschen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf und flexiblen Übergängen in den Ruhestand nehmen auch Wünsche von Arbeitnehmer*innen auf vorübergehende Auszeiten zu. Diese sind häufig Reaktion auf eine zunehmende Belastung der Arbeit. Das Interesse an flexiblen Arbeitszeiten entspringt außerdem dem Bedürfnis von Beschäftigten, eine Balance zwischen Arbeit und privatem Leben zu erreichen. Prof. Bosch machte deutlich, dass gut gestaltete Arbeitszeitwelten im Interesse der Beschäftigten im Wesentlichen in Unternehmen mit Tarifbindung und starken Betriebs- und Personalräten eine reelle Chance haben. 

Sozialrechtliche Aspekte

Das Sozialrecht knüpft an die arbeitsrechtliche Arbeitszeitgestaltung an. Es gleicht Lohneinbußen, die als Folge der Flexibilisierung z. B. durch längere Freistellungsphasen eintreten, nur teilweise aus. Darauf wies Prof. Dr. Rainer Schlegel, Vizepräsident des Bundessozialgerichts, in seinem Impulsvortrag Arbeitszeitsouveränität – sozialrechtliche Aspekte hin. Kompensatorische Leistungen gibt es z. B. beim Elterngeld oder Kinderkrankengeld oder auch bei der kurzfristig notwendigen Pflege naher Angehöriger. Für die längere Pflegezeit ist dagegen keine Lohnersatzleistung vorgesehen. Es findet nur eine Absicherung in der Rentenversicherung statt. Lohneinbußen und Rentennachteile, die durch Teilzeit eintreten, werden sozialrechtlich nicht kompensiert. Auch der Übergang in den Ruhestand ist nur unzureichend geregelt. Reagiert hat der Gesetzgeber auf die sozialrechtlichen Probleme, die durch Langzeitkonten und angesparte Wertguthaben entstanden waren. Diese sind durch den Gesetzgeber im SGB IV sozialrechtlich abgefedert worden.

Mobile Arbeit schafft Probleme im Unfallrecht

Sehr anschaulich zeigte Prof. Schlegel an drei Fallbeispielen im Unfallrecht, welche sozialrechtlichen Probleme bei der Wahl flexibler Arbeitszeitmodelle und bei mobiler Arbeit zuhause entstehen, wenn Arbeit und Freizeit schwer voneinander zu trennen sind. So etwa im Fall der Arbeitnehmerin, die mit ihrem Hund in der Arbeitspause spazieren geht und von ihrem Arbeitgeber auf dem Diensthandy angerufen wird, während des Gesprächs die Bordsteinkante übersieht und schwer stürzt. Oder der Mitarbeiter, der im Home-Office arbeitet, eine Gaststätte aufsucht, dort noch Geschäften nachgeht und auf dem Weg zu seinem Haus überfallen und schwer verletzt wird. Oder der Mitarbeiter, der seinen häuslichen Telearbeitsplatz verlässt, um Wasser zu trinken und dabei auf der Treppe stürzt. Den ersten Fall hat das Bundessozialgericht - BSG - an die 2. Instanz zurückverwiesen, im 2. Fall die Anerkennung eines Unfalls versagt und der 3. Fall ist noch beim BSG anhängig. 

Ist wie im Home-Office privates Wohnen und Arbeitsplatz kaum noch abgrenzbar und können Arbeitnehmer*innen im Haus z. B. Pausen nach zeitlichem Belieben nehmen, ist der Unfallschutz gefährdet. Jedenfalls ist die sozialrechtliche Rechtsprechung durch die neuen Formen des mobilen Arbeitens gefordert, für das Unfallrecht nach tauglichen Abgrenzungen und interessengerechten Lösungen zu suchen.

Neue Arbeitsformen muss der Gesetzgeber berücksichtigen

Eine Zunahme von Arbeitszeitsouveränität birgt die Gefahr, dass Tätigkeiten zunehmend als selbstständig bewertet werden, und damit der Arbeitnehmer-Status gefährdet wird. Der Gesetzgeber ist daher gefordert, bei der erwarteten Neuregelung zur Arbeitnehmereigenschaft neue Arbeitszeitmodelle zu berücksichtigen und sich nicht allein am überholten Modell der Industriearbeit auszurichten. Prof. Schlegel äußerte Zweifel, ob der bisher vorliegende Gesetzentwurf zu § 611a Bürgerliches Gesetzbuch - BGB - , der lediglich den bisherigen Status quo wiedergebe, diesen Anforderungen gerecht wird.

Erreichbarkeit durch Mails, Smartphone und Ruhezeiten

Die sich an die Vorträge anschließende Podiumsdiskussion unter der Leitung des im Arbeitszeitrecht ausgewiesenen Experten Jürgen Ulber beleuchtete weitere Aspekte und warf neue rechtliche Fragestellungen vor allem im Bereich der mobilen Arbeit auf. So etwa die, ob die im Arbeitszeitschutzrecht zwingend vorgeschriebene 11-stündige Ruhezeit z. B. nach kurzer Durchsicht eingegangener Mails unterbrochen ist mit der Folge, dass eine neue Ruhezeit beginnt. Prof. Schlegel will danach differenzieren, ob der Arbeitnehmer damit rechnen musste, dass ihn der Arbeitgeber kontaktiert oder, ob er aus eigenem Interesse seine Mails überprüft. 

Arbeitszeiterfassung und Kontrolle

Einigkeit im Podium bestand darüber, dass auch mobiles Arbeiten zwingend Arbeitszeiterfassung und Kontrolle erfordert. Denn, wenn keine Rolle spielt, wo und wann Arbeitnehmer*innen arbeiten, besteht die Gefahr, dass auch die Verantwortung für den Schutz entfällt.

Einzelforen und Schlussakkord

In den sich nach dem Imbiss anschließenden 4 Foren wurden Einzelaspekte des Themas Arbeitszeit aufgegriffen und ein Blick über den nationalen Tellerrand auf Arbeitszeitregelungen in anderen Ländern geworfen.

Den Schlussakkord setzte Prof. Dr. Martin Allespach, Direktor und Leiter der Europäischen Akademie der Arbeit (EAdA). Er kündigte bereits die nächste Campus-Veranstaltung in 2 Jahren in dem bis 2018 fertig gestellten House of Labour an. Das House of Labour soll den notwendigen Kontrapunkt zum House of Finance setzen und arbeitnehmerorientierte Bachelor- und Masterstudiengänge anbieten. Denn Wirtschaft funktioniert nicht ohne Beteiligung der Arbeitnehmer*innen. Mit Studierenden auch aus bildungsfernen Schichten – in der Tradition der EAdA - wird das House of Labour außerdem einen größeren Beitrag zur gesellschaftlichen Integration leisten als manche Elite-Universität.

 

Campus Arbeitsrecht - Forum 1:  Arbeitszeit im Gesundheitswesen

Campus Arbeitsrecht - Forum 2: Arbeitszeit und kollektive Regelungen

Campus Arbeitsrecht - Forum 3: Arbeitszeit im internationalen Vergleich

Campus Arbeitsrecht - Forum 4: Praktische Herausforderungen der Teilzeitarbeit